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Peter

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Peter öffnete das doppelflügige Tor. Zwei Jahrhunderte hing es schon in den schweren Scharnieren. Harald Hille, der Schmied, stand mit dem Rücken zu ihnen und zwang im Takt seines Hammers ein Hufeisen in seine Form. Peter spürte die Hitze der Esse an seiner Wange. Er hörte die metallenen Schläge und die Rufe von Meister Hille. Zwei kurze Schläge. Metall auf Metall. Eine längere Pause, zwei kurze Schläge auf Metall, Funken flohen vom Amboss, dann eine längere Pause. So klang es tagein tagaus. Kurt schob seinen Sohn weiter in die Schmiede. Sie waren regelmäßig bei Harald.

Die Hilles lebten seit jeher in Krähenstein. Harald lernte das Schmiedewerk von seinem Vater Christian und dessen Bruder Paul. Wie diese es von ihrem Vater gelernt hatten. Paul und Christian starben bei einem Unfall in der Schmiede, als Harald gerade Geselle geworden war. Die Schmiede hatte selbst in schlechten Zeiten genügend Kohle, Holz und Eisen. Während viele Betriebe zu Kombinaten oder zum volkseigenen Betrieb zusammengelegt wurden, blieb Harald Hille stets sein eigener Herr.

„Schmiede waren immer frei und werden es immer sein“, tonierte Harald jedes Mal stolz.

„Hallo!“ rief Kurt. Peter stand vor seinem Vater und schaute sich in der Schmiede um.

„Hallo!“ Harald stieß das Hufeisen in einen Bottich mit Ölwasser. Es zischte und dampfte; das Wasser wehrte sich gegen die Hitze. Harald ignorierte das und stocherte weiter im Bottich herum. Dann drehte er sich um. Seine Stimme dumpf, das Gesicht schwarz. Die wenigen Haare fielen in langen nassen Strähnen auf seinen Stiernacken. „Kurt, du warst lange nicht hier. Was kann ich für dich tun?“

„Ich brauche zwei oder drei Maueranker für das Haus. Hans wollte selbst kommen, aber du weißt ja, er kann sich kaum mehr bewegen.“

„Wann brauchst du sie und wie groß sollen sie sein?“

„Das schau dir lieber selbst an und rede mit Hans. Der hat ja immer so seine ureigenen Vorstellungen.“

Harald lachte: „Stimmt. Sag, wann soll ich kommen?“ Peter ging mit kleinen Schritten durch die Schmiede. „Kann ich dir helfen Peter, suchst du was Bestimmtes?“

„Nein, nein, Herr Hille, das ist alles nur so interessant.“

„Also“, Kurt schüttelte seinen Kopf, „komm heute Nachmittag oder am Abend vorbei.“

„Gern, grüß Hans von mir.“ Harald nahm sich ein altes Hufeisen und schob es in die weißglühende Esse. Den Blasebalg bediente er mit der linken Hand und das Eisen drehte er mit der rechten stochernd in der glühenden Kohle hin und her.

Am Abend saßen alle in der Diele um den groben Holztisch. Hans' Beinprothese stand an der Wand. Kurt und Peter stellten Schüsseln mit Kartoffeln und Kraut auf den Tisch. Auf den Tellern lagen Bratwürste. Der Steinguttopf mit Senf stand in der Mitte und verströmte würzig süßen Duft. Am Rand klebte angetrockneter Senf.

„Hier seid ihr!“ Der Schmied stand vor der oben geöffneten Klöntür und klopfte an den Türrahmen.

Hans drehte sich soweit um, wie er konnte. „Komm rein, Kleiner!“ Dabei war der Schmied genauso breit wie hoch, und er maß gute zwei Meter. „Iss was mit, wir haben genug. Peter, hol noch einen Teller.“

„Das ist nett! Mach' ich gern, ich habe heute nichts gehabt, bin gleich zu euch gekommen.“

„Dann setz dich.“ Kurt holte einen Stuhl aus der Küche und schob ihn an den Tisch, während Peter einen abgeplatzten Teller und Besteck darauf legte. Kurt kam mit der gusseisernen Pfanne. Der Duft frisch bruzelnder Bratwürste stieg allen in die Nase.

„Na dann los“, schmatzte Hans, der den ersten Bissen immer schon im Mund hatte, bevor alle anderen soweit waren.

Harald Hille schnaubte gierig, dann herrschte gefräßiges Schweigen.

„Hans, wo sollen die Maueranker hin?“ nuschelte Harald mit vollem Mund.

„Hinten, bei den Rosenstöcken an die Ecke.“ Hans deutete mit dem Messer in die Richtung. „Sag mal, hast du das vom Pieper gehört?“

„Du Hans, ich höre so viel. Was denn genau?“

„Die wollen rübermachen!“

„Ja, echt?“ Harald legte seine Gabel auf den Teller.

„Echt, wie denn?“ Peter streckte sich kaum merklich.

„Die haben ein Schlauchboot und eine Taucherausrüstung. Weiß der Himmel, wo die das herhaben.“

„Tatsächlich?“

„Ja, heute Abend soll es losgehen. Die wollen erst mit dem Boot in den Grünen Grund und dann, wenn die Grenzer kommen, tauchen.“

„Dann müssen sie ja lange tauchen.“

„Nein“, unterbrach Hans den Schmied. Auf der anderen Seite der Grenze wartet wohl ein Wessi mit seinem Boot.“

„Was sagtest du, wann wollen sie los?“ Der Schmied wischte sich mit einem karierten Geschirrtuch die Mundwinkel ab.

„Heute, irgendwann in der Nacht. Ich wünsche ihnen viel Glück.“

„Ja, das wünsche ich ihnen auch“, sagte der Schmied und knarrzte den Stuhl vom Tisch.

„Wo treffen die sich denn?“ Peter fischte sich noch eine fettige Wurst aus der Pfanne.

„In Bornstein, wo die Fischer ihre Kutter haben. Warum fragst du?“

„Nur so.“

„Nun gut“, Harald wuchtete seinen muskulösen Körper hoch. „Ich muss los. Ich schau mir eben noch die Ecke an.“

„Du willst schon gehen?“ Hans hielt eine Steingutflasche mit Selbstgerbranntem hoch.

„Ein anderes Mal gern, Hans, aber ich muss in die Schmiede. Ich komme morgen wieder. Dann sage ich dir, was wir mit der Ecke machen können.“

Harald Hille ging um die Ecke. Es raschelte an der Rosenhecke. Dann kam er an der Tür vorbei und hob die Hand.

„Ich möchte noch in den Dorfkrug.“ Peter wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Seine Gabel kräuselte Kraut und fegte Senf und Fett zusammen.

„Was willst du denn da?“

„Lass doch die Jugend, Kurt!“ Dabei zwinkerte Hans Peter zu. „Die haben auch ihre Geheimnisse.“

„Danke Opa!“ Peter rannte aus dem Haus.

„Grüß Elisabeth“, rief Hans noch hinterher.

Die untergehende Sonne trug blasse Kälte auf ihrem Rücken. Zuerst kroch sie durch die Luft, dann machte sie es sich auf dem Sand gemütlich. Später krabbelte sie durch Peters Hosen. Dabei hatte er sich zwei Hosen, zwei Pullis und eine dicke Jacke angezogen. Doch es schien nicht genug zu sein. Er fror trotzdem von innen heraus. Dabei dachte er an seinen Vater, dachte an Elisabeth, die ihm eine Oma, fast eine Mutter war. Seine leibliche Mutter war eines Tages von der Stasi geholt worden. Niemand sagte, wo sie war. Niemand sagte, was passiert war. Niemand sagte auch nur irgendetwas. Peter wusste, dass sie in den Westen wollte. Er wusste auch, dass Kurt damals nicht mitwollte. Er wollte bei Hans bleiben, obwohl der nicht sein leiblicher Vater war. Auch das war für Peter ein Rätsel. Mit dem Verschwinden seiner Mutter war auch ein Stasioffizier verschwunden. Man munkelte, dass sie zusammen geflohen seien. Aber je häufiger sie bei den Offiziellen nachfragten, desto weniger Antworten bekamen sie. Kurt wurde häufig verhört. Auch hatte er ein paar Tage in Berlin bleiben müssen, zur Vernehmung.

Peter lag hinter der seeseitigen Mole im feuchten Sand und beobachtete den Fischereianleger. Der mitgenommene Tee war längst getrunken. Seine Zähne klapperten. Langsam zweifelte er an der Geschichte vom Pieper. Peter schaute auf seine Uhr. Der Minutenzeiger schwieg. Der Stundenzeiger stand irgendwo zwischen Mitternacht und ein Uhr. Peter kniete sich hin. Es wurde Zeit, den etwa fünf Kilometer langen Heimweg anzutreten. Er musste vorm Morgengrauen im Bett liegen und hoffte, dass niemand etwas mitbekommen hatte.

Mitten in der Bewegung hielt er inne und legte seinen Kopf schief. Das Kratzen auf dem Sand blieb. Peter wagte kaum zu atmen. Er hatte sich zwischen die Steine der Mole gelegt und war kaum zu erkennen gewesen. Stimmen flüsterten. Dann rannte jemand vom Strand weg. Peter drehte sich langsam um. Er hatte sie nicht kommen sehen, aber sie waren da. Zwei Schatten standen vor einem Schlauchboot. Ein Paar Paddel ragte in den Himmel. Auf dem Schlauchboot stapelten sich Klamotten. Ein Dritter kam und schleppte Sauerstoffflaschen. Die Drei begannen sich auszuziehen und streiften sich die dicken Gummianzüge über. Einer fluchte leise.

Peter wartete noch einen Augenblick und sprang dann auf. Er sah den Schlag nicht kommen, spürte ihn aber scharf im Nacken. Er ruderte mit den Armen, und bevor ein Schrei über seine Lippen kommen konnte, legte sich eine Hand darüber und er wurde er zu Boden gedrückt.

Am Strand flammten Scheinwerfer auf. Es wurde taghell. Hinter den Scheinwerfern blieb es dunkel. Befehle wurden gebrüllt. Die drei Schatten am Schlauchboot schrien durcheinander. Zwei rissen das Boot ins Wasser, einer stand wie im Sand versunken da. Dann peitschte ein Schuss. Der Hintere riss beide Arme hoch, taumelte und blieb stehen. Der Vordere spritze mit seinen Schritten Wasser auf. Das Schlauchboot spielte mit den seichten Wellen und die Wellen mit dem Mondlicht. Der Getroffene drehte sich um und torkelte zurück an den Strand. Sein Schrei klang eher überrascht als nach Schmerz. Erst jetzt fiel er auf die Knie, dann kippte er auf sein Gesicht. Das Schlauchboot dümpelte auf und ab. Der Mond trug den Schatten der Sonne. Unter dem Getroffenen wurde der Sand dunkel und glänzte schwach im Licht der Scheinwerfer. Hinter den Scheinwerfern wurde es unruhig, Gestalten lösten sich aus ihren Schatten.

Nicht nur die Hand vor Peters Mund hinderte ihn am Atmen. Der Körper über ihm lastete schwer auf seinem Rücken. Ein paar Soldaten, Volkspolizisten und zwei Männer in Zivil traten in den Lichtkegel. Der Ostwind trieb Befehle über den Sand zur Mole. Peter kämpfte mit dem Körper über sich und gegen die Hand, die ihm den Mund zuhielt. Noch konnte er die Gesichter der Männer in Zivil nicht erkennen.

„Ich lass los“, flüsterte der Körper in sein Ohr, „und ich nehm die Hand weg. Aber beweg dich nicht! Sei ganz still.“

Peter lag ruhig da.

„Sei ganz still, sonst werden wir verhaftet oder sind tot!“

Peter lag ruhig da.

„Hast du mich verstanden?“

Peter lag ruhig unter dem Körper. „Hast du mich verstanden, soll ich dich loslassen?“

Peter nickte. Langsam verschwand der Druck von seinem Körper, dann die Hand von seinem Mund. Der Mann über ihm drehte sich auf den Rücken und keuchte leise. Peter erkannte einen der Männer in Zivil. Er wollte etwas sagen, doch der Mann im Sand neben ihm hielt den Zeigerfinger vor seine gespitzten Lippen und zeigte stumm auf das Geschehen.

Der Getroffene wurde auf die Ladefläche eines Truppentransporters geworfen. Zwei Soldaten gossen eimerweise Wasser über die Blutlache und schaufelten Sand auf die Stellen. Der Strand trug Trauer. Die beiden Piepers bekamen Schlagstockhiebe in die Mägen und auf die Hinterköpfe, fielen zu Boden, wurden über den Sand geschleift und zum Toten auf den Transporter geworfen. Das Schlauchboot verschwand mit der restlichen Ausrüstung auf dem hinteren Wagen. Sie arbeiteten schnell und leise. Drei Soldaten gingen mit riesigen Reisigbesen rückwärts über den Schauplatz und fegten die letzen Spuren aus dem Sand. Sie arbeiteten gründlich. Die Scheinwerfer erloschen. Zweitakter und Lkw-Motoren sprangen an. Die ersten Meter fuhren sie noch ohne, dann mit Licht. Peter blieb auf dem Bauch liegen. Er spürte die Kälte erneut in sich aufsteigen. Er zitterte. Der Mann neben ihm kniete sich auf und seufzte. Beide atmeten schwer.

„Hallo!“ Er reichte Peter seine Hand. „Mein Name ist Siegfried“, sagte er mit Berliner Akzent. „Tut mir leid, dass ich so grob war.“

„Peter!“ Peter drückte sich auch auf seine Knie. „Was war denn das?“

„Na, das war ein Beispiel dafür, wie von Russland versklavte Deutsche, die Meuchelmörder Russlands, mit uns umgehen! Du hast Glück gehabt, Peter.“

Das Zittern erfasste Peters ganzen Körper.

„Danke“, stotterte er leise.

„Ist gut. Wir Deutschen müssen zusammenhalten.“

„Aber ...“

„Wir werden unterdrückt und gedemütigt. Das hat kein Deutscher verdient. Woher kommst du, Peter?“

„Aus Krähenstein.“

„Das ist ja gleich um die Ecke. Soll ich dich hinfahren?“

Peter zögerte einen Augenblick. „Ja, danke, ist nett von dir.“

„Was hast du hier gemacht?“ Siegfried half Peter auf die Beine.

„Na, ich wollte rübermachen!“

„Nein, nicht doch. Wir müssen hier kämpfen! Jeder der rübermacht, schwächt uns. Woher hast du gewusst, dass die hier abhauen wollten?“

„Ich habe es gehört.“

„Wer hat es dir erzählt?“

„Von ...“ Peter stutzte. „Weiß nicht mehr. Irgendwo auf der Straße. Ich dachte, wenn das wirklich stimmt, ist das eine Möglichkeit für mich.“

„Wir können nichts ändern, wenn wir rübermachen. Wir müssen hier etwas ändern. Wir sind Deutsche! Wir dürfen uns das nicht gefallen lassen. Hörst du?“

„Ich weiß nicht, was du damit meinst.“

„Wir dürfen uns nicht von den Russen und ihren Sklaven rumkommandieren lassen. Wir müssen aufstehen und uns Deutschland zurückholen.“ Siegfried half Peter von der Mole. „Wenn du willst, kannste mich ja mal besuchen. Wir haben immer Platz für einen jungen Deutschen.“

„Ja, mal sehn. Kannst mir ja deine Adresse geben.“

Siegfried trug eine Westjeans und echte Lederboots. Von seinem alten Bundeswehrparka war die Deutschlandfahne abgetrennt.

„Ich bin öfter in der Gegend. Wir machen einen Club auf, hier ganz in der Nähe!“

„Und was hast du hier gemacht?“

Sie stapften durch den Sand. Peter hielt seinen Kopf gesenkt.

„Ich habe Kameraden besucht. Als ich zurück nach Hause wollte, habe ich die Lastwagen gesehen, und wollte sehen was die machen. Dann kamen die armen Säue auch schon. Dich habe ich zwischen den Steinen kauern sehen.“

„Ich ... Ich ... Danke ...“ Peter schaute auf.

Als sie über den Deich waren, sahen sie den dunklen Moskwitsch im Schatten der Bäume. Im gleichen Moment gingen seine Scheinwerfer an. Der Wagen rollte an.

„Verdammt“, fluchte Siegfried. „Das ist eine Falle! Lauf!“ Er drehte sich um und sprang durch eine Rosenecke. Sein Parka riss auf und er verfing sich. Siegfried lief weiter, der Parka blieb zurück. Peter starrte in das aufgerissene Futter, dann rannte auch er.

„Stehenbleiben! Oder ich schieße! Hände hoch und auf die Knie!“ Peter erkannte die Stimme. Peter ließ sich auf seine Knie fallen. Feiner Kiesel bohrte sich durch seine Hose. Er spürte warmes Blut an seinen Knien. Harald Hille kam näher. Im Lichtkegel des Wagens glänzte schwarzer Waffenstahl.

„Peter!“ Harald war erstaunt. „Was machst du denn hier?“ Er stolperte, schrie auf und sackte vor Peters Augen zusammen. Ein faustgroßer Stein fiel Peter vor die Füße und aus der linken Schläfe des Schmieds sickerte Blut.

„Lauf“, brüllte Siegfried. Zwei Schüsse zerrissen die windstille Nacht. Peter hetzte durch Büsche hindurch in den Wald. Lief so schnell er konnte. Angespannt, gefasst auf einen weiteren Schrei, auf Licht, auf noch einen Schuss, doch nichts geschah. Er sah, dass Siegfried eine andere Richtung einschlug. Peter wollte nur noch nach Hause.

Seine Lungen brannten und er keuchte, als er durch die Klöntür stürzte. Seine Kleidung klebte an seiner Haut. Ostseesand kratzte in seinem Schritt. Peter wunderte sich, dass das Haus um diese Uhrzeit hell erleuchtet war, war aber erleichtert, zu Hause zu sein. Er wollte einfach in die Wärme. Er wollte ins Bett, sich verstecken. Er wollte diese Nacht vergessen und so tun, als ob nichts gewesen war. Doch es gibt Ereignisse im Leben die unvergessen bleiben und einen immer begleiten werden. Die sich so in der Erinnerung festbrennen, dass sie die unbewusste Grundlage jeglichen Handelns werden.

Peter hoffte, dass alle schlafen würden. Viel zu laut stürzte er in die Diele. Hans saß im Sessel, den Kopf nach links gelehnt, sein Holzbein stand an der Wand. Ein Speichelfaden hing aus seinem Mund. Oben schnarchte Kurt. Peter zog sich seine Stiefel aus und schlich die Dielentreppe hinauf. Die fünfte Stufe von oben überstieg er. Sie knarrte immer. Seine Kleidung warf er unter das Bett. Heimlich wollte er sie waschen, keine Fragen aufkommen lassen. Zitternd lag er unter seiner Decke, zitternd schlief er ein und er zitterte noch immer, als er von Stimmen, die aus der Diele kamen, geweckt wurde. Zitternd stand Peter vor seinem Schrank und zog sich frische Wäsche an. Peter fror von innen heraus. Am liebsten hätte er sich gewaschen, doch dazu hätte er durch die Diele gemusst. Die neue Kleidung konnte den Geruch der letzten Nacht nur schwerlich überdecken.

Der Hahn auf dem Mist krähte und schickte Peter in den neuen Tag.

Mit hängenden Schultern und einer aufgeplatzten Lippen torkelte Peter sockfuß zur Treppe. Ein Lachen. Peter erstarrte auf den oberen Stufen, wollte umdrehen.

„Peter“, erklang die tiefe Stimme von Harald Hille. Kurt und Hans drehten ihre Köpfe.

„Komm runter frühstücken.“ Kurt legte ein Brötchen auf den leeren Teller. Es roch nach Spiegelei.

Peter machte einen vorsichtigen Schritt nach unten. Die fünfte Stufe von oben knarrte. Mit jedem weiteren Schritt wich die Heimat, der Familienschutz aus seiner Seele.

„Harald hat sich gestern Gedanken über den Maueranker gemacht. Er will gleich damit anfangen“, erklärte Hans.

„Ja, ich habe gerade Zeit“, schmatze der Schmied. Seine Augen folgten jeder Bewegung von Peter. „Allerdings sind die Gesellen unterwegs. Ich brauche Peters Hilfe am Blasebalg.“

„Das ist eine tolle Idee“, sagte Kurt. „das wird dir Spaß machen.“

Kurt zerstocherte die Haut vom Eigelb. Zäh wie Blut zerlief es auf dem Weiß. Hans unterhielt sich mit dem Schmied. Peter setzte sich. Immer wieder spürte er Haralds Blicke.

„Iss was“, forderte Kurt seinen Sohn auf. „Die Arbeit in der Schmiede wird schwer.“

An Haralds Schläfe klebte ein frischer Verband. Der Schmied bemerkte Peters Blick darauf.

„Ich bin gestern Nacht aufgewacht“, sagte der Schmied. „habe was in der Schmiede gehört, bin im Dunkeln runtergelaufen und habe ich mir den Kopf gestoßen.“

Peter blickte stumm auf seinen Teller. Dabei nippte er an seiner Milch.

„Die Milch hat Harald vom Flisch mitgebracht.“

„Hmhm“, machte Peter.

„Das ist nett. Bedank dich!“

„Danke“, murmelte Peter.

„Ist gut!“ Harald Hille stand auf. „Ich muss in die Schmiede den Ofen anheizen. Kommst du mit, Peter?“ Seine Stimme klang wie ein verrosteter Amboss.

„Zieh dich an!“ Kurt nahm das Brötchen von Peters Teller. „Ich schmier es dir zum Mitnehmen.“ Peter schaute zwischen seinem Vater und Harald hin und her. Ungläubig. Unsicher. Einsam.

„Papa?“

Kurt stockte.

Der Schmied blieb in der Tür stehen. Seine Augen verengten sich. „Kommst du, Peter? Sonst werden wir nie fertig und deine Familie wird darunter leiden müssen.“

Pause.

„Sie können doch nichts dafür ...“

Peter schaute auf, konnte aber dem Blick vom Schmied nicht standhalten.

„Was ist los Peter?“ fragte Kurt. Papa nannte Peter ihn nur, wenn er etwas angestellt hatte. Der Schmied schien in der Tür zu wachsen. Sein Gesicht wurde rot. An seiner Stirn zeigte sich eine Ader. Harald Hille kniff die Augen zusammen. Seine Hand glitt in die lederne Aktentasche. Kurt stand mit dem Rücken zum Schmied und Hans konnte seinen Kopf kaum drehen. Peter sah als Einziger den Pistolenknauf.

„Es ist mir peinlich, Papa!“

„Na, erzähl schon. Lass Harald nicht warten. Das ist unhöflich.“

„Ja, Papa!“

„Also, was ist?“

„Ich, ich ...“

„Na los!“ Kurt wickelte das Brötchen mit Thüringer Mett in ein Papier ein.

„Ich habe gestern ein Mädchen getroffen“, log Peter, „und ...“

Hans lachte. Der Schmied ließ den Pistolenknauf los.

„Und?“

„Und.“

„Nun sprich schon!“

„Papa, wir haben ...“

„Warte mal Peter!“ Kurt drehte sich um. „Harald, gehst du schon mal vor? Ich bring dir Peter gleich vorbei.“

Der Schmied lachte. „Na Peter, du bist mir ja ein Früchtchen. Wenn du nicht zügig kommst, hole ich dich mit meinen Gesellen!“ Der Schmied lachte weiter. „Und dann muss mir deine Familie helfen.“ Diesen Satz flüsterte Harald nur noch. Dabei drehte er sich um und stapfte zur Schmiede.

„Was ist wirklich los?“

Peter ging zur Klöntür und schaute nach draußen. Dann kam er zurück und wagte kaum aufzusehen.

„Ich habe gar kein Mädchen getroffen.“

„Nein?“

„Ich wollte gestern rübermachen.“

„Was erzählst du da? Bist du verrückt geworden?“

Hans legte sein Besteck zur Seite: „Los, erzähl!“

„Der Schmied ...“

„Was ist mit Harald?“ unterbrach ihn Kurt.

„Er war auch da. Er gehört zur Stasi. Und ...“ Es tropfte aus Peter heraus. Immer wieder schüttelten ihn Weinkrämpfe. Er stammelte Erlebtes, und als er fertig war, saß er erschöpft und zusammengesunken auf seinem Stuhl. Rotz und Tränen tropften auf sein Spiegelei. Es war still. Kurt und Hans schauten sich an. Keiner sprach ein Wort. Hans drückte sich schwerfällig aus seinem Stuhl, stütze sich an der Fensterbank ab und hangelte sich sein Holzbein.

„Du gehst in dein Zimmer“, befahl er Peter, „und da bleibst du. Du wirst mit niemandem reden! Hast du verstanden?“

Peter nickte stumm. Hans und Kurt zogen die Tür hinter sich ins Schloss.

Und ich, ich seufzte.

Erinnerungen sind wie Schmutzflecken. Sie verschwinden nie ganz, schimmern immer etwas durch. Es reichen Gerüche, ein Bild, ein Geräusch oder eine Farbe, und der Fleck ist wieder da. Je schmutziger er war, desto tiefer sitzt der Schmerz. Wir bewahren alle Schmutzflecken. Wir sagen die Wahrheit, auch noch nach Jahrhunderten. Die Deutung liegt allein bei dem, der sie hört.

Stefan drehte die Heizung im Minibagger höher. Er schüttelte sich. Die Scheiben waren innen und außen beschlagen. Mit einer Hand wischte er sich ein kleines Sichtfeld frei und stellte den Scheibenwischer an. Er stellte den Lüfter auf die höchste Stufe und die Düse drehte er direkt auf die Frontscheibe. Kalte Luft aus dem Gebläse wirbelte die Gedanken in der kleinen Kabine durcheinander. Der Motor versuchte die Fahrerkabine zu erwärmen. Kondenswasser lief an der Innenseite der Scheibe hinunter. Stefan zog sich weiter vor und lugte durch die Scheibe, dann ließ er sich zurückfallen. Es war klamm in der Kabine. Stefan zitterte.


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