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DER ZWILLINGSBRUDER

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Kommissar Sven Sörensen starrte auf den vor ihm liegenden Bericht des Gerichtsmediziners. Das konnte doch nicht wahr sein! Wer sollte seinem Partner etwas so Entsetzliches antun? Und doch wurde da in nüchternen Worten der grausame Todeskampf seines besten Freundes beschrieben:

Fred war durch Aconitin, dem Hauptalkaloid des “Aconitum napellus – auf Deutsch: „Blauer Eisenhut“ – aus der Familie der Hahnenfußgewächse, Ranunculaceae, getötet worden. „Eine äußerst seltene Tötungsart“, hatte der Polizeiarzt gesagt.

„Wie schnell wirkt das Gift?“, hatte er gefragt.

„Schnell. Sehr schnell“, war die Antwort des Mediziners gewesen.

Auf die Frage, ob Fred hatte leiden müssen, hatte ihn der Arzt stumm angesehen und nach einer Weile leise gefragt: „Sind Sie sicher, dass Sie das wirklich wissen möchten? Er war doch Ihr Freund, oder?“

„Ja, Doktor. Er war mein bester Freund und gerade deshalb muss ich es wissen. Ich muss alles wissen, und sei es noch so fürchterlich, nur dann kann ich seinen Mörder finden.“

„Also gut. Dann also die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“, hatte der Arzt geseufzt. „Ja, er hat gelitten. Da gibt es nichts zu beschönigen. Aconitin verursacht bereits wenige Minuten nach der Aufnahme folgende Symptome: Starkes Brennen im Mundbereich; Schweißausbrüche und Frösteln; dann Übelkeit, Erbrechen verbunden mit unerträglichem Kältegefühl. In der Endphase sterben die Gliedmaßen ab, die Atmung verlangsamt sich und nach etwa zwanzig Minuten tritt der Tod ein“, dozierte der Arzt, wobei er Svens entsetzten Blick mied.

„Mein Gott“, hatte er kreidebleich gemurmelt und sich überstürzt verabschiedet. Er war zur Toilette geeilt und hatte sich fast die Seele aus dem Leib gewürgt. Und jetzt saß er hier, las immer wieder den sachlichen Bericht des Arztes und vermochte es doch nicht zu glauben.

Er hatte seinen Freund gefunden. Hatte ihn mit gebrochenen Augen auf dem Teppich des Esszimmers liegend gefunden. Entsetzlich war es gewesen, so entsetzlich, dass der Anblick sich in allen grausamen Einzelheiten wie ein Foto in sein Gedächtnis gebrannt hatte. Er wurde es einfach nicht mehr los. Doch vielleicht würde es verblassen und durch ein schöneres aus glücklichen Tagen ersetzt werden, sobald Freds Mörder seine gerechte Strafe erhalten hatte. Jedenfalls hoffte er das aus tiefstem Herzen. Sven strich sein dichtes, dunkelblondes Haar aus der Stirn und seufzte.

„Die Ergebnisse der Spurensicherung“, sagte sein Kollege Tom Curtis so dicht an seinem Ohr, dass er erschrocken herumfuhr und Curtis den Bericht aus der ausgestreckten Hand schlug. Eine Entschuldigung murmelnd raffte Sven hastig die einzelnen Blätter zusammen, während sein Kollege kopfschüttelnd davonstiefelte.

Aber dessen Freund war Fred ja schließlich auch nicht gewesen, dachte Sven und begann zu lesen.

„Verdammt, nichts Neues. Keine Spur. Nicht das winzigste Indiz. Einfach gar nichts“, murmelte er verzagt. Wer, zum Teufel, konnte auf die wahnsinnige Idee verfallen einen Mann wie Fred umzubringen? Einen Mann, der die Höflichkeit und Hilfsbereitschaft in Person gewesen war? Er konnte sich einfach kein Motiv für diese Tat vorstellen.

GEWESEN! JA! GEWESEN!

Die entsetzliche Wirklichkeit erglühte in Leuchtbuchstaben vor seinem inneren Auge.

GEWESEN! AUS UND VORBEI!

Nie wieder Freds warmes Lachen, seine Freundlichkeit und sein Verständnis. Svens Augen füllten sich mit bitteren Tränen. Gramerfüllt vergrub er das Gesicht in seinen bebenden Händen. Er litt schrecklich unter dem plötzlichen Verlust seines Freundes. Ihn bei einem Polizeieinsatz zu verlieren wäre schlimm genug gewesen, ihn jedoch unter diesen Umständen zu verlieren, machte ihn fix und fertig.

Er rang um Fassung; und der Gedanke an das verweinte Gesicht von Freds Freundin half ihm dabei. Wie musste ihr erst zu Mute sein. Er hatte seinen besten Freund verloren, Karla jedoch ihren Lebenspartner nach kaum einem halben Jahr. Traurig dachte er an die wundervollen Abende, die er zusammen mit Fred und Karla verbracht hatte.

Wie sehr hatte er seinen Freund heimlich um diese kluge und bezaubernde Frau beneidet. Jetzt schämte er sich dafür, obwohl kein schlechter Gedanke in ihm gewesen war. Nur Bewunderung und die Hoffnung, auch irgendwann einmal einer solchen Frau zu begegnen. Nach Freds Tod sei er ihr eine wichtige Stütze in ihrem Leid, hatte sie ihm weinend gestanden. Er war sehr glücklich über ihr Vertrauen. Er würde sie niemals enttäuschen!

„Sven, du sollst zum Chef kommen“, drang die dunkle Stimme seines neuen Partners Phil Thomsen, einem langjährigen Freund von Fred und ihm, in seine Gedanken. „Alles in Ordnung?“, fragte Phil.

„Danke, es geht schon“, murmelte Sven. „Was will der Alte von mir?“

„Es geht wohl um den Mord an Fred.“

Sven nickte und stand auf. Als er nach kurzem Anklopfen das geräumige Büro seines Chefs betrat, stach ihm sofort ein dicker Aktenstapel ins Auge, der ihn innerlich aufstöhnen ließ. In einer blitzartigen Vision sah er sich in Hemdsärmeln nächtelang, mit vor Übermüdung tränenden Augen, davor sitzen. Seine Vision sollte sich bewahrheiten.

„Das sind von Fred Kowalski erfolgreich bearbeitete Fälle, wo die Täter bei ihrer Festnahme oder im Gerichtssaal Drohungen gegen ihn ausgestoßen haben. Einer von ihnen könnte sein Mörder sein. Überprüfen Sie das, Sörensen“, verlangte sein Boss.

Sven runzelte die Stirn und heftete seine graublauen Augen zweifelnd auf den umfangreichen Aktenstapel. „Ich glaube nicht, dass wir den Täter unter den üblichen Verbrechern finden werden“, meinte er skeptisch. „Die Tötungsart passt ganz einfach nicht zu einem Profi.“

„Und weiter?“

„Ein Profi hätte Fred erschossen oder erstochen oder vielleicht mit einem Sprengsatz in die Luft gejagt, aber ihn doch nicht mit einem so ausgefallenen Gift wie Aconitin umgebracht, noch dazu in seiner Wohnung. Fred hätte doch keinen Ganoven hereingelassen und ihm auch noch Kaffee angeboten.“

„Trotzdem könnte die Tat ein Racheakt gewesen sein.“

„Aber von wem? Fred war äußerst vorsichtig und ließ so leicht niemanden zu sich herein“, wandte Sven ein.

„Es könnte die Frau, die Schwester oder die Freundin irgendeines, von Fred dingfest gemachten Verbrechers gewesen sein.“

„Vielleicht, aber ich glaube nicht daran.“

„Also gut, Sörensen, da wir diese Theorie jedoch auch nicht völlig ausschließen können, werden Sie die Akten trotz Ihrer Skepsis durcharbeiten und zwar möglichst schnell. Phil Thomsen kann Ihnen dabei helfen“, beharrte sein Boss auf seinem Standpunkt. Sven klemmte sich wortlos die Akten unter den Arm und ging.

„Verdammter Mist“, fluchte er in seinem Büro und klatschte den Aktenstapel wütend auf seinen Schreibtisch. Dann teilte er ihn in zwei gleich hohe Stapel auf und legte einen davon seinem Partner auf den Tisch, dem das Grinsen schlagartig verging. „Arbeit für dich, Phil. Zwar wird sie uns keinen Schritt weiterbringen und nur unsere kostbare Zeit stehlen, doch unser hoher Chef wünscht es so“, sagte Sven sauer.

Mit einem undefinierbaren Ausdruck in seinen haselnussbraunen Augen sah Phil ihn an.

„Was ist? Sitzt meine Krawatte schief oder weshalb starrst du mich so an?“, fragte Sven gereizt.

„Nein, mit deiner Krawatte ist alles in Ordnung. Mir ging nur gerade etwas durch den Kopf.“

„Und was, wenn ich fragen darf?“

„Du darfst. Ich überlegte gerade, ob du schon Freds Familie benachrichtigt hast.“

„Was denn für eine Familie?“, fragte Sven unwirsch. „Freds Eltern sind tot und außer seiner Freundin Karla kenne ich niemanden, der von seinem Ableben unterrichtet werden müsste.“

„Und sein Bruder?“

„Sein Bruder? Machst du Witze?“, stieß Sven hervor. „Ausgerechnet sein Bruder Paul! Der hat Fred doch nur Ärger und Kummer bereitet. Fred hat schon vor Jahren jede Verbindung zu ihm abgebrochen; und er würde ihn auch nicht auf seiner Beerdigung haben wollen. Ich nehme jedenfalls keinen Kontakt zu ihm auf. Dieser Paul ist ein ganz übles Subjekt und Fred konnte ihn nicht ausstehen“, sagte Sven erregt.

„Kennst du Freds Bruder persönlich?“

„Nein, aber was Fred über ihn erzählte reicht mir. Ich lege nicht den geringsten Wert auf seine Bekanntschaft. Was soll diese dämliche Fragerei eigentlich?“, knurrte Sven. „Was geht uns dieser Paul an? Anstatt über Freds unerfreulichen Bruder zu palavern, sollten wir lieber seinen Mörder suchen.“

„Eben“, erwiderte Phil lapidar.

„Eben?! Was soll denn das nun wieder heißen? Also wirklich, Phil, manchmal werde ich einfach nicht schlau aus dir“, nörgelte Sven. „Eben! So was Blödes aber auch.“

„Das ist nicht so blöde wie du meinst“, verteidigte sich sein Freund.

„Und wieso nicht?“

„Weil wir meiner Meinung nach den Fall von einer ganz anderen Seite anpacken sollten.“

„Und welcher?“

„Ich denke, dass wir uns unbedingt mit diesem Bruder befassen sollten. Schließlich ist ...“

„Warum das denn?“, unterbrach ihn Sven.

„Na ja, das Interessante daran ist doch, dass es sich bei diesem Bruder um einen Zwillingsbruder handelt, oder?“

„Und wenn schon. Was ist daran so ungewöhnlich?“

„Aber Sven, verstehst du denn nicht?

Ein ZWILLINGSBRUDER!

Was ist, wenn jemand Fred mit seinem Bruder Paul verwechselte?“

Sven starrte Phil sprachlos an. „Du meinst, dieser Jemand tötete Fred versehentlich?“, fragte er bestürzt.

„Ja, genau. Vielleicht wollte der Mörder Paul töten und verwechselte ihn mit dem armen Fred. Was hältst du davon?“

„Das wäre ja grauenhaft“, stöhnte Sven. „Aber warum?“

„Das warum, müssen wir noch herausfinden falls meine Theorie richtig sein sollte.“

„Mein Gott, wäre das entsetzlich, wenn Fred für seinen miesen Bruder gestorben wäre“, flüsterte Sven.

„Bisher ist es ja nur eine Theorie.“

„Ja, aber sie könnte sich bewahrheiten. Deine Überlegungen sind nicht so einfach von der Hand zu weisen. Wir sollten diesen Paul aufsuchen, vielleicht hat Karla seine Adresse. Am besten fahren wir gleich zu ihr“, schlug Sven vor und hatte es plötzlich eilig.

„Einverstanden.“ Phil fuhr sich hastig mit dem Kamm durch sein welliges dunkles Haar, fuhr flink in seine Lederjacke und reckte unternehmungslustig seinen durchtrainierten Körper. „Von mir aus kann es losgehen.“

Sven, der ihn mit seinen fast zwei Metern um einen halben Kopf überragte, ließ ihm höflich den Vortritt.

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