Читать книгу Glutwächter - Burkhard Friese - Страница 6

Kurt

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Kurt schrie, das hörte ich. Kinderschreie berühren selbst mich.

Kraftvoll riss die Lok die Waggons nach vorne, stockte, zog an den Kupplungen. Der Zug ruckte an. Metall knirschte auf Metall. Er reckte und streckte sich, dann der Knall. Metall wurde gebogen und zerdrückt.

Kurt wurde von der Druckwelle zu Boden gerissen. Das Zerbersten menschlichen Schaffens hörte er nicht, als er auf die gesprengten Steine schlug. Kurt rang nach Luft. Er hustete und spürte die scharfkantig zerrissenen Steine unter sich. Splitter flogen wie Blütenstaub durch die Luft. Kurt rang nach Atem und spuckte feinen Steinstaub. Die Hitze war unerträglich und raubte der Staubluft den Rest Sauerstoff, den das Feuer übrig ließ. Kurt wischte sich durch die Augen. Er schmeckte Ruß und Blut. Flammen fraßen sich durch seine kleine Kinderwelt. Mauern barsten, Metall schmolz. Entfernte Schreie. Von den Zügen war nichts zu hören oder zu sehen. Kurt riss seine Augen auf. Das Gleisbett war zerfleischt, die Gleise verbogen. Waggons, wie in einer Spielzeugkiste, unachtsam übereinandergeworfen. Kurts Hirn hämmerte und in seinen Ohren pochte es. Ihm war schwindelig und er sah alles wie durch einen Schleier. Die Bomben, die Steine, das Eisen, die Schreie schwollen an, wie in einer einzigartigen Symphonie aus Leid und Krach.

Zwei kräftige Arme rissen Kurt nach oben und stießen ihn vorwärts. Er stolperte, wurde gestoßen. „Lauf Junge, lauf um dein Leben!“ hörte er durch die gierig fressenden Flammen. Hinter Kurt: Husten, Röcheln. Die harte Hand stieß ihn weiter, stieß in seinen Rücken, stieß ihn vorwärts, weiter von Gleisen fort. Fort von seinen Schwestern. Fort von seiner Mutter. Watte legte sich auf Kurt, dann ein immer höher werdendes Pfeiffen. Ein lauter Knall. Er spürte eine weitere Druckwelle und das Röcheln hinter sich hörte er ein letztes Mal. Kurt rannte. Die Stimme war nicht mehr bei ihm. Kurt war allein. Allein mit sich und dem Pfeiffen in seinen Ohren.

Ich war bei ihm und folgte jedem seiner Schritte.

Kurt lief, fiel erschöpft in einen Graben. Kurt fror. Kurt hustete und rannte weiter. Er blieb erst stehen, als der Husten keine Luft mehr rein- und rausließ, er nicht mehr atmen konnte. Kurt fiel auf die Knie und erbrach sich. Er schnappte nach Luft, hustete und übergab sich erneut. Seit Tagen hatte er nichts Richtiges mehr gegessen, nur Baumrinde gekaut. Er würgte nur Schleim, Galle und fädrig bittere Säure nach oben. Kurt wischte sich mit dem Ärmel der gestrickten Jacke sein Gesicht ab.

Seine Mutter strickte den ganzen Tag, zumindest als es noch Wolle gab. Sie strickte sogar kurze Hosen, die er und seine Geschwister im Sommer anziehen mussten. Ging eine Hose kaputt, mussten die Kinder beim Aufribbeln der Wolle helfen. Sie hielten das kaputte Kleidungsstück, ob nun Socken, Hosen, Leibchen oder Jacken hoch, während die Mutter das Gestrickte aufribbelte. Den Faden dann durch eine Wasserschüssel gleiten ließ, danach um eine Stuhllehne spannte und nach dem Trocknen wieder in ein Wollknäuel verwandelte. Kurze Zeit später klickerten die Nadeln ihre Heimatmelodie. Das war schon immer so. Doch schien es weit her.

Kurt sah sich um. Er wusste nicht, wie weit er gelaufen war. Die Sonne versteckte sich früh in diesen Tagen. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Hinter Kurt lag ein kleines Waldstück, rechts und links nur brache Krume. Einige beleuchtete Häuser winkten ihm durch das wirre Geäst des Knicks zu. Kurt setze sich auf einen verwitterten Kilometerstein vor einer Heckenrose und legte die Arme um seine Brust. Immer wieder suchten seine Augen die Wärme der Lichter. Erst als sich zwischen den Häusern niemand mehr bewegte, drückte er sich hoch. Seine Knie gaben nach, seine Füße gehorchten ihm nicht. Er fühlte weder Kälte noch Schmerzen. Kurt streckte behutsam seine Zehen und trampelte langsam auf. Immer und immer wieder, bis es anfing zu kribbeln. So machte er es immer nach langen Schneeballschlachten zu Hause. Früher, vor der Flucht. Auch das war schon weit her. Kurt fürchtete sich vor diesem Kribbeln. Es tat weh und keine Mutter war da, die die Füße hätte reiben können. Als das Kribbeln nachließ, duckte er sich und schlich am Knick entlang.

Er kam näher. Ich sah seinen kleinen Körper und sein Gesicht zittern. Ich roch seine Angst.

Kurt drückte sich am ersten Haus vorbei und an einem zweiten. In beiden Häusern brannte Licht. Am dritten Haus quetschte er sich hinter eine Ligusterhecke. Die blutig verkrusteten Händchen drückten die knorrigen Äste langsam auseinander. Schräg hinter dem Haus stemmte sich ein verwitterter Holzschuppen gegen eine Schneewehe.

Kurt kroch auf allen Vieren an der Hecke vorbei. Er nahm sich zwei Hände voll Schnee und steckte ihn in den Mund. Dann zwängte er sich durch einen Spalt in der Schuppentür. Eggen, Spaten, Seile, Hacken und Harken ruhten sich an den Wänden aus. Gerätschaften standen nach fleißiger Arbeit in der Ecke und sammelten Kräfte für das kommende Frühjahr. Eine Schubkarre lag auf der Seite. Holzscheite daneben. Kurt tastete sich langsam vor. Alte Säcke und Strohballen stapelten sich bis unter die brüchige Decke. Seine Zähne klapperten wie die Äste auf dem Schuppendach. Einige Triebe wuchsen durch Spalten in der Schuppenwand ins Innere und eroberten ihre neue Heimat. Kurt setze sich auf einen Strohballen und schaute sich um. Es war viel dunkler, aber auch wärmer als draußen. Kurt klemmte sich zwei Leinensäcke unter den Arm und kletterte an den Strohballen hoch. Oben angekommen riss er einen Ballen auseinander und formte das Stroh zu einem Bett. Einen Sack legte er auf das Stroh, damit es nicht piekte und in den anderen kroch er bis zum Hals. Das restliche Stroh kratzte er über sich zusammen. Kurt zog Kopf und Arme ein. Der Sack roch nach Kohle. Sofort erinnerte er sich an den Bahnhof, an seine Geschwister, an seine Mutter. Aber noch bevor sich weitere Erinnerungen in einem salzigen Strom den Weg durch seine Augen bahnen konnten, schlief er ein.

Kurt schreckte hoch. Etwas raschelte im Stroh. Irgendwo schrie eine Krähe. Eine Zweite antwortete. Kurt kämpfte darum wach zu bleiben, doch der Schlaf zog ihn zurück in sein Reich. Einmal glaubte Kurt Stimmen zu hören, einmal die Sonne durch den Holzverschlag zu sehen. Alles nur Blitzlichter der Erinnerung. Er schlief weiter.

Zuerst wusste Kurts Unterbewusstsein, dass er wach wurde. Noch bevor er seine Augen öffnen konnte und sein Körper aus der Schlafenswelt zurück war, rieb er sich mit beiden Händen seine verklebten Augen auf. Sein Hals war geschwollen. Schlucken fiel ihm schwer. Kurt öffnete seine Augen und rieb an ihnen, bis sie schmerzten. Ruß und Heu kitzelten in seiner Nase. Er hustete und erschrak. Er krächzte. Er nieste, alles tat ihm weh. Sein Magen forderte lautstark sein Recht. Seine Zunge war trocken, klebte am Gaumen und er konnte den Husten nicht unterdrücken. Es hörte nicht auf. Seine Augen tränten und eine salzige Spur zog sich durch das geschwärzte Gesicht. Kurt rang nach Luft. „Mama, bitte! Mama!“ rief er und schlug sich vor Schreck eine Hand vor den Mund. Er wurde herumgerissen. Er spürte eine schwere Hand auf seiner Schulter, dann eine zweite auf seinem Arm. Hände, die zugriffen wie ein Schraubstock. Es wurde feucht und warm in seinem Schritt. Kurt spürte, wie es seine Schenkel hinunterlief. Der Dunst des warmen Urins kroch aus dem Geruch von kalter Kohle. Kurt strampelte, zerrte und fing an zu schreien. Er hatte nicht bemerkt, wie tief er in das Stroh geraten war. Draußen war es hell. Die kräftigen, schorfigen Hände hielten ihn fest. Sie zerrten Kurt aus dem Stroh und drehten ihn um.

„Ist schon gut, kleiner Mann, ist schon gut. Wer bist du denn?“

Kurt strampelte und biss in die Hand, die ihn hielt. Mit einem Aufschrei löste sich der Griff. Rücklings robbte Kurt bis in die letzte Ecke des Speichers. Er blinzelte direkt in die Sonne. Der Mann blieb Schatten und Stimme.

„Bleib ruhig“, sagte die tiefe Stimme. „Bleib ruhig, ich tu' dir nichts!“

Die Nässe in Kurts Hose wurde kalt. Er zitterte. „K-Ku-Kuuurt. Kurt bin ich.“

„Hallo Kurt, ich bin Hans. Hast du Hunger Kurt, ist dir kalt?“

Kurt nickte und kroch noch tiefer in die Ecke.

„Willst du mit mir ins Haus kommen? Da ist es warm. Ich hab den Ofen angefeuert.“

Kurt nickte. Die Kälte, der Hunger, der Durst, alles war stärker als die Angst, war stärker als die Scham über den feuchten Fleck in seiner Hose. Kurt schnäuzte sich die Nase im Ärmel seiner zerrissenen Wolljacke und kroch nach vorne. Er konnte sich kaum auf allen Vieren halten und rutschte auf seinem Bauch weiter.

„Komm Kurt, keine Angst! Ich gehe vor und lass die Tür offen. Nimm dir Zeit, und wenn du magst, komm einfach rüber.“

Die Leiter stöhnte unter der Last von Hans.

Durch einen Spalt in der Schuppenwand lockte das warme Haus. Kurt presste sein Gesicht fest gegen das rissige Holz. So, als könne er die Wärme durch die Winterluft hinweg in sich aufsaugen. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen als Hans ein Stück Brot, etwas Wurst und ein Glas Milch auf den Tisch stellte. Kurt rieb seinen Bauch und spürte sein Innerstes rebellieren.

Der massige Mann setzte sich mit dem Rücken zur Tür an den Tisch in der Diele und wartete. Hans war groß, Hans war breit, Hans war schwer und sein Hosenbund war der Äquator seines Bauches. Die geflickte Lodenjacke vermochte diesen Berg Mensch kaum zu halten. Hans war noch immer außer Atem.

Kurt zog es aus dem Stroh. Er rutschte auf dem Rücken den Strohberg hinunter, riss einen Ballen um und stürmte die wenigen Meter zum Haus. Auf der Terrasse aus groben Feldsteinen wurde er langsamer.

Hans drehte sich nicht um, als Kurt durch die Tür schlich.

„Schön, dass du mir Gesellschaft leistest, Kurt. Allein essen macht einsam. Keiner sollte allein essen. Hab ich recht? Machst du die Tür noch zu, bitte?“

Kurt nickte, seinen Blick auf den Tisch geheftet.

„Hier Kurt, du kannst ...“ Noch bevor Hans ausgesprochen hatte, stürzte Kurt über den Tisch. Er grabschte und schmatze und das Brot schmeckte gut wie nie. Die Wurst nährte den Körper, die Milch die Seele, doch der fremde Mann die Angst.

Hans lachte, und wenn Hans lachte, bebte das Fleisch. Der Stuhl ächzte mit den Wellen des massigen Körpers.

Kurt verschluckte sich und prustete einen Mundvoll Milch über den Tisch. Dann lächelte er unschuldig und schlang ungekaut ein weiteres Stück Dauerwurst hinunter.

Hans lachte: „Macht nichts Kurt. Schnell zu sein ist das Vorrecht der Jugend, ungestüm zu genießen, das der Menschen!“

Kurt nickte, ohne den Blick vom Tisch zu nehmen. Etwas Brot fiel auf das Holz. Er rülpste. Das Zittern war verschwunden. Es roch nach Kohle und Urin. Kurt ließ beide Arme fallen. Tränen rollten seine Wangen runter. Dann schluchzte sein junger Körper auf.

„Wo kommst du her, Kurt?“ Hans schabte mit seinen Füßen und rutsche auf dem Stuhl hin und her. Die Rückenlehne bog sich gefährlich nach hinten. Kurt lief erneut eine Träne über seine schwarze Wange und der Uringestank stand zwischen ihm und Hans. Kurt zog seine Schultern hoch und starrte auf seine Füße. Nur mit Mühe blieb er sitzen. Kurt zitterte, er war dreckig und müde. Die Verlockung noch eine Nacht im Stroh zu schlafen und etwas Essen zu bekommen, war größer als seine Angst.

„Ich komme aus ... aus ...“, flüsterte Kurt schüchtern und stierte auf das leere Glas Milch.

„Nimm dir noch was. Die Kanne steht hinten, neben der Dielentür“, lächelte Hans.

Kurt spürte Hans seinen Blick zwischen den Schulterblättern, als er aufstand, und sich mit der Blechkanne den Becher zu einem Viertel füllte. Er schaute über seine Schulter und sah Hans zufrieden lächeln; die Kanne war noch mehr als halb voll. Kurt goss sich den Becher erst halb, dann ganz voll. Als der Becher fast voll war, goss er vorsichtiger und langsamer, um ja nichts zu verschütten. Er trank zwei Schluck ab und ging breitbeinig zurück an den Tisch. Dabei schniefte er seine Nase immer wieder am Ärmel ab und verschmierte den Kohlenstaub weiter im Gesicht. Seine Augen waren alt.

Über den Tisch hinweg sahen sie sich an, getrennt von Jahrzehnten, getrennt durch Welten, aber vereint im Schmerz.

Kurt zeichnete mit seinen Fingern die Maserung der Tischplatte aus Eichenholz nach. Manchmal verfing sich ein gespaltener Fingernagel in einer Rille. Kurt kratzte darüber, ohne zu sehen, was er machte. Je mehr Gedanken im Gestern verschwanden, desto unruhiger rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. Seine Füße fingen an zu wackeln, dann die Beine. Bei jeder Bewegung roch es intensiver.

„Was meinst du Kurt“, Hans' Stimme brach die Vereinigung von Zukunft und Vergangenheit und weckte in der Gegenwart die peinliche Stille zwischen zwei Menschen, die sich nicht kannten. „Dort hinten in der Waschküche steht eine Wanne. Oder hast du noch Hunger?“

„Nein, Herr.“

„Oder Durst?“

„Nein, Herr.“

„Nenn mich doch einfach Onkel Hans, was hältst du davon?“

Kurt nickte stumm und versuchte die Jahresringe der Tischplatte zu zählen.

„Also, was hälst du davon: In der Waschküche ..." Hans deutete mit der rechten Hand zum hinteren Raum der Diele. Im vorderen sah Kurt eine Werkbank und allerlei Werkzeug für Holz- und Metallarbeiten. Hans lächelte: „Ich habe Wasser auf dem Herd. Das kannst du gerne zum Baden nehmen ... und dann wäscht du dich erst einmal gründlich.“

„Ich habe keine anderen Sachen“, flüsterte Kurt und schaute wieder auf den Tisch.

„Dann steig erst einmal mit deinen Sachen in die warme Wanne. Du rubbelst alles mit Kernseife ab.“

Kurt nickte.

„Wir hängen deine nassen Sachen dann zum Trocknen vor den Ofen. Ein Trockentuch liegt neben der Wanne auf dem Hocker. Ich schaue, ob ich was zum Anziehen von meinem Sohn finde. Der war zwar größer und kräftiger, aber es wird schon gehen.“

„Danke!“ Kurt wollte gerade aufstehen.

„Warte! Wenn du fertig bist, erzählst du mir deine Geschichte. Ist das gut so?“

„Ja, Herr", sagte Kurt. Dabei erinnerte er sich daran, wie die Kinder vom Gutshof zu den Männern gesprochen haben.

„Hinter dem Schuppen ist die Wasserpumpe. Du brauchst drei bis vier Eimer und ich kümmere mich um das heiße Wasser.“

Kurt ging am Schuppen vorbei zur Schwengelpumpe. Es fing wieder an zu schneien. Es war kalt und nass draußen und Kurt zitterte. Er schaute kurz in den Schuppen und widerstand dem Drang, sich einfach wieder ins Stroh zu legen. Kurt fuhr mit zwei Fingern an den Holzbohlen entlang. Er wusste nicht, ob er ein oder zwei Tage darin verbracht hatte. Seiner Kleidung nach zu urteilen, müssen es mehr gewesen sein.

Sein Blick fiel angsterfüllt in meine Richtung. Ein Haus mochte noch so hell und sauber sein; in jedem Haus gibt es eine Ecke mit Staub und allem, was darunter ist. Ich war hinter dem Haus. Dort, wo ich immer war. Ich war im Dunkel. Hinter jedem Haus. Ich war still.

Kurt füllte den Zinkeimer mit eisigem Brunnenwasser. Am gusseisernen Auslass hingen gefrorene Tropfen. Kurt brauchte beide Arme, um den Eimer in die Waschküche zu schleppen. Dabei schwappte immer wieder eiskaltes Wasser über seine Hose und auf die Schuhe. Er musste noch dreimal laufen, bis die Wanne zu einem Drittel gefüllt war.

Eisig und klar stand das Wasser in der Zinkwanne, Kurt spiegelte sich darin. Bei seinem Anblick lief ihm ein Schauer über den Rücken.

Hans hatte in der Zwischenzeit einen weiteren Topf mit Wasser auf den Herd gestellt, einen Holzscheit nachgeschoben und die Glut angestochert. Nun saß er wieder auf seinem Stuhl und nickte zufrieden.

Kurt stieg von einem Fuß auf den anderen. Als das Wasser auf dem Herd dampfte und die ersten Blasen vom Boden aufstiegen, stand Hans auf und humpelte zum Herd. Er zog das rechte Bein nach und Kurt schaute beschämt zu Boden. Hans ergriff lederne Lappen und hob den Topf mit beiden Händen vom Herd. Er humpelte damit durch die Diele in die Waschküche und kippte das dampfende Wasser in die Zinkwanne. Ein großes Stück Kernseife klatschte hinterher. Hans stützte sich am groben Mauerwerk ab.

„Hier ist das Trockentuch.“ Er zeigte auf den dreibeinigen Melkschemel und verließ die Waschküche. Die verzogene Holztür hing schief in den Angeln und schnappte nur schwer in den rostigen Riegel.

Kurt hörte Hans' schlurfende Schritte die Holzstiege hinaufsteigen. Die fünfte Stufe von oben knarrte. Zaghaft setzte sich Kurt mit den Kleidern auf den Rand der Wanne und schaute sich um. Die Zinkwanne, ein alter Stuhl, der Melkschemel mit dem Handtuch. An der Wand gegenüber ein Waschtisch mit zwei Schüsseln, darüber ein blinder Spiegel. Von Wand zu Wand spannte sich eine Wäscheleine aus Hanf und in der Ecke lag ein Wäschestampfer quer in einem Waschbottich. Davor dreckige Wäsche und ein Eimer mit Seife.

Kurt plätscherte leichte Wellen in das Wasser und stellte seine Füße mit den aufgerissenen Schuhen in die Wanne. Zuerst prüfte er das Wasser, dann schwappte das warme Nass um seine Unterschenkel und zog ihn allmählich in seinen Schoß. Ohne Gegenwehr verschmolz Kurt mit der Wärme, löste sich auf und seine Kinderseele atmete tief durch. Der Geruch von Kohle und Urin vermischte sich mit seifigem Wasserdampf. Kurt holte tief Luft und tauchte unter. Dabei öffnete er die Augen, die Kernseife brannte in ihnen, und die Waschküche versank in einem milchigen Schleier. Kurt beobachtete einige Luftblasen, wie sie an die Oberfläche trudelten. Blind fischte er den Klumpen Kernseife vom Wannenboden. Sie rutschte ihm immer wieder aus der Hand und es spritzte fröhlich, als sie zurück in die Wanne plumpste. Das Wasser zerrte an Kurts Kleidung. Schwer klebte sie an seiner Haut. Kurt bekam kaum das Leibchen über seinen Kopf. Er riss und zerrte, bis es in den Nähten knirschte. Dann endlich, das Gesicht wieder frei, blickte er in die neugierigen Augen von Hans. Wasserdampf hing über der Wanne, ließ das kleine Fenster beschlagen und fiel in schweren Tropfen von der Decke auf den Terrazzoboden. Die Stirn von Hans war übersäht mit großen Schweißperlen. Er fasste sich an den rechten Oberschenkel.

„Hier, das sind ein paar Sachen von meinem Sohn. Sie werden dir zu groß sein. Aber bis deine trocken sind, wird es gehen.“ Hans zog sein Bein nach und schlug hinter sich die Tür in den Riegel.

Kurt zog seine sackleinene Hose aus und schrubbte sie ab. Seine Finger waren schon schrumpelig, als er mit der Kernseife seine Haut rot rieb. Erst als ihm kalt wurde, stieg er aus. Schwarzes Wasser blieb zurück. Selbst das harte Handtuch wurde vom Rubbeln noch schwarz.

Das Hemd und die Jacke musste Kurt umkrempeln. Dann steckte er alles in die grobe Drillichhose und band es mit einem Hanfseil zusammen. Die Hosenbeine stülpte er mehrfach um und die kratzigen Wollsocken rutschten beim Gehen.

Hans saß in der guten Stube auf dem roten Sofa, das rechte Bein auf einem Schemel von sich ausgestreckt. In der Ecke unter dem Fenster stand ein Gewehr und ein Fernglas lag auf der hinteren Fensterbank. Die Scheiben der Sprossenfenster waren von innen gefroren, und es roch nach glimmender Kohle. Kurt fröstelte, als er sich vor den Ofen setzte. Aus seinen Haaren stiegen friedlich kleine, nach Kernseife duftende Wolken in die Luft.

„Danke, Herr. Ich weiß nicht wohin mit dem Wasser und meinen Sachen.“

„Lass mal, ich schütte es gleich aus und die Kleidung hänge ich vors Feuer. Dann kannst du sie morgen wieder anziehen. Du brauchst aber nicht auf dem Boden sitzen. Komm her.“ Dabei klopfte Hans mit flacher Hand auf den freien Platz neben sich.

Kurt stockte kurz. Seine Knochen waren schwer, die Muskeln müde und mehr noch verlangte seine Kinderseele nach Geborgenheit und Schutz.

„Wie bist du hierher gekommen? Wo sind deine Eltern?“

Kurt schluckte. Er öffnete zweimal den Mund und schloss ihn zweimal wieder. Er blinzelte und starrte auf die Ofentür. Um sie herum schimmerte das lodernde Feuer durch feine Ritzen. Kurt zog seine Beine auf das Sofa und umschlang sie mit beiden Armen. Erst wurde sein Körper, dann seine Augen schwer. Last und Not zogen seine Lider nach unten und das Kinderherz schlug langsam ruhiger.

Hans lächelte. Er beobachtete, wie sich der kleine Brustkorb hob und senkte. Nach wenigen hektischen Atemzügen wurden sie tiefer und länger. Dann zuckte Kurt. Zuerst die Augenlider, dann ein Arm, ein Bein, dann beide Beine zugleich. Kurt murmelte undeutlich, nicht zusammenhängend, dann schrie er. Hans drückte sich schwer hoch und schlurfte zu seinem abgewetzten speckigen Ohrensessel. Er nahm die graue schwere Wolldecke, legte sie über das leidende Kinderfleisch, die ringende Seele und warf Holz in den Ofen. Danach ging er ins Nebenzimmer. Das Holz des Bettes ächzte unter seinem Gewicht. Hans musste sein rechtes Bein mit den Händen ins Bett heben. Er stöhnte auf. Dann keuchte er die Kerze aus. Im Nachbarzimmer brach Holz im Ofen. Die Wärme nahm auch Hans an die Hand und führte ihn in den Schlaf. Kaum drehte er sich, riss sein Beinschmerz ihn wieder aus der Schwere. Er lag mit offenen Augen da, lauschte auf Kurts Atmen und sein Gemurmel. Jeder tiefe Atemzug erinnerte ihn an seinen Sohn, an seinen Schmerz und an nicht heilende Wunden.

In dieser Nacht fand Hans noch weniger Schlaf als üblich. Er quälte sich auf den ledernen Sessel in der guten Stube und nahm drei große Schluck vom Selbstgebrannten. Dabei starrte er in die glimmende Glut hinter der offenstehenden Ofentür. Er nahm noch einen großen Schluck. Mit der Wärme in seinem Magen und der Wärme aus dem Ofen fand er den Schlaf, der ihm in der Kammer verwehrt geblieben war.

Hans drehte sich auf seinem Sessel. Das Leder klebte. Sein Gesicht schwitzte. Sein Rücken fror. Er blinzelte mühsam und brauchte einen Augenblick, um zu erinnern, wer auf seinem Sofa lag. Der Blick verschwommen. Das Bein schmerzend, der Rücken steif. Die Glut im Ofen lag im Sterben. Hinter ihm drang kalte Luft aus der Diele ins Zimmer. Hans schmatzte und schmeckte den Korn in seinem Atem und auf der Zunge. Er drehte sich halb auf die Seite und stützte sich benommen hoch. Kurt lag verdreht auf dem Sofa.

„Komm, steh auf Junge.“ Hans schüttelte Kurt an der Schulter. „Es ist schon hell.“ Kurt blinzelte und wischte sich einen Speichelfaden aus dem Mundwinkel. Dann schreckte er hoch. „Du hast lang genug geschlafen, komm in die Küche und iss was.“ Hans humpelte zum Dielentisch. Kurt schüttelte sich mehrmals und strich sich mit einer Hand durch die wirren Haare. Sein Blick wanderte zwischen Hans und dem Tisch hin und her.

„Morgen“, muffelte Kurt. Je klarer seine Augen wurden, desto höher stiegen seine Erinnerungen aus der Welt der Träume. Sein Körper war schwer und tat weh.

„Darf ich auf das Örtchen?“

„Ja, hinter dem Schuppen. Nimm einen Eimer Wasser mit. Kurt schlüpfte in die viel zu großen Schuhe und schlurfte am Schuppen vorbei. Er trampelte auf der Stelle, während er mit der Schwengelpumpe kämpfte. Mit einem halbvollen Eimer stürmte er den Holzverschlag.

Auf dem kleinen Küchentisch standen ein Glas warme Milch, eine jungfräuliche Haut bildete sich an der Oberfläche, ein Laib Brot, ein Ei, etwas Käse und Butter.

„Hast du Hunger?“

Kurt nickte.

„Dann nimm dir.“

Kurt nickte.

„Magst du mir heute deine Geschichte erzählen?“

Kurt nickte und schmatzte Worte mit vollem Mund. Die Sätze waren zu schwer für seinen kleinen Kopf. Kurt stützte ihn ab und dann polterten sie aus ihm heraus. Hans spielte mit seinen tellergroßen verhornten Händen.

„Ich mach dir einen Vorschlag Kurt. Ich weiß, dass du nicht bleiben möchtest.“

Tränen kullerten über Kurts Wangen. Seine Zunge fischte sie aus dem Mundwinkel. Er schaute kurz auf und schnäuzte sich die Nase.

„Ich kann mir denken, dass du zu deiner Familie möchtest. Es sind schwere Zeiten. Für uns alle. Ich muss sowieso nach Wismar. Dann kommst du mit und wir sehen uns auf dem Bahnhof um. Was hältst du davon?“

Hans wartete keine Antwort ab. Kinderaugen können Wärme und Glück erblühen lassen.

Nach dem Frühstück humpelte Hans mit Kurt die Moorbrücke hinauf. Sie gingen über den Markthof zum Kirchplatz und danach in einem Halbkreis am kleinen Friedhof vorbei. Viele Jahre lang lagen dort nur Kranke und Alte. Wenn Kinder dazugelegt werden, findet sich Not in jedermanns Herzen. Am Ende vom Friedhof gingen sie links an der Rückseite der Kirche entlang. Der schmale Kirchgang führte sie an der Schmiede und dann an zwei Dreiseitenhöfen vorbei. Bei dem vom Flisch stand das Scheunentor offen und der Mist dampfte. Der Zweite wirkte verlassen.

„Wir gehen zu Elisabeth, der Bäckerin. Sie hat einen Lastwagen. Sie wird uns mitnehmen.“

Vor der Bäckerei tuckerte der Hanomag schon stotternd vor sich hin.

„Warte du hier. Ich gehe kurz rein und sage, dass wir hier sind.“

Kurt sah durch das beschlagene Glas hindurch, wie beide heftig diskutierten. Hans hob seine Hand und zeigte durch das Fenster auf Kurt. Elisabeth schüttelte energisch ihren Kopf. Hans' Gesicht wurde rot. Er ruderte mit den Armen und schlug mit seiner rechten Faust in seine linke Hand. Resigniert zuckte Elisabeth mit ihren Schultern. Dabei schüttelte sie immer wieder ihren Kopf. Ihr rotes Haar leuchtete.

„Geh du hinten auf die Ladefläche“, sagte Hans. Kurt zitterte und drückte die schwere Plane nach oben. Es roch nach Mehl, Dung und Schweiß.

Jede Fehlzündung ließ Kurt zusammenzucken und drückte Abgase unter die Plane. Hinten auf der Ladefläche war es dunkel. Ein paar Säcke und Kisten lagen achtlos in der Ecke. Der Wagen hustete und polterte. In der Kurve, vom Kirchhof auf die Moorbrücke, rutschte Kurt aus. Er krallte sich am Aufbau der Ladefläche fest und drückte die Plane nach oben. Dunst versperrte seine Sicht. Es begann zu schneien. Der Hanomag rumpelte widerwillig nach links in einen Wald. Ein vorwitziger Ast schlug Kurt die Plane aus der Hand. Er wurde unruhig und drückte sie wieder nach oben. Dabei hockte er sich hin und legte die schwere Plane auf seiner Schulter ab. Er musste sich mit beiden Händen an der Lattung des Aufbaus festhalten. Bäume und Büsche schauten vorbei. Durch eine Lichtung hindurch erkannte er das Haus und den Schuppen von Hans. Ein weiterer Ast riss Kurt die Plane wieder von der Schulter und schlug ihm ins Gesicht. Kurt fiel auf die Pritsche. Der Hanomag ächzte und schlug schwer in seine Federn. Kurt drückte die Plane erneut hoch. Jetzt erkannte er Hans' Haus in der Ferne, hinter einem kleinen Hügel. Dazwischen lag das Moor, lag der Thorsberg.

Nur noch im Schritttempo quälte sich der Wagen über Wurzeln und Löcher. Dann blieb er stehen. Die Fahrertür schlug zu.

„Du bleibst hier“, rief Hans auf die Pritsche, „wir sind gleich zurück.“

Kurt zog sich auf eine Kiste und starrte ins Halbdunkel. Es knackte im Unterholz. Aufgeregte Stimmen flüsterten. Die Plane wurde nach oben gestoßen. Im ersten Augenblick konnte Kurt nichts erkennen, dann nur Umrisse. Zwei Kinder wurden in den Wagen gehoben. Sie trugen die Farben von Erde und Wald und ihre Haare standen ab, wie geile Äste. Ein Mann schob eine alte Frau hinein, dann eine junge, bevor er selbst auf die Pritsche kletterte. Elisabeth nickte Kurt zu. Wieder sperrte die Plane das spärliche Licht aus.

Rückwärts ächzte sich der Hanomag aus dem Wald. Es roch nach Öl und abgebrochenen Tannenzweigen. Die beiden Jungen umklammerten die Beine ihrer Eltern und warfen sich unsichere Blicke zu. Die junge Frau legte ihren Arm um die schmalen Schultern der alten. Dabei verrutsche ihr Kopftuch ein wenig. Jeder musterte den Anderen auf seine Art. Misstrauisch, ängstlich, abwartend. Dann lächelte der Mann: „Hab keine Angst.“ Kurts Herz schlug bis zum Hals. Sein Magen zog sich zusammen. Er schmeckte Galle, Käse und Leberwurst. Die Augen der Familie, die Kleidung, der Geruch nach wochenaltem Dreck, erinnerte ihn an den Viehwagen, an den Leiterwagen, an die Flucht. Erinnerte ihn an seine Mutter, an seine Geschwister.

„Wer bist du?“ fragte der ältere Junge. Er spielte mit einem Stock im Staub der Pritsche.

„Ich bin Kurt.“

„Ich bin Issac.“

„Sei still!“ zischte der Vater.

Kurt erinnerte sich an den Hof, an seine Schule, an die Kinder. Die Eltern und Großeltern tuschelten viel in dieser Zeit. An manchen Häusern war ein Stern zu sehen. Überall hörte er, er solle nicht fragen und es sei eine schlimme Zeit. Sehr viel Unheil und Unrecht würde über alle Menschen gebracht. Kurt hatte es nicht verstanden.

„Aber es sind doch unsere Freunde“, sagte er einmal.

„Ja, das sind sie“, antwortete seine Oma. „Nur muss man aufpassen, was man sagt. Es ist eine sehr, sehr schwere Zeit. Für alle Menschen, auch für uns Deutsche. Wenn der Teufel sein Gesicht zeigt, findet er überall rechtschaffende Menschen, die vor ihm auf die Knie fallen oder den Arm für ihn heben.“ Sie sagte weiter: „Wir haben Schuld auf uns geladen. Eine, die wir vor dem Jüngsten Gericht nicht erklären werden können.“

Eigentlich ging Kurts Leben ruhig weiter, damals in seinem kleinen Dorf. Doch hörte er seine Mutter oft sagen: “Wir sind ein geknechtetes Volk, das all die Last Gottes zu tragen hat und die Angst der Kirche aushalten muss.“ Kurt hatte es nicht verstanden. „Jeder Mensch, der schwach ist, braucht einen Schuldigen für sein eigenes Versagen“, sagte Mutter, „Angst und Schuld machen Wut. Der Mensch braucht Opfer, um sich besser zu fühlen.“

Issac schien Kurts Gedanken zu erraten. „Ich habe auch Angst“, sagte er. Dann rumpelte der Hanomag rechts auf die Straße, fuhr wieder am Haus von Hans vorbei, die Moorbrücke runter über den Kirchhof. Der Motor protestierte lautstark beim Beschleunigen. Kurt wusste nicht, was er machen oder sagen sollte und schämte sich dafür. Aus Verlegenheit lugte er unter der Plane durch. Schneeflocken tanzten um den Wagen. Mutige ließen sich auf seinem Haar nieder. Häuser kamen näher und wuchsen dichter. Der Hanomag bremste. Die Menschen auf der Pritsche fielen übereinander. Dann klappte eine Tür, die Plane wurde hochgerissen. Bevor Kurt klar sehen konnte, zischelte Elisabeth: „Schnell, schnell!“ Der Mann sprang runter, half seinen Jungs und den beiden Frauen. Die Plane schlug zurück. Kurt sah gerade noch, wie sich die Familie in einen Flüchtlingsstrom einreihte. Ihre Köpfe hatten sie tief zwischen ihre Schultern gezogen. Nach wenigen Metern waren sie vom Elend der Anderen nicht mehr zu unterscheiden. Es war die Zeit, in der sie nicht gesehen wurden, jede Not für sich war.

Hans hob Kurt von der Ladefläche. Er spürte seine schwere Hand auf seiner Schulter. „Du warst tapfer! Das hast du gut gemacht!“

Ihre Blicke folgten dem graubraunen Wurm aus verwundeten Seelen und Körpern. Selbst ihr Geruch trug die Farbe der Flucht.

„Komm, wir schauen nach, ob wir deine Familie finden“, sagte Hans.

Er besprach sich kurz mit Elisabeth, die auf der Suche nach Salz war, und bat sie am Rathaus und im Lazarettzelt nach Kurts Familie zu fragen.

„Wir zwei gehen zum Bahnhof“, sagte Hans zu Kurt und schob ihn an der Schulter sanft nach vorn.

Kurt erkannte die Mauer. Sie qualmte noch, Rauch stieg auf. Kein Blick folgte ihm in den Himmel. Die Gleise lagen wie Reisig auf dem zerbombten Bett. Glimmende Waggons, ein schwelender Zug auf einem anderen Gleis.

„Siehst du! Nun müssen wir sie nur noch finden.“ Hans gab sich optimistisch. „Wir können auch eine Nachricht hinterlassen.“

Kurt sank auf einen Mauerrest. Die zerborstenen Steine kratzten. Er malte mit den Füßen Striche und Linien in den aschigen Schnee. „Was ist, wenn wir sie nicht finden? Ich weiß doch nicht, wohin der Zug gefahren ist!“

„Da fragen wir doch nach.“ Hans schaute sich um. Schlangen aus gebrochenen Menschen. Haufen vergangenen Lebens. Gruppen, die alles über sich ergehen lassen würden. Unfähig den eigenen Willen zu äußern. Ein Golem aus Haut und Knochen, vereint in einer einzigen Bewegung.

„Bleib du hier! Ich geh zu den Arbeitern dahinten.“ Kurt schaute Hans hinterher. Mit dem Geruch von Ruß kroch Einsamkeit in seine Seele. Die Arbeiter schüttelten den Kopf und wiesen auf die Gruppe Soldaten, vor den Resten des Wärterhäuschens. Aber auch die schüttelten ihre Köpfen. Rudel von Soldaten erreichten den zerstörten Bahnhof. Lastwagen mit Verletzten. Nichts war erniedrigender, als mit ansehen zu müssen, wie der Stolz einer einstigen Nation dreckig, zerlumpt, verletzt und gebrochen in den Schoß der Heimat kroch.

Auf dem einzig verbliebenen Gleis ächzte eine Lok im Metall. Die Räder fanden keinen Halt und schlugen Funken. Dann standen sie. Der Lok folgten offene und geschlossene Waggons. Der Lokführer schaute müde nach unten. Kohle, Staub und Angst hatten während der unausweichlichen Route tiefe Furchen um seinen Mund gegraben. Er rief dem Heizer noch etwas zu und sprang auf das Gleisbett. Hans humpelte, so schnell er konnte, zu ihm hin. Der Lokführer nickte und blickte zu Kurt, hob die Hand und zeigte nach Westen, nach Westen und weiter nach Westen. Kurt sprintete Hans entgegen. „Was hat er gesagt?“ rief er schon von Weitem und stolperte über lose Steine.

„Komm setz dich. Das war aber Glück!“

„Erzähl schon Herr, erzähl schon.“

„Das war der Lokführer, der den Zug gefahren hatte, als es hier Bomben regnete. Er konnte sich genau erinnern.“

„Dann leben sie noch? Lebt meine Mutter noch?“

„Ich denke schon.“

„Wo, wo sind sie? Wo?“

„Naja, der Zug fuhr nach Lübeck.“

„Und da?“ Kurt hüpfte auf und ab.

„Von dort weiß er nicht weiter. Er hat die Waggons abgekoppelt und neue bekommen. Er hat nicht gewartet; er ist gleich zurückgekommen. Zwischendurch musste er warten, als unklar war, ob Wismar noch steht.“

„Dann muss ich nach Lübeck!“ Kurt schrie und rannte zum Lokführer. Der schüttelte den Kopf. Kurt riss am Ärmel seiner verrusten Jacke, doch der Lokführer schüttelte ihn ab und brüllte auf ihn ein.

Quietschende Ketten durchbrachen die zehrende Stille. Menschenwracks hoben nicht einmal mehr ihren Köpfe. Hans sprang auf. Der Lokführer zeigte in die Richtung der Geräusche. Das Quietschen wurde lauter. Ein Motor brüllte auf. Eisen zermalmte Stein. Ketten auf Beton. Ein Panzerspähwagen bog um einen Mauerrest, durchbrach die Reste der Bahnhofshalle und blieb mit schwarzspeiendem Auspuff wippend stehen. Dahinter hielten ein Kübelwagen mit Offizieren und zwei Mannschaftswagen. Bewaffnete Männer sprangen von den Maultieren, wie der Wagen von Opel genannt wurde. Es wurden Befehle gebrüllt. Der Lokführer zeigte auf die Soldaten und Offiziere im Kübelwagen. Ein Soldat rannte, auf die Maultiere zeigend, zum Lokführer. Ordentlich gekleidete Soldaten und ein ebenso sauberer Offizier stießen dazu. Hans konnte Kurt kaum folgen, als der zu den Offizieren lief. „Königsberg ...“, hörte Hans. „Königsberger Schloss ...“ Hans stolperte. „Auftrag vom Führer ...“ Wie vom Schlag getroffen blieb Hans stehen. Soldaten verzurrten die Planen auf den Kisten fester und rückten sie gerade. Dabei verkantete sich eine, rutschte von der Ladefläche und schlug auf einen Mauervorsprung. Die Seitenverkleidung löste sich. „Bernstein ...", dachte Hans noch, dann drehte sich alles um ihn herum. Hauptmann von Harenburg trug einen Vollbart, doch Hans erkannte ihn sofort. Harenburg drehte seinen Kopf. Hans duckte sich. Harenburg brüllte Befehle und zog sich seinen Pelzmantel fester über seine Schultern. Eine Decke wurde über die offene Kiste geworfen. Dann drehte er sich wieder zum Lokführer. Geduckt humpelte Hans hinter einen Mauervorsprung. Er atmete tief, er atmete schnell. Schweiß durchtränkte seine Filzjacke. Er rutschte an der Mauer runter. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Hauptmann von Harenburg Kurt auf den Boden stieß und in seine Richtung schaute. Dabei machte er zwei Schritte auf Hans zu, doch sein Adjutant und der Lokführer lenkten ihn ab. Hans setzte sich so, dass Kurt ihn sehen konnte, aber der Hauptmann nicht. Hans wrang seine zitternden Hände ineinander.

Kurt hatte aufgeschrammte Knie und war außer Atem.

„Herr, du musst mit ihnen reden. Rede mit ihnen.“ Dann unterbrach er sich selbst, wischte sich Tränen aus den Augen: „Bitte Herr, bitte ...“

„Kurt, es ist gefährlich. Das sind böse Männer.“

„Das ist mir egal, die müssen mich mitnehmen!“

„Und wenn sie nicht nach Lübeck fahren?“

„Doch, doch, das tun sie. Ich habe es gehört. Sie sind auf der Flucht, die Russen kommen.“

Der jämmerliche Haufen Soldaten wuchs an. Es kamen immer mehr; einige schauten ängstlich auf die saubere, unverletzte Gruppe, die um die beladenen Wagen stand. Dann senkten sie die Köpfe und schlichen weiter. Wenn sie nicht sehen konnten, wurden sie auch nicht gesehen. Niemand schaute auf. Sie verdrängten den Soldaten in sich, das kümmerliche Leben, und gierten allein nach dem nächsten Pulsschlag.

Jeder Zivilist wurde von Uniformierten zurückgeschoben. Der, der nicht gehen wollte, wurde geschlagen und getreten. Sie stahlen Brot, Decken und Zigaretten. Nur noch das Leben blieb den Menschen, und manchmal nahmen sie auch das.

In den zahllosen Gesichtern, in dem Wurm aus Mänteln und Not, erkannte Kurt Issac. Dann verschwand er wieder. Es war die Zeit, da sie nicht gesehen wurden.

Lastwagen spukten weitere Soldaten aus. Die, die zu Fuß kamen, fielen hin, wo sie gerade lebten.

Kurt lief erneut zu den Offizieren und bekam mitten im Lauf eine Ohrfeige. Er schrie und kreischte und weinte. Die Offiziere drehten sich um, setzten sich in einen der Kübelwagen und fuhren zum einzig verbliebenen Gleis. Zwei sprangen in den hintersten Waggon und winkten den Soldaten mit den Kisten. Hans kam hinter seinem Mauervorsprung vor und humpelte so schnell er konnte.

„Komm Kurt, schnell! Wir müssen zurück. Viel zu gefährlich hier!“

„Nein!“ schrie Kurt.

„Nein!“ heulte Kurt.

„Nein.“ jammerte er.

„Wir finden einen Weg, aber jetzt müssen wir hier weg.“ Hans zerrte Kurt zwischen den verbogenen Gleisen zurück zum Hanomag. Elisabeth diskutierte mit einigen Soldaten.

„Gut, dass ihr kommt. Wir müssen sofort weg! Die wollen den Laster!“

Hans hob Kurt auf die Ladefläche und zog sich mühselig auf die Pritsche. Soldaten riefen ihnen hinterher. Befehle wurden gebrüllt.

Der stotternde Motor des Hanomag ließ alle aufatmen und als die verwundeten Häuser zurückblieben, setzte Kurt sich auf. Hans schlug gegen die Ladeklappe.

„Alles in Ordnung bei dir?“ rief er von hinten.

„Ja, aber das war knapp. Wie geht es dem Jungen?“ Elisabeth hatte Angst.

Kurt saß mit angezogenen Beinen auf der Ladefläche und wippte hin und her.

„Er wird schon wieder. Wir müssen erst mal nach Hause.“

„Werden wir verfolgt?“ Der Hanomag hatte keine Spiegel.

„Nein, alles frei.“

Hans schaute dem Licht des Hanomags hinterher, bis es in der Kurve zum Kirchhof hinter der Friedhofsmauer verschwand. Erst jetzt humpelte Hans in sein Haus. In der Küche warf er Holzscheite in die Glut der Küchenhexe und stellte einen Topf mit Milch auf die gusseisernen Ringe.

„Komm, ich mach dir warme Milch, das wird dir gut tun.“

Kurt blieb im Türrahmen stehen und stampfte mit den Füßen auf. „Du willst nicht, dass ich nach Hause komme; ich laufe zur Polizei!“

„Kurt, das stimmt nicht. Natürlich helfe ich dir. Wir müssen aber vorsichtig sein. Es ist gefährlich!“

„Ich habe keine Angst!“ Kurt lief in der Diele auf und ab.

„Das weiß ich. Schau, wir wissen doch, dass sie es bis Lübeck geschafft haben.“

Doch auch in Lübeck fielen Bomben. In diesen Stunden wurden Leben, Familien und Träume ausgelöscht. Sie könnten überall sein und niemand könnte sie finden. Es gab Flüsse aus menschlichen Leibern, die kamen und gingen und niemand nahm Notiz von ihnen.

„Trink erst mal deine Milch. Dann werden wir überlegen, wie es weitergeht.“

„Wer war das heute?“ Kurt stützte seine Arme auf die Tischplatte und stierte Hans unverhohlen an.

„Das waren Freunde, Leute aus Krähenstein.“

„Warum waren sie im Wald, im Moor versteckt?“

Hans musterte Kurt. „Im Thorsberg?“ Die Milch kochte über.

Hans fluchte leise, hob die Kasserolle vom Herdring und stellte sie zur Seite. Dann nahm er einen Spachtel und kratze damit über die Ringe. Erst dann füllte Hans die Becher mit Milch. Der Geruch von verbrannter Milch biss in ihren Nasen. Den Topf mit den angebrannten Resten füllte er mit Wasser auf und stellte ihn zurück auf die Herdstelle.

„Sag schon, warum waren die im Wald?“

„Weißt du noch, warum deine Eltern geflohen sind? Was hast du mir erzählt?“

„Weil die Russen kamen. Und die Russen sind keine lieben Menschen.“

„Ja, und deshalb seid ihr geflohen.“

„Ja, das sagte Oma.“

„Auch bei uns gibt es schlechte, ganz schlechte Menschen, Kurt.“

„So wie die Russen?“

„Ja, so wie die Russen, vielleicht sogar noch schlimmer.“

„Und die haben sich in dem Wald vor den bösen Menschen versteckt?“

„Ja, und wir haben ihnen geholfen, damit sie ihnen nicht in die Hände fallen.“

„Wer sind diese bösen Menschen?“

„Das sind wir.“ Hans flüsterte: „Das sind wir, mein Junge!“

„Aber wir sind die Guten!“ Wie ein Donnerschlag hallte Hauptmann von Harenburgs Stimme durch die Diele. Lederstiefel schlugen hart auf den Boden.

Hans erkannte die Stimme sofort und fuhr herum.

„Kannst du noch immer nicht Gut von Böse unterscheiden, Hans?“ Harenburg stand breitbeinig in der Tür.

Hans schaute in den matten Lauf der Walther. „Da habe ich doch richtig gesehen! Und wie ich jetzt sehe, hast du wieder einen Jungen hier. Ist dir ein toter Junge nicht genug? Willst du dich auch von dem hier beschützen lassen?“ Der Hauptmann drehte sich zu Kurt. „Das waren Judenratten mein Junge. Unwertes Leben, faules Fleisch, wie der hier!“ Dabei ruckte der Lauf der Walther immer wieder in Hans' Richtung. „Sagte ich dir nicht, ich komme wieder, Judenfreund?! Wir haben noch eine Rechnung offen.“ Hans stand mit dem Rücken zum Herd. Durch das Küchenfenster sah er die mit Kisten beladenen Lastwagen auf dem Hof stehen. Die Hille-Brüder, Christian und Paul, schlichen sich von hinten an den letzten Lastwagen ran. Hans sah gerade noch Karl Flisch mit seinem Melkmeister, dem Warncke Friedhelm, weiter vorne wild fuchteln. Rötliches Haar wehte hinter Harenburg vorbei. Dann erklang das Spannen des Abzugs der Walther. Das einzige Geräusch jetzt.

In dieser Nacht seufzte der Thorsberg bis in den frühen Morgen hinein.


Glutwächter

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