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Hans

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Hans klagte nie.

Das Kindbettfieber raubte ihm die Frau. Sein Junge blieb. Haus und Grundstück nährten ihn und seinen Sohn Jürgen. Hans hatte nichts gelernt, doch er konnte alles etwas. So schaffte er es immer wieder, ein wenig Geld für das Nötigste zu raffen. Sie kamen über die Runden. Mehr erwartete Hans nicht vom Leben. Essen, Trinken, Wärme. Und wenn Gott es zuließ, vielleicht noch Schnaps und Tabak. Von Zeit zu Zeit ging er in den Thorsberg, stach Torf und sammelte Holz für den Winter, ging auf die Jagd oder pflückte Beeren. Der Thorsberg war gut zu ihm und mehr brauchte er nicht.

Zu seinen Nachbarn hatte Hans kaum Kontakt. Das lag nicht daran, dass er nicht beliebt war, sondern daran, dass Hans nach dem Tod seiner Frau die Ruhe seiner Räume suchte. Anfangs ging er in den Dorfkrug und trank mit den Bauern aus der Umgebung. Dort bediente auch die etwas jüngere Elisabeth, die in die Bäckerei eingeheiratet hatte. Hans und Elisabeth kannten sich von Kindesbeinen an. Sie spielten und wuchsen gemeinsam auf. Noch bevor Achselhaare das andere Geschlecht locken konnte, schliefen sie zusammen im Stroh oder saßen im Sommer gemeinsam in einem Holzbottich voll mit kaltem Regenwasser.

Hans lächelte still.

„Wenn du dein Hemd ausziehst, ziehe ich meins auch aus“, hatte er Elisabeth am Rande eines Roggenfeldes einmal vorgeschlagen. Sie waren unzertrennlich, so auch auf dieser Schnitzeljagd. Sie versteckten sich in einer Schneise, die der Wind ins Korn geschlagen hatte.

„Aber ich will mein Hemd nicht ausziehen“, sagte Elisabeth bestimmt. „Schade!“ Hans drehte sich beleidigt zur Seite.

„Hans, Hans, ist alles gut?“ fragte Elisabeth.

„Jaja, ich dachte nur, wir wären Freunde“, sagte er leise.

„Das sind wir doch auch.“

„Na, also. Wenn du dein Hemd ausziehst, mache ich es auch.“ Hans glühte. Elisabeths Wangen wurden rot. Sie musste die Träger ihrer Schürze herunterklappen und hatte ihr Leibchen schnell über den Kopf gezogen.

„Jetzt du!“ Verlegen schaute sie auf ihre Füße.

Hans war schneller aus seinem Hemd als französische Seemänner in Singapur.

Minutenlang wagten sie nicht sich anzusehen.

„Nun wird mir aber kalt“, klagte Elisabeth leise.

Hans hörte die Enttäuschung in ihrer Stimme, und noch bevor sie ihr Leibchen wieder überstreifen konnte, linste er wie zufällig zur Seite. Er lugte auf die festen apfelförmigen Brüstchen, die stramm aufblühten. Er sah roten Flaum in den Achseln, die kecken Brustwarzen und den langen roten Zopf, der davor baumelte. Er schämte sich ob seines Blickes und seiner eigenen Brust. Er hatte mehr, und die hingen auch noch. Hans zog sein gräuliches Hemd über.

„Komm, lass uns gehen, die finden uns nicht“, sagte Elisabeth. Sie sprachen nie wieder darüber. Sie haben sich nie wieder so gesehen.

Hans war eingedöst und schreckte aus einem Traum hoch. Er stöhnte sich von der Bettkante und hielt sich an Wand und Türrahmen fest. Hans spürte klebrigen Schweiß auf seiner Stirn. Nicht von der Anstrengung. Nicht vom Schreck. Erinnerungen machen Schweiß klebrig. Er glaubte, etwas aus Richtung des Schuppens gehört zu haben. Es klang wie ein Husten. Hans ächzte sich einen Raum weiter, stöhnte auf und sackte in seinen Ohrensessel vor dem Ofen in der guten Stube. Er setzte die Flasche mit Selbstgebrannten an seine Lippen und der Inhalt brannte im Rachen. Drei Mal fand die betäubende Flüssigkeit ihren Weg. Die klebrigen Bilder der Erinnerung aber blieben. Hans seufzte und drückte seinen Kopf in den speckigen Nacken. Er döste wieder weg und sein Körper wurde von der Macht des Schlafes im Sessel gehalten. Er zuckte und schnell sickerten Erinnerungen wie ölige Tropfen in seinen Traum.

Hans wurde nach oben gerissen. Er spürte den Alkohol in seinem eigenen Atem und roch seinen alten Schweiß. Säuerlich, herb. Frischer floss dazu. Sein Kopf ruckte herum.

„Sind Sie Herr Haack? Hans Haack?“ fragte SS-Hauptmann von Harenburg. „Sie haben Ihren Sohn im Haus versteckt!?“

„Er ist mein einziger Junge!“ Hans war mit einem Schlag hellwach.

„Sie können damit unseren geliebten Führer ehren. Da Sie selbst so maßlos fett sind und keinen Dienst für ihr Heimatland leisten können, geben Sie uns Ihren Sohn.“

„Herr Hauptmann, bitte! Ich brauche ihn für die Feldarbeit und im Haus.“

„Wenn Sie in der Jugend mehr Sport getrieben hätten, könnten Sie ihrem Vaterland selbst dienen. So, wie der Führer es erwartet!“

„Erwartet der Führer, dass wir für ihn sterben?“

„Für Führer und Vaterland zu sterben, ist der ehrenvollste Tod, den wir erringen können.“

„Wieso den Tod erringen? Der ereilt uns sowieso. Dafür brauche ich nicht zu kämpfen.“

„Der Deutsche kennt nur Führer und Vaterland!“

„Das Vaterland soll uns erst leben lassen, bevor wir dafür sterben.“

„Das ist ...“ Hauptmann Harenburg lief rot an und griff nach seiner Walther.

„Den Tod erringen?“ spottete Hans. „Ist das ein Wettkampf? Den kann jeder gewinnen!“ Und als er in die Mündung der Pistole schaute, fragte er lachend: „Wie es aussieht, bin ich jetzt Sieger?!“

Gleichzeitig bäumte sich die Walther auf. Beißender Pulverdampf umschmeichlte das finstere Gesicht von Hauptmann Harenburg. Hans stolperte und verlor den Halt, als die Kugel in sein Muskelfleisch eindrang und im Oberschenkelknochen steckenblieb. Er brach unter der Last seines Körpers zusammen und stürzte zu Boden. Befreit von jeglichen Barrieren sprudelte das Blut lebenslustig auf die Feldsteine. Es dampfte leicht. Hans sah ungläubig lächelnd auf die zarten Wölkchen, dann kam der Schmerz. Er schrie und umfasste sein Bein; schwer und kalt.

„Sei froh, dass ich dich am Leben lasse, du fette Sau!“

Jürgen hatte den Schuss gehört und stolperte die Veranda nach oben. Atemreich und wortlos stürzte er sich auf seinen Vater, dann, in wilder Wut, auf Hauptmann Harenburg. Dreimal schlug Jürgen dem Hauptmann auf die Brust; die Orden klirrten. Es dauerte nur fünf Sekunden. Eine Ewigkeit für den Tod, zu kurz für das Leben, dann lag Jürgen im Blut seines Vaters. Der Sohn zuckte, strampelte, das halbe Gesicht war nicht mehr, sein letzter Atemzug bestand nur aus schaumigen Blutblasen. Hans zog sich durch beider Blut zu seinem Sohn.

„Ein Angriff auf einen SS-Offizier, darauf steht die Todesstrafe!“ schrie Hauptmann Harenburg den Soldaten entgegen, die aus dem Mannschaftswagen in die Diele stürmten. Dann spie er vor Hans auf den Boden. „Du dreckiger kommunistischer Judenfreund!“

Ein Soldat hob seine Mauser und richtete den Lauf auf Hans. Hauptmann Harenburg ersetzte die verschossenen Patronen in seiner Walther. Hans berührte den offenen Schädel seines Sohnes. Weißlich, blutig. Die Hoffnung eines jungen Lebens quellte aus Jürgen heraus, in die Hand seines Vaters. Nie hatte Jürgen die Hitze einer Frau geliebt. Schon wurde er kalt.

Hauptmann von Harenburg schob die Walther in das gefettete Halfter. Sie erzeugte ein sattes, leise quietschendes Geräusch. Dann hob er den Kopf und musterte Hans. „Wie ein Schwein vor seiner Schlachtung!“ lachte er. Die beiden Soldaten lachten mit. „Deine Judenfreunde fressen doch nur ausgeblutetes Getier“, lachte Harenburg weiter. Dabei legte er seine Hand auf den erhobenen Gewehrlauf des Soldaten neben ihm und drückte ihn hinunter. Hauptmann Harenburg ging zwei Schritte auf Hans zu und wäre beinahe ausgerutscht. Er hielt sich am Tisch fest und drückte seinen Stiefelabsatz in Hans' offenes Bein. Dunkles Blut quoll hervor.

Hans schrie auf.

„Verblute, wie der Fraß deiner Judenfreunde.“ Dann drehte er sich um und verließ die Diele. Die beiden Soldaten gingen rückwärts. In der Tür drehten sie sich um und blickten nicht mehr zurück. Vor Hans drehte sich alles, er sah wie durch einen Nebel. Jürgen, die Diele, alles kreiste immer schneller und verschwommener. Wie im Wahn schaffte er es noch, den Gürtel aus seiner groben Cordhose zu ziehen. Hans schrie auf und band den Gürtel, das einzige Geschenk seines Vaters, fest um den Oberschenkel. Dann wurde es schwarz.

Als Hans die Augen öffnete, schüttelte er seinen Kopf und schloss sie wieder. Beim zweiten Mal sah er in das Gesicht von Elisabeth. Sein Blick wurde klarer. Dann kam der Schmerz. Hans zitterte, lag noch immer auf dem Feldsteinboden seiner Diele, doch sein Bein war jetzt verbunden. Hans sah, wie der Körper seines Jungen auf die Terrasse und dann um die Ecke gezogen wurde. Es blieb eine zähe dunkelrote Schleifspur. Robert Flisch und Herbert Hirsch drückten Hans zu Boden. Auf den Blutlachen lagen mehrere Laken und Leinensäcke, doch das Blut kämpfte sich durch alle Schichten ans Licht.

Robert stand links und Herbert rechts von ihm. Sie schafften es kaum, Hans zu bewegen. Sie stöhnten unter der lebenden Last, und Hans schrie und wimmerte in ihren Armen. Dann wurde es wieder schwarz.

Tage und Wochen dämmerten an Hans vorbei. Mit ihnen schlich sich der Herbst ins Moor. Der Winter blieb. Sein Bein heilte nicht. Die Kugel steckte noch immer in seinem Knochen. Hans hatte Fieber. Hatte er kein Fieber, fehlte ihm die Luft. Dann wieder Fieber.

Die Beerdigung seines Sohnes fand ohne ihn statt. In der elften Woche kämpfte Hans sich auf die Bettkante, in der zwölften rutschte er auf faltigen Hautlappen auf einen Stuhl. Beide ächzten nicht.

„Wo liegt mein Sohn?" Hans stotterte und drückte sich vom Stuhl auf die Bettkante. Seine Wunden brachen auf. An seinem Schenkel fühlte Hans den Rinnsaal aus Blut und Eiter. Bei jeder Bewegung im Schlaf wachte er auf. Gegen das Vergessen brach die Wunde immer wieder auf.

„Er liegt draußen, bei deinem Vater.“

„Aber“, unterbrach Hans, „dort darf niemand liegen. Das ist kein geweihter Boden!“

„Der neue Pastor, Pastor Banger, hat ihn geweiht. Er ist jung ...“, Elisabeths Stimme brach. Hans wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.

„Hans, es wird schlimmer. Die Nazis nehmen alles. All unser Hab und Gut und wer nicht mitjubelt, der wird fortgebracht.“

„Fortgebracht?“

„Du weißt doch, was sie über Dachau und Auschwitz erzählen. Und wenn sie nicht dorthin gebracht werden, gehen sie direkt in den Osten. Keiner wagt den Mund aufzumachen.“ Elisabeth griff die Hand von Hans.

„Wir brechen morgen auf, wir fliehen. Dein Mann ...“

„Mein Mann ist tot. Im Osten erfroren. Du warst im Wundfieber.“

Hans legte seine freie Hand auf die von Elisabeth. „Er ist bei meinem Sohn. Sie beschützen einander und passen auf uns auf.“ Elisabeth wurde von Tränen geschüttelt.

Hans horchte auf: „Still! Ich höre was.“

Über die Veranda dröhnten scharfe Schritte von schweren Ledersohlen näher. Die Tür wurde aufgestoßen.

Die Stiefel: blank poliert. Die Uniform: sauber und korrekt. Der Scheitel saß wie eingemeißelt. Hinter dem Unteroffizier erschienen zwei weitere Soldaten.

„Ach sieh an“, höhnte der Unteroffizier. „Ich habe schon gehört, dass sich der Judenfreund wieder bewegen kann. Aber fett ist er noch immer.“

Hans schaute auf den Boden.

„Na, willst' wohl immer noch nicht an die Front“, höhnte er weiter, „und hast dir auch gleich die geile Bäckerin kommen lassen. Der Herr Hauptmann hat uns alles erzählt.“

„Gar nichts hat er ...“

Der Unteroffizier schlug mit seiner Faust auf den Tisch. „Durchsucht das Haus! Hier sollen Juden versteckt sein!“

„Ich habe hier keine ...“ Der Unteroffizier schlug Hans ins Gesicht. „Seht euch nur diesen feisten Feigling an. Der hat sich durchs Fressen vor dem Dienst an unserem Führer gedrückt!“

Eine Handvoll Soldaten stürmte das Haus. Sie rissen Schränke um, traten das Bett zusammen und hebelten Dielenbretter aus dem Boden. Als alle Möbel zerbrochen, das Haus fast unbewohnbar war, hielt der Unteroffizier Hans eine Pistole unters Kinn: „Pass auf, Judenfreund. Solche wie dich kennen wir. Wir wissen, was wir machen müssen. Bewege dich einmal, bitte, nur einmal. Dein Sohn ist nicht mehr hier um dich zu beschützen.“

Elisabeth drückte ihre Hand fester um die von Hans. Sie spürte, wie seine zitterte und feucht wurde.

„Na, hoffentlich tröstet dich die Witwe gut.“ Und zu Elisabeth gewandt: „Wenn ich mal einsam bin, kannst du auch zu mir kommen!“

„Heil Hitler!“ Die Soldaten schlugen ihren Hacken zusammen: „Heil Hitler“

Elisabeth hatte dem Führer schon alles Heil der Welt gewünscht. Hans schaute auf. Er sah in die Augen des Unteroffiziers und wusste, dass dies sein letzter Abend im Haus seiner Eltern sein könnte. „Heil Hitler!“ presste er hervor und hob seinen Arm.

Hans schreckte hoch, rutschte in seinem Sessel hin und her und nur zaghaft kam das Hier und Jetzt zurück. Schweiß perlte von seiner Stirn. Im Halbschlaf griff er die Flasche neben dem Sessel und nahm einen tiefen Schluck. Noch bevor er ganz aus den Träumen und Erinnerungen zurück war, baute er das Husten, das von draußen in seine Ohren drängte, in seinen Traum ein und sackte zurück.

Elisabeth und Hans saßen im alten Hanomag vor der Bäckerei. Der Motor stotterte widerwillig. Der Abend dämmerte früh, auf dem Weg von Wismar zurück nach Krähenstein.

Hans half Elisabeth Mehl und Holz abzuladen und ging über die Moorbrücke zurück zu seinem Haus. Zwei Soldaten standen vor seiner Tür.

„Der Herr Hauptmann von Harenburg will ein paar Worte mit dir wechseln“, sagte der rechte und ließ seine Mauser am Ledergurt von der Schulter rutschen. Der andere machte zwei Schritte auf Hans zu.

Hans sah durch die offenstehende Tür. Die wenigen geliehenen Möbel waren zertrümmert. Alles von Wert hatten sie mitgenommen. Hans griff sich seine Lodenjacke und folgte den Gefreiten. Er musste immer wieder stehen bleiben, um sich irgendwo festzuhalten. Sein Bein schmerzte.

Nach der Begrüßung für den Führer wurde der Ton des Hauptmanns lauter.

Hans stand zwischen den beiden Soldaten. Das Gewicht hatte er auf sein linkes Bein verlagert. Er wankte.

Hauptmann von Harenburg hatte sich im Tanzsaal des Dorfkruges niedergelassen. Einem Anbau hinter Elisabeths Bäckerei. An der Stirnseite des Raumes stand ein großer eichener Schreibtisch. Links und rechts dahinter hingen Hakenkreuzfahnen an der Wand, dazwischen ein übergroßes Portrait vom Führer. An der Tür saß Harenburgs Adjutant an einem Metalltisch vor seiner Schreibmaschine. Ein Feldtelefon, ein blecherner Aktenschrank. Vor dem Schreibtisch des Hauptmanns standen zwei Stühle, die ganz an den Schreibtisch herangerückt waren. Das Licht wurde durch schwere samtrote Vorhänge ausgesperrt. Ein paar Strahlen versteckten sich dahinter und lugten neugierig durch schmale Schlitze ins Halbdunkel.

Hans schwitzte. Das tat er immer, wenn er sich anstrengte oder aufregte. Vor Schmerzen wusste er nicht, wie er stehen sollte. Sein Bein pochte und brannte und er fühlte, wie ihm der so vertraute Rinnsaal aus Eiter und Blut die Hose durchfeuchtete. Immer wieder schaute er auf die beiden Stühle. Doch jedes Mal, wenn Schwäche oder Schmerzen ihn zu übermannen drohten, dachte er an Jürgen.

„Wir sind noch einmal in deinem Haus gewesen. Wir waren wohl nicht gründlich genug.“ Hauptmann von Harenburg grinste und zog ein Laken, gefüllt mit Gegenständen, auf seinen Schreibtisch. Hans konnte einen Kerzenständer und eine Schriftrolle erkennen. Daneben lag eine Chupa.

„Das sind nicht meine Sachen“, stammelte Hans. Er spürte den härter werdenden Griff der Wachsoldaten links und rechts. Ein Dritter schlug ihm einen Gewehrlauf in den Rücken. Hans klappte zusammen. Harenburg drehte sich um und sprach zum Führerbild. „So ergeht es jedem, der unserem geliebten Führer und unserem großartigen Vaterland Schaden zufügt.“ Er drehte sich nicht einmal mehr um. Hans wurde gestoßen und geschoben. Aus dem Augenwinkel heraus sah er Elisabeth an der Tür vorbeihuschen. Die Soldaten stießen Hans die Kellertreppe hinunter. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Hans schlug mehrmals auf die Steinstufen. Er konnte nicht schreien, als eine Rippe krachend brach. Er konnte nicht schreien, als sich sein Knöchel verdrehte. Aber er schrie, als seine Wunde tiefer aufriss. Er schrie! Niemand drehte sich um. Niemand sagte ein Wort. Niemand half ihm.

Die Luft war schwer, muffig und kohlig. Es war dunkel. Das Atmen fiel Hans schwer und noch schwerer fiel es ihm, sich zu bewegen. Dennoch stemmte er sich hoch. Hans torkelte mit seinem Oberkörper an einer modrigen Wand entlang. Warmes Leben lief an seinem Bein hinunter. Der Eiter roch süßlich. Hans stützte seinen Rippenbogen und tastete sich mit der anderen Hand am moosigen Fels entlang. Fast wäre er gestolpert, als er gegen einen Haufen stieß. Wie im Wahn tastete er sich weiter. „Kohlen, das sind Kohlen“, wollte er hinausschreien. Die Bilder vom Saal schlichen in seine Erinnerung. Der Tanzsaal der Gasstätte. An der hinteren Wand war die Rutsche in den Kohlenkeller. Hans schob sich auf den Haufen loser Eierbriketts. Bei jedem Versuch, sich über den Haufen nach oben zu drücken, kullerten und klickerten die Briketts nach unten. Hans lag auf dem Bauch, er kroch, zerrte, weinte, wollte schreien. Er keuchte. Jeder zweite Atemzug blieb ihm hustend im Rachen stecken. Er bekam kaum noch Luft. Sein Hemd war nassgeschwitzt. Er reckte sich und seine Finger erreichten den eisernen Riegel der Schüttklappe. Unwillig gab der rostige Riegel nach. Schattenlicht drang durch den hochgedrückten Verschlag zu ihm. Hans presste sein Gesicht in den Spalt. Seine Lungen giemten nach frischer Luft, seine Seele nach Freiheit und sein Körper nach Leben. Seine Brust gierte und die kühle Brise ließ ihn frösteln. Hans blieb liegen. Das Dunkel im Keller wurde dunkler. Die Sterne übernahmen die Nacht. Stimmen und Geräusche versiegten. Nun wagte er die Klappe ganz aufzustoßen, konnte sie aber nicht halten. Sie schrie im Scharnier und das Holz schlug dumpf auf den Boden. Ein Hund beschwerte sich und zerrte an seiner Kette. Auf dem Kies: lederne Stiefel. Hans blieb auf dem Kohlehaufen liegen. Dann packte er zu. Das weiße Gesicht der Wache, das durch die Luke schaute, quiekte erschrocken auf. Im Todesringen gab es keinen einzigen Wimpernschlag Zeit, um Alarm zu schlagen. Beide keuchten auf dem Kohlehaufen. Gesicht an Gesicht erkannten sie einander. Das Grammophon im Tanzsaal tönte bis in den Keller: „Mein kleiner grüner Kaktus.“

Ineinander verschlungen, und wie auf ewig verbunden, rollten sie auf der Kohle.

Und der Thorsberg seufzte.

Hans kramte in seinen Erinnerungen, in seinen Träumen, doch die stießen ihn zurück.

Jetzt hörte er es ganz deutlich: das Husten. Hans öffnete seine Augen.


Glutwächter

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