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DAS TOTE MÄDCHEN

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Kommissar Sörensen und Inspektor Thomsen standen in Paul Kowalskis Schlafzimmer und beobachteten den Gerichtsmediziner bei seiner deprimierenden Arbeit.

„Sie ist seit mindestens fünf Stunden tot“, sagte dieser.

„Woran ist sie gestorben?“, fragte Kommissar Sörensen.

„Sie ist erstickt. Wahrscheinlich saß der zum Knebel zusammengedrehte Slip zu fest. Sie wurde missbraucht und schwer misshandelt. Ihr Alter liegt zwischen sechzehn und zwanzig Jahre. Genaueres nach der Obduktion“, erwiderte der Arzt.

„Danke, Doktor.“

„Hat der Tote nebenan das Mädchen so zugerichtet?“

„Höchstwahrscheinlich“, entgegnete Sven knapp.

„Wenn das so ist, dann hat der Kerl keinen Funken Mitleid verdient. Wissen Sie, ich habe gedacht, dass mich nach so vielen Jahren nichts mehr aus der Ruhe bringen könnte. Aber ich habe mich geirrt. Diese Sache hier ist selbst für einen so abgebrühten Knochenklempner wie mich zu viel“, sagte der Arzt aufgebracht.

„Wissen Sie, ich habe selber eine siebzehnjährige Tochter, und wenn ich mir dann dieses arme Mädchen ansehe ...!“ Er verstummte. „Sie können die Tote abtransportieren lassen“, sagte er leise und begab sich in die Küche, zu dem zweiten Tatort.

Kommissar Sörensen und Inspektor Thomsen verließen ebenfalls das Schlafzimmer. Sie gingen hinüber ins Wohnzimmer, in dem sie vor knapp vier Stunden mit Paul Kowalski gesprochen hatten. Jetzt war er tot und in seinem Schlafzimmer lag eine tote junge Frau. Sie konnten es nicht fassen.

„Sie muss da schon tot gelegen haben, als wir hier waren“, sagte der Kommissar.

„Ja. Ich muss unentwegt an den unangenehmen Geruch in der Wohnung denken. Jetzt wissen wir woher er kam“, sagte der Inspektor schaudernd.

„Nur gut, dass Fred nicht mehr erfahren hat wie schlecht und verkommen sein Bruder wirklich war. Anscheinend vereinigten sich in Paul Kowalski sämtliche schlechten Gene und in Fred die guten Gene. Ob Fred wohl in den letzten Sekunden seines Lebens erkannte, dass er für seinen Bruder sterben musste? Was meinst du Phil?“

„Du stimmst meiner Verwechslungstheorie also zu?“

„Ja, Phil, das tue ich, denn sie ist zu offenkundig richtig. Zwillingsbrüder sterben innerhalb von drei Tagen durch Gift. Das kann einfach kein Zufall sein. Ich denke, wir haben es mit einem äußerst skrupellosen und kaltblütigen Mörder zu tun.“

„Oder einem äußerst verletzten Menschen“, fügte Phil hinzu. Und als ihn sein Freund und Partner überrascht ansah: „Vielleicht wurde ja eine ihm nahe stehende Frau Paul Kowalskis Opfer. Ein Opfer, welches die physischen Qualen und Misshandlungen zwar überlebte, die psychischen jedoch nicht.“

„Und selbst wenn dem so wäre, Phil. Würde das die grausame Tötungsart rechtfertigen? Es ist und bleibt Mord. Geplanter, hinterlistiger und besonders abscheulicher Mord. Kein Mensch hat das Recht auf Selbstjustiz, auch wenn er noch so sehr verletzt und gedemütigt wurde“, sagte Sven. „Wenn wir wieder anfangen würden Selbstjustiz als Rechtsmittel einzusetzen, würde unsere Gesellschaft schon bald in völligem Chaos und ungebremster Gewalt versinken. Selbstjustiz kann und darf nicht die Antwort auf Gewalt sein“, fügte er ernst hinzu.

„Ich bin zwar grundsätzlich deiner Meinung, glaube aber andererseits, dass Menschen plötzlich in einen Teufelskreis der Gewalt geraten können, aus dem sie ihrer Überzeugung nach nur durch gewaltsame Vergeltung wieder herauskommen. Sie sind fest davon überzeugt nur dann weiterleben zu können, wenn sie ihren Peiniger bestrafen, der ihnen oder einem über alles geliebten Menschen Gewalt antat. Von einer Sekunde auf die andere klafft im Lebensweg solcher Menschen plötzlich ein tiefer, unüberwindbarer Graben, in dem sie zu versinken drohen.

Aber sie wollen nicht in diesem Graben der Angst und Verzweiflung, der Demütigungen und des Hasses versinken. Sie wünschen sich wieder frei zu sein; möchten die beiden Enden ihres Lebensweges wieder zusammenfügen und dort weitermachen, wo er zwangsweise unterbrochen wurde. Also flüchten sie sich in den Hass und den Glauben daran, dass alles wieder so wird wie es war, wenn sie den Ursprung ihres Hasses vernichten.

Und dann beginnt das Töten. Grausam und mitleidlos und oftmals ohne Ende. Er hat es verdient. Er ist schlecht, grausam, sadistisch oder was auch immer; eine Gefahr für die Menschheit; er muss vernichtet werden, redet sich der Täter ein – der gleichwohl Opfer sein kann – und handelt oftmals auch noch in dem Gefühl vollkommener Übereinstimmung mit dem Alten Testament in dem steht:

AUGE UM AUGE, ZAHN UM ZAHN.

Dieser Satz schwelt im Kopf des Täters, der sich als Rächer sieht, und rechtfertigt sein Tun. Wenn selbst die Bibel sagt: Räche dich Opfer! Gib dein Leid an deinen Peiniger weiter, denn dann bist du frei – und nicht wenige Täter werden dieses Bibelzitat so oder ähnlich auslegen – wer oder was sollte ihnen dann noch Einhalt gebieten können?“, fragte Phil leise.

Während Phil sprach, hatte Svens Betroffenheit von Wort zu Wort zugenommen. Um sie zu verschleiern, rettete er sich in die Ironie, als sein Freund schwieg: „Du hättest lieber Psychiater werden sollen“, spottete er gutmütig.

„Bevor ich zur Polizei ging, studierte ich Philosophie und Psychologie. Es hat mir in meinem jetzigen Beruf manchmal geholfen, aber niemals geschadet“, erwiderte Phil kühl.

„Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht verletzen“, sagte Sven verlegen.

„Schon gut, das weiß ich doch. Dieser Fall legt die Nerven bloß. Das hat die Reaktion unseres sonst so kaltschnäuzigen Dr. Bornholm deutlich bewiesen. Doch wenn wir unsere Emotionen nicht zum Maßstab unseres Handelns machen, werden wir diesen Fall schon aufklären. Mit solider Polizeiarbeit wird es uns gelingen, den Giftmörder zu fassen“, behauptete Phil. „Wir werden die Morde an Fred und seinem schrecklichen Bruder aufklären und damit ...“

... sollten wir umgehend beginnen“, führte Sven den Satz zu Ende. „Ich schlage vor, wir befragen zuerst einmal die Bewohner des Hauses, ob ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. Danach sehen wir weiter.“

Sie begannen mit der Wohnung im Parterre. Doch je mehr Leute sie befragten, desto niedergeschlagener wurden sie. Und dann trafen sie auf dem Weg nach unten doch noch den einzigen Mieter, der nicht zu Hause gewesen war. Mit Einkaufstüten beladen stand er seiner Wohnungstür.

„Ja, ich habe einen Mann gesehen“, bestätigte der Mann. „Er fiel mir durch seine Geheimnistuerei und seine dunkle Kleidung auf. Und dann dieser Schlapphut und die riesige Sonnenbrille. Stellen Sie sich nur vor: Der hatte Lederhandschuhe an und das bei der Wärme! Das muss einen ja stutzig machen. Nein, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber seine Bewegungen waren die eines jungen Mannes.“

Sie bedankten sich und fuhren zurück ins Büro. Hier fassten sie noch einmal die Fakten zusammen. Doch sie drehten sich im Kreis. Theorien wurden erdacht und wieder verworfen. Zu einer verwertbaren Spur führten ihre Überlegungen nicht. Vielleicht würde der Bericht des Gerichtsmediziners einen Hinweis auf den Täter bringen. Oder die Spurensicherung fand einen Fingerabdruck, eine Gewebefaser oder irgendein Indiz, hofften sie.

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