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BENJAMIN PORELLA

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Auf ihrer Fahrt zur Klinik musste Karla die ganze Zeit an Julia denken. Sie war lange nicht so fröhlich und unbefangen wie sonst. Irgendwie hatte sich Julia verändert. Oder reagierte sie aus Sorge um ihre Schwester übertrieben? Wurde Julia einfach nur reifer? Vielleicht trübte ihr Beruf ihren Blick, sodass sie hinter der kleinsten Veränderung psychische Gefahren lauern sah. „Das muss ich mir aber abgewöhnen“, dachte sie laut und gab Gas.

Sie erreichte die Klinik pünktlich und stellte ihren Golf auf dem Parkplatz für das Klinikpersonal ab. Sie freute sich auf die Begegnung mit Benjamin Porella, den sie unter intensiver Ausschöpfung ihrer Beziehungen in dieser besonders guten Anstalt unterbringen konnte. Benjamin Porella vertraute ausschließlich ihr.

Obwohl er den Ärzten und Schwestern der Klinik gegenüber höflich und freundlich war, verschloss er sein Innerstes vor ihnen so fest wie eine Auster. Nur Karla gegenüber taute er auf. Alleine ihr gestattete er Einblick in seine Gefühle, Hoffnungen und Ängste. Aus diesem Grund widmete sie dem sanften Mann, den die Herzlosigkeit seiner Mitmenschen zum vielfachen Mörder werden ließ, auch noch einen Teil ihrer Freizeit.

Zehn Minuten später stand sie Benjamin Porella gegenüber, einem hochgewachsenen, schlaksigen, vierundzwanzigjährigen jungen Mann, den alle Benny nannten. Seine braunen durch die Basedowsche Krankheit entstellten Augen strahlten sie an. Und genau diese entstellten Augen, von bösen Zungen auch Froschaugen genannt, waren Schuld an Bennys Unglück.

Benny kam lächelnd auf Karla zu und reichte ihr die Hand. „Wie schön, dass Sie gekommen sind“, sagte er sanft.

Karla erwiderte seinen Händedruck und sah ihn voller Sympathie an. Und ebenso wie vor fünf Jahren, als sie ihn zum ersten Mal sah, vermochte sie noch immer kaum zu glauben, dass dieser stets freundliche und liebenswürdige junge Mann zehn Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Und der Grundstein für die tragischen Ereignisse, war in Bennys frühester Jugend gelegt worden.

Benny war eines Tages ohne Anmeldung in ihrer Praxis erschienen. Er war hypernervös und litt unter schweren Schlafstörungen. Er war dann pünktlich zwei Mal die Woche zur Therapie gekommen und hatte langsam Vertrauen zu ihr gefasst. Und dann hatte er sich eines Tages plötzlich sein bisheriges, trauriges Leben von der Seele geredet:

Benny war ein dickes, besonders sensibles Kind gewesen, das unter der Basedowschen Krankheit und einer starken Sehschwäche litt. Dieser Augenkrankheit wegen musste er bereits im zarten Alter von zwei Jahren eine starke Brille tragen, deren Gläser seine hervortretenden Augen ins Riesenhafte vergrößerten.

Vom Kindergarten an hänselten ihn die anderen Kinder, amüsierten sich auf seine Kosten und quälten ihn, wo sie nur konnten.

Benny ließ alles ohne Gegenwehr über sich ergehen und legte sich im Laufe der Jahre unter vielen heimlichen Tränen einen Panzer zu, der ihm ein Mindestmaß an Schutz gewährte. Alles ging gut, bis zu dem Tage, an dem die Grausamkeit seiner Mitschüler seinen mühsam erworbenen Schutzpanzer auf einen Schlag zerstörte.

Um das Ausmaß seines Leides und die daraus resultierenden, späteren Ereignisse begreifen zu können, musste man Bennys traurige Kindheit kennen.

Er war ein zutiefst einsamer Junge. Von den Kindern seines Alters ausgestoßen, wurde er von ihnen auf Schritt und Tritt körperlich und seelisch misshandelt, sobald sie seiner habhaft werden konnten. Seine Eltern versorgten ihn mit Nahrung und Kleidung – Liebe gaben sie ihm nicht.

Bennys Mutter war gleichgültig. Bennys Vater benutzte seinen Sohn als Blitzableiter für jeden Ärger, den er hatte. Benny war ein häufiger Gast im städtischen Krankenhaus. Mal waren es Verbrennungen, dann wieder ein gebrochener Arm oder auch mehrere gebrochene Rippen. Doch weder die Ärzte noch die Nachbarn zeigten seine Eltern jemals an.

Und so nahm Bennys Leidenszeit kein Ende und er blieb das unglücklichste Kind unter der Sonne. Bis eines Tages unverhofft die Liebe in Gestalt eines kleinen, schneeweißen Hundes mit einer schwarzen Pfote in Bennys Leben trat. Und da sein Vater einen besonders guten Tag hatte, durfte Benny den kleinen Hund behalten. Zum ersten Mal in seinem Leben war Benny glücklich.

Er liebte seinen kleinen Freund Snoopy so sehr, dass er ohne zu zögern sein Leben für ihn gegeben hätte und der Hund für ihn. Sie waren so unzertrennlich, dass Snoopy sein Herrchen des Morgens durch den Wald zur Schule begleitete und dort auf der anderen Straßenseite unter einer gewaltigen Platane so lange geduldig wartete, bis der Gong das Ende des Unterrichts ankündigte und Benny seinen Snoopy wieder glücklich in die Arme schloss.

Gemeinsam tollten sie dann auf dem Heimweg durch den Wald und waren so glücklich wie noch niemals zuvor in ihrem Leben. Bis zu dem bewussten Tag, an dem Benny völlig zu Unrecht eine Stunde nachsitzen musste. Als er endlich von seiner unfreundlichen Lehrerin Amalia Nosbusch, die ihn nicht ausstehen konnte, entlassen wurde, war Snoopy nicht mehr da. Doch das konnte nicht sein, denn der Hund hätte sich ohne Benny niemals freiwillig von der Stelle gerührt.

Benny schwante Böses. So schnell ihn seine Beine trugen eilte er in den Wald auf der Suche nach seinem Hund, den er mehr liebte als sein Leben.

Und dann fand er ihn!

Erdrosselt, mit heraushängender Zunge und weit aufgerissenen, gebrochenen Augen hing er, an allen vier Beinchen festgenagelt, an einer alten Eiche. Benny brach verzweifelt schluchzend unter dem Baum zusammen. Viel später, als seine Tränen versiegten. stand er auf und befreite seinen treuen Freund. Er drückte ihn an sich und streichelte zärtlich sein weiches Fell. Als er sich umdrehte, um diesen schrecklichen Ort zu verlassen, fiel sein Blick auf einen weißen Zettel, den herzlose Kinder an eine Birke gepinnt hatten. Darauf stand:

Froschauge! Viel Spaß mit deinem blöden Köter!

HA! HA! HA!

Deine Schulkameraden!

Benny nahm mit kreidebleichem Gesicht den Zettel und steckte ihn in seinen Anorak. Mit seinem ermordeten Hund auf dem Arm ging er heim. Er versteckte Snoopy im Garten seines Elternhauses unter einen Busch. Unbemerkt schlüpfte er in sein Zimmer.

Hier packte er Snoopys gelben Fressnapf und den blauen Trinknapf, etwas Trockenfutter, Snoopys Ball und seinen kleinen Gummibären, mit dem er so gerne gespielt hatte, in eine Plastiktüte. Über seinen Arm hängte er eine kuschelige Wolldecke und unter seinen anderen Arm klemmte er sich ein kleines, weiches Kissen. So bepackt schlich er aus dem Haus und eilte zu seinem toten Freund. Er versteckte seine Schätze neben Snoopy unter dem Busch. Dann schlich er zum Geräteschuppen. Mit dem Spaten seines Vaters in der Hand eilte er zurück.

Er schaffte die Sachen zu der kleinen Lichtung im Wald, auf der er zusammen mit Snoopy die glücklichsten Stunden seines Lebens verbracht hatte, und stapelte alles unter einem Baum. Dann ging er ein letztes Mal zurück und holte seinen toten, kleinen Freund. Er legte ihn auf die Wolldecke. Snoopys Köpfchen bettete er auf das kleine Kissen. Dann begann er ein tiefes Loch auszuheben, die letzte Ruhestätte für seinen geliebten Freund, beerdigt inmitten seiner liebsten Sachen. Danach saß Benny noch lange bitterlich weinend an Snoopys Grab.

Jetzt war er wieder ganz allein!

Als die Kinder am nächsten Morgen ihre Klassenräume aufgesucht hatten und die Lehrkräfte mit dem Unterricht begannen, brachen zuerst im Chemieraum, dann im Bastelzimmer und danach an anderen feuergefährlichen Orten Brände aus. Das Feuer griff schon bald auf das gesamte Gebäude über und vernichtete es.

In dem mit Benzin gespeisten Höllenfeuer kamen sechs Kinder, der Mathematiklehrer Franz Köppke und die Lehrerin Amalia Nosbusch um, was Benny ganz besonders freute, denn ihre Ungerechtigkeit war schuld daran, dass seine herzlosen Schulkameraden seinen Snoopy entführen und töten konnten.

Die Brandstiftung wurde Benny nachgewiesen, und er kam in ein Erziehungsheim, wo sich die Nachstellungen und Schikanen fortsetzten. Erst als er volljährig war, durfte er das Heim endlich verlassen. Er fand Arbeit in einer Gärtnerei und schaffte sich wieder einen kleinen, weißen Hund an. Diesmal mit einem schwarzen Ohr, den er Snoopy 2 nannte. Und das führte zur nächsten Tragödie seines Lebens.

Benny kam dazu, als zwei etwa zwölfjährige Jungen Snoopy 2, der neben dem Treibhaus lag und an einem Knochen nagte, gerade die Gurgel durchschnitten. Benny schrie gequält auf und rastete völlig aus! Er schnappte sich die beiden Jungen und schlug ihre Köpfe so lange gegen eine Steinmauer, bis sie nur noch eine breiige Masse waren. Erst dann ließ er ihre leblosen Körper los und lief davon.

Blutverschmiert war er in Karlas Behandlungszimmer gestürzt und weinend zusammengebrochen. Kaum hatte er ihr stammelnd das Entsetzliche berichtet, da erschien bereits die Polizei und nahm ihn mit.

Karlas Gutachten und ihre Bemühungen hatten dafür gesorgt, dass Benny in diese ausgezeichnete Anstalt eingewiesen wurde, wo sie ihn regelmäßig behandelte und besuchte und dafür sorgte, dass ihm kein neuerliches Leid zugefügt wurde.

Benny fühlte sich in der Anstalt wohl. Auf seine Bitte hin hatte sie durchgesetzt, dass er sich ein Wellensittichpärchen halten durfte, welches er liebevoll versorgte. Einen Hund wolle er niemals wieder haben, hatte er Karla gestanden. Obwohl ich sie doch so sehr liebe, bringe ich ihnen den Tod, hatte er traurig gesagt und dabei zärtlich das Köpfchen des Wellensittichweibchens gestreichelt.

Der Schock über den sinnlosen und grausamen Tod seines zweiten Hundes, dessen Existenz er von Anfang an mit Snoopy 1 vermischte, hatte diesen sanftmütigen jungen Mann, den Kinder und Erwachsene nur seines nicht so ansehnlichen Äußeren wegen zeit seines Lebens verfolgten und misshandelten, hatten Benny für ein künftiges Leben in der menschlichen Gesellschaft – die oftmals so gar nichts Menschliches an sich hat – unfähig gemacht.

Der Anblick seines blutüberströmten Hundes hatte das damalige schreckliche Erlebnis mit Snoopy 1 in Benny wieder aufleben lassen und etwas in Benny bewirkt, das ihn zu einer künftigen Gefahr für die menschliche Gesellschaft werden ließ. Er würde aller Voraussicht nach sein Leben unter ärztlicher Aufsicht und im Schutze einer Anstalt verbringen müssen. Und Karla würde alles in ihrer Macht stehende tun, damit Benny sein Leben lang in dieser Klinik bleiben konnte, in der er sich so behütet fühlte.

Karla schüttelte gewaltsam die traurigen Gedanken ab und sah Benny an, der sie beobachtete. „Sind Sie heute traurig?“, fragte er einfühlsam.

„Nein, Benny, im Gegenteil. Ich bin sehr froh hier zu sein“, erwiderte Karla lächelnd. „Wie geht es deinen Wellensittichen?“

„Minni und Balu sind wohlauf. Möchten Sie die beiden besuchen?“, fragte Benny.

Karla nickte. „Ja, denn ich habe einige wunderbare Dinge für sie mitgebracht.“

„Sie haben wirklich daran gedacht? Wie schön“, rief Benny freudig und zog sie mit sich fort.

Dunkle Tiefen der Seele

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