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II. Die Entdeckung Auroriens

»Den Goldenen Tod« nannten die Ureinwohner Auroriens das Schicksal all jener Abenteurer, die jahrhundertelang mit ihren Schiffen den Ozean überquert und versucht hatten, sich die Insel Untertan zu machen. Doch Aurora, die Goldene, hatte allen Anstürmen zu trotzen vermocht. »Das verwunschene Atoll« ward sie dereinst gerufen, doch an Größe und Erhabenheit glich sie dem unentdeckten Kontinent.

Im Nordosten war ihr sandiges Herz umsäumt von der undurchdringlichen Vegetation des Dschungels, dessen östliche Begrenzung von einer langgezogenen Gebirgskette gebildet wurde. Im Südwesten schmiegte sich ein schier unendliches Steppen- und Savannenland an das rotgoldene Wüstenherz. In den südlichsten Gefilden aber, wo die Insel ihrem Schwesterkontinent am nächsten war, herrschte die Macht der Winde über bizarre Bergketten, liebliche Weintäler und endlose Sandstrände.

Aurora verdankte ihren Namen den sagenumwobenen Sandwüsten, die das Herz des vergessenen Eilands bildeten. Wie gleißendes Gold ergoß sich das Sonnenlicht über Auroriens weichen Wüstensand. Jenen, die sie liebten und ihr voller Demut begegneten, öffnete die Insel ihre wundervollen Schätze. Selbst ihr karges Wüstenherz war reich an Nahrung für all jene, die »der Goldenen« ihr Schicksal bereitwillig anvertrauten. Doch jenen, die danach trachteten, Aurorien zu erobern, ihren Willen niederzuringen und ihre unermeßlichen Schätze zu rauben, brachte die Insel nichts als »den Goldenen Tod«.

Als nun die Große Göttin den Urkontinent Gajapana teilte und seine Kinder, die Erdteile Euradon und Wanado ins Meer entsandte, waren zwei voneinander unabhängige Hemisphären erschaffen: das nördliche Thalamarrh und das Südland, Wanamarrh. So geschah es, daß auch der erste Ozean, das Äonische Meer, zerfallen mußte in das nördliche Panthalassa und Wanossa, die Südsee.

Nachdem der zweite Schöpfungszyklus beendet war, sah die Große Göttin, daß es im Inneren des Erdballs noch immer wallte und brodelte. Da ließ sie das Erdreich erbeben, die großen Erdteile dehnten sich aus und zerbarsten. Auf diese Weise entstanden die Kontinente und die großen Ozeane. In jener Phase der Schöpfung waren die auf der südlichen Hemisphäre gelegenen Erdteile Aurora und Elyandria noch eng verbunden, während das nördliche Thetania sich bereits als selbständiger Kontinent von Gajapana abgespalten hatte. Bald darauf hatten sich auch Atlanada und Archatlanada voneinander gelöst, während Aurora mit dem Kontinent der Großen Schöpfer noch immer eine fest verbundene Einheit bildete.

Doch Auroriens Erdenseele dürstete es nach Freiheit: Schwere Erdbeben und Vulkanausbrüche, gefolgt von schrecklichen Fluten, plagten das Land. Da entschied der Rat der Großen Ahnen, das Goldene Eiland freizugeben. Getrennt von Elyandria, ihrer kontinentalen Schwester, trieb Aurora gen Norden ins offene Meer. Lange Zeit blieb sie verschollen, ihr Name geriet in Vergessenheit. Die Bewohner der Zwischenwelt glaubten, die Goldene Insel sei im Ozean versunken, eingetaucht in die Arme der Zeit und auf ewig verschollen in den Fluten der Unendlichkeit.

Nun geschah es im Jahre 1803 nach Zeitrechnung der Wolkenkinder, daß die altehrwürdigen Galaxanten auf der Erde landeten. Sie kamen, um sich mit den Großen Schöpfern zu beraten. Nach langer Konferenz und sorgfältigem Abwägen entschieden die Unsterblichen, daß die Welt nun bereit sei für den nächsten großen Schöpfungszyklus. Mit dem Eintreffen der Galaxanten hatte das zweite große Zeitalter begonnen, das die Wolkenkinder »Gaya« tauften. Die Ehrwürdigen waren gekommen, um den Großen Ahnen die Erschaffung der weltlichen Götter aufzugeben. In einer feierlichen Zeremonie überreichten sie den Havatheri zwölf Edelsteine. Auf dem Berg Pallas, dem höchsten Gipfel der Welt im schneebedeckten Mahilaya-Gebirge wurden die zwölf magischen Steine mit dem Atem des Göttlichen beseelt. Aus diesen zwölf Steinen wurden die zwölf Weltengötter geboren, die fortan das Schicksal der Menschheit und aller anderen Sterblichen dirigieren sollten.

Die Mission der Galaxanten war damit beinahe erfüllt. Vor ihrer Abreise hinterließen sie der Welt sieben große Wunder und sieben große Gebote. Die sieben Weltwunder wurden gerecht über den gesamten Erdball verteilt, so daß jeder der sieben Kontinente eines der großen Mirakel sein eigen nennen durfte. Die sieben Gebote aber wurden in Form von Klangrunen in sieben Kristalle gegossen und in eine goldene Truhe gegeben. Unter den Großen Schöpfern herrschte Einvernehmen über die Tatsache, daß die Menschen und alle anderen Erdenbewohner noch nicht bereit waren, ihre Geschicke nach einer höheren Ordnung auszurichten. Also versahen sie die goldene Lade mit einem unsichtbaren Siegel und brachten sie nach Aurora, dem vergessenen Eiland.

Damit aber ihr kostbarer Inhalt nicht entweiht oder gar geraubt werde, sollte die Truhe von drei unsterblichen Wächtern gehütet und so lange verborgen gehalten werden, bis die Kinder aller Sphären eines Tages bereit wären, ein gemeinsames Schicksal zu teilen.

Layos von Argant

Nachdem die Galaxanten die Erde verlassen hatten, blieb Aurora zwei volle Zeitalter verschollen, seine Schätze unentdeckt. Im Zeitalter Androchat endlich machte ein unerschrockener Abenteurer von sich reden: Layos von Argant, ein Menschensohn aus dem ruhmreichen Geschlecht der Phargonäer, zog aus, um neue Welten und unentdeckte Kontinente zu erobern.

Eines Tages, nach Zeitrechnung der Wolkenkinder schrieb man das Jahr 9003, begab sich Layos mit einer kleinen Schar seiner treuesten Anhänger auf die Suche nach dem Wohnsitz der Großen Ahnen, dem Ventros Elyadrez. Der erhabene Berg befand sich auf dem sagenumrankten Kontinent Elyandria, den noch nie ein Menschenkind betreten hatte. Layos, der Weltenumsegler, hatte schon so manch unglaubliches Abenteuer bestanden. Als er den Hafen von Velos und damit sein Heimatland Libranûr hinter sich ließ, war er guten Mutes, den göttlichen Berg zu erobern.

Das Schiff begann seine Fahrt mit gestrafften Segeln, die Elemente schienen Layos und seinen Mannen gewogen, und so dauerte es nicht lange, da erreichten sie die äußerste Spitze des Landes Vyndunaî. An diesem Punkt angelangt, gebot Layos seinen Navigatoren, den südlichsten Pol von Wanamarrh zu berechnen und diesen sogleich anzusteuern, denn dort vermutete er die Wiege der Schöpfung. Doch die Großen Ahnen beschieden ihm ein anderes Schicksal. Ultrizia, die göttliche Patronin der Elemente, brachte einen unentfliehbaren Wind gegen Layos auf, der das Schiff in seinen Bann zog und stetig gen Osten drängte.

Unzählige Mondwechsel gingen dahin, längst hatten die Seefahrer den Äquator passiert und die südliche Hemisphäre erreicht, da gerieten sie in einen heftigen Sturm. Das Schiff ächzte und bäumte sich auf im Widerstand gegen die rasende See. Sieben Tage und sieben Nächte wüteten die Elemente, am achten Tag endlich beruhigte sich das Meer, und es kehrte Stille ein. Das Schiff aber bot einen traurigen Anblick: Mit gebrochenem Fockmast und zerfetzten Bramsegeln glich es mehr einem Wrack denn einer stolzen Brigg. Zu allem Unglück war der größte Teil der Vorräte über Bord gegangen, und das Geschick der Seeleute lag nun gänzlich in der Hand der Großen Ahnen.

Die Besatzung war müde vom Kampf gegen die tobenden Elemente, die Süßwasserfässer leerten sich rasch, auch Brot und Salz waren bald aufgezehrt. Schon begann der Hunger hart an der Willenskraft der Männer zu zehren, da entschied Layos, dem das Wohl seiner Gefährten über alles ging, abzudrehen und in die Heimat zurückzusegeln, falls die Götter ihm nicht ein Zeichen der Hoffnung sandten. In der folgenden Nacht fand Layos keinen Schlaf. Er grübelte und fragte sich, ob es tatsächlich klug sei, die Reise so kurz vor dem ersehnten Ziel abzubrechen.

Endlich stand er auf und begab sich an Deck. Die Luft war kühl und klar, da blickte Layos zum Himmelszelt empor und erflehte der Götter Gnade. Plötzlich sah er ein wunderbares Licht am Nachthimmel aufgehen. Es war ein Stern, dessen blauschimmerndes Licht heller und strahlender leuchtete, als alle anderen Sterne am Firmament. Gleich einem majestätischen Leuchtfeuer pulsierte der blaue Riese am Himmelsgewölbe. Layos glaubte, den Göttern mit seinem Flehen ein Zeichen entlockt zu haben und befahl seinem Navigator, dem blauen Stern zu folgen.

Zehn weitere Tage segelte das Schiff dahin, bis von der Großmastspitze ein schicksalhafter Ruf ertönte: »Das Festland ist nah! Das Festland ist nah! Die weißen Milane! Sie segeln gen Osten!«

Und tatsächlich: Als Layos seinen Blick zum Himmel aufrichtete, bemerkte er hoch über seinem Haupt drei adlergleiche Raubvögel. Majestätisch und unberührbar, wie mit der Morgenröte des Himmels verschmolzen, glitten sie dahin. Das hoheitsvolle Dreigespann bewegte sich in südwestlicher Richtung, die weißen Schwingen weit ausgebreitet, so schwebten die göttlichen Wesen hinfort. Dabei schien ihr Flügelschlag einem vorgegebenen Rhythmus zu folgen, ja, beinahe sah es aus, als folgten die edlen Tiere einem unhörbaren Lockruf.

»Das Ziel ist nah!« rief Layos freudig aus. »Es ist ein Wink der Götter! Steuermann! Hoch am Wind! Folgt der himmlischen Triade!« befahl er mit entschlossener Stimme. Der Navigator korrigierte den Kurs entsprechend seinem Befehl, der Steuermann schlug das Ruder hart nach backbord und der Maat ließ die Segel dichtholen. Die Brigg ächzte wie ein gequältes Tier, bevor sie Fahrt aufnahm. Stunde um Stunde fieberten die Seefahrer ihrem Ziel entgegen. Kurz bevor die untergehende Sonne den Horizont berührte, erscholl der lang ersehnte Ruf aus dem Krähennest: »Land in Sicht! Elyandrien voraus! Gepriesen sei Panohgmios, der Gott der Reisenden!« rief der Wachtposten. »Land in Sicht!« In freudiger Erregung stürmte die Besatzung an Deck. Bald darauf gab der Horizont die dunklen Umrisse des Festlands frei. Unter den erwartungsvollen Ausrufen der Männer steuerte das Schiff die Küste des Kontinents an, den sie einmütig für Elyandria hielten. So war es geschehen, daß kein anderer als der Abenteurer Layos von Argant auf der Suche nach Elyandria, dem Kontinent der Großen Ahnen, die vergessene Insel Aurora entdeckte.

Layos und die Königin

Auf Aurora herrschten die Vedayana, Trägerinnen der äonischen Seelen. Ihr Oberhaupt, die vedayanische Königin, bewohnte ein stattliches Domizil über den Dächern der weißen Stadt Ankh Arcador.

Das vedayanische Reich war matriarchalisch organisiert. Den männlichen Vedayanern, kurz Dayaner genannt, war es nicht gestattet, höhere Ämter zu bekleiden. Gleichwohl wurden ihre Dienste bei der Verrichtung all jener Arbeiten, die keine große Intelligenz oder Geschicklichkeit erforderten, eingesetzt und durchaus gewürdigt. Doch das war nicht immer so. Die weiblichen Bewohner Auroriens hatten die Befugnisse der Dayaner stark beschränken müssen. Verantwortlich für diese Maßnahme war vor allem die männliche Aggressivität. Nach jahrhundertelanger Erfahrung der Vedayana hatte sich herausgestellt, daß die männliche Persönlichkeit sprunghaft und unberechenbar war. Männer galten im Reich der Vedayana als unbesonnen und emotional, Vernunft oder gar Logik waren von ihnen kaum zu erwarten.

Außerdem besaßen die Dayaner keinerlei Bildung (nur wenige unter ihnen konnten lesen und schreiben). Organisationstalent oder Führungsqualitäten suchte man bei ihnen ebenfalls vergeblich, was vor allem ihrer simplen Struktur zuzuschreiben war. Auch waren die Dayaner besonders wehleidig und daher wenig belastbar, weshalb ihnen die Ausbildung zum Krieger verwehrt war. Kurzum: Männer bildeten in der vedayanischen Gesellschaft das schwache Geschlecht. Sie leisteten ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Leben Auroriens vornehmlich als Diener oder als einfache Arbeiter. Wenigen unter ihnen war ein angenehmeres Schicksal zugedacht: Jene, die von den Großen Ahnen mit einer besonders schönen Gestalt versehen waren, genossen ein besonderes Privileg. Sie wurden von den führenden Vedayana in sogenannte »Oasen« berufen. Die höheren Damen bedienten sich ihrer zum Zwecke der Fortpflanzung und der gelegentlichen Zerstreuung. Die in den Oasen lebenden Dayaner nannte man »Huoren« oder auch »Throsse«. Die Königin besaß eine Oase mit mehr als hundert dayanischen Gespielen. Huoren, die zu alt für die Verrichtung ihrer Dienste geworden waren, versteigerte man auf speziellen Märkten an Vedayana niederen Ranges.

Die vedayanische Gesellschaft war eine hochentwickelte Kultur. Eine bemerkenswerte Eigenschaft der Vedayana bestand in ihrer synergistischen Denkweise. Zum Wohle ihres Staates hatte die Königin für die Weisesten unter den Vedayana spezielle Eliteschulen errichten lassen. Dort forschten und diskutierten die besten Philosophinnen, Mathematikerinnen, Astronominnen, Bauherrinnen und Medizinkundigen der gesamten Südhalbkugel.

Die Vedayana machten gewöhnlich keine großen Worte. Was getan werden mußte, wurde sofort und effizient erledigt. Zu ihrer Zeit waren die Vedayana zweifellos die am höchsten entwickelte Kultur der Welt. Ihr umfassendes Wissen hielten sie auf Papyrusrollen fest, die in speziell zum Zwecke der Archivierung erbauten Pyramiden aufbewahrt wurden.

Der größte Stolz der vedayanischen Königin waren ihre kostbaren Mayazener-Pferde. Lange, bevor Aurorien zu einem vergessenen Kontinent wurde, unterhielten die Vedayana rege Handelsbeziehungen zu den Völkern anderer Kontinente. So kam es, daß die aurorischen Herrscherinnen Zuchtpferde aus aller Welt von ihren Reisen heimbrachten, mit denen sie das Geblüt der einheimischen Rasse, den aurorischen Esquitanern, auffrischten. Über viele Generationen hatte man die schönsten und wertvollsten Esquitaner mit dem Blut anderer Rassen veredelt. Die edle Kopfform und ihren hohen Schweifansatz verdankten die Mayazener dem Einfluß des arrhavischen Vollbluts; die schräge Schulter und der enorm ausgeprägte Widerrist wurden durch das euradoranische Warmblut eingebracht, das auch für den besonderen Mut, die ungewöhnliche Willensstärke und die hohe Intelligenz der Mayazener verantwortlich zeichnete. Die Mayazener-Rasse entsprach also dem veredelten Geblüt der einheimischen Esquitaner.

Unnötig zu erwähnen, daß die Vedayana seit jeher hervorragende Reiterinnen waren. Jährlich zum Fest der Mondgöttin veranstalteten sie einen großen Wettstreit, in welchem sich die besten Reiterinnen des Landes in verschiedenen Disziplinen maßen. Der Umgang mit Pfeil und Bogen lag den Vedayana im Blut. Das Bogenschießen zu Pferde erforderte hingegen eine besondere Geschicklichkeit, ebenso wie das Hindernisreiten und die Feuerdressur.

Als nun Layos von Argant nach langer Schiffsreise vor Aurorien ankerte, war er noch immer in dem Glauben, Elyandria entdeckt zu haben. Er sandte einen Botschafter mit einer kleinen Eskorte aus, den königlichen Palast zu suchen. Layos trug seinen Männern auf, den Großen Schöpfern von seiner Ankunft zu berichten und gleichfalls um eine Audienz zu bitten. Doch die kleine Gesandtschaft kehrte nicht zurück. Die auf dem Schiff verbliebenen Seefahrer waren müde von der langen Reise. Das Warten auf die Rückkehr der Gesandtschaft brachte Unruhe auf. Hunger und Durst trieben die Abenteurer schließlich an Land. Auf der Suche nach Trinkwasser und Nahrung begaben sich Layos und seinen Männer in die küstennahen Wälder, wo sie von einem vedayanischen Spähtrupp entdeckt und gefangengenommen wurden. Layos war äußerst erstaunt, keinen einzigen männlichen Krieger unter seinen Bezwingern zu sehen. Er erklärte, daß er in friedlicher Absicht gekommen sei, um dem Herrscher der Insel seine Ehrerbietung zu erweisen. Doch die Vedayana verstanden sein Anliegen nicht, sprach er doch in einer ihnen fremden Sprache.

Layos und seine Männer wurden ins Gefängnis geworfen, wo sie zwanzig Tage und zwanzig Nächte ausharrten. Endlich, es war der einundzwanzigste Tag nach ihrer Ankunft, wurde Layos als einziger aus dem Kerker geholt und in den königlichen Palast gebracht, damit er als der Anführer der Männer der Herrscherin Rede und Antwort stehe.

Die Leibgarde der Königin bestand aus den zehn mutigsten Kriegerinnen des Landes, denn obschon Aurorien seit Anbeginn der Welt nicht einen einzigen Krieg ausgefochten hatte, waren die Vedayana weise genug, jederzeit mit dem Eintreffen feindlicher Eroberer zu rechnen.

Königin Irhavana war unlängst von einem Jagdausflug zurückgekehrt. Sie war guter Dinge und nun bereit, den Rädelsführer der Eindringlinge zu empfangen. Zwei ihrer Kriegerinnen brachten Layos in den Thronsaal. Wie einen Sklaven warfen sie in auf den Boden und bedeuteten ihm, sein Haupt geneigt zu halten und der Herrscherin keinesfalls in die Augen zu blicken. Die Königin ließ nach einer Gelehrten schicken, die der nordischen Sprachen mächtig war. Bis zu ihrem Eintreffen blieb Layos nichts anderes übrig als mit demutsvoll gesenktem Haupt und mit gebundenen Händen vor der Herrin zu knien. Kaum war die Übersetzerin eingetroffen, nahm sie ihren Platz an der Seite der Königin ein, worauf diese mit hoheitsvoller Stimme zu sprechen begann:

»Höre, Fremder, wir wollen uns nicht mit langer Vorrede aufhalten. Sage mir, wie du fertigbrachtest, was kein anderer vor dir vollbracht hat: Sage mir, wie hast du mein Reich entdeckt?!« Layos, der solch respektlose Behandlung nicht erwartet hatte, begann seine Antwort ohne die in seinem Land gebräuchliche, förmliche Anrede:

»Mein Name ist Layos von Argant! Vor vielen Mondwechseln brach ich auf, den Kontinent Elyandria zu suchen, um den Ventros Elyadrez zu besteigen und den Großen Ahnen meine Ehrerbietung darzubringen. Der Himmel sandte mir ein Zeichen, und so landete ich glücklich an den Ufern des fernen Kontinents. Doch sagt mir, Herrin von Elyandrien, empfangt Ihr so Eure Gäste? Meine Gefährten darben bei Wasser und Brot in euren Kerkern, und mich laßt Ihr wie einen räudigen Hund in Ketten vorführen?«

Ein wissendes Lächeln erhellte die Züge der Königin, als die Übersetzerin geendet hatte. »Layos von Argant!« sagte sie schließlich mit einem Funken Spott in der Stimme. »Ein Mann in deiner Lage sollte seine Worte mit Bedacht wählen! Sage mir nun: welchem Kontinent entstammst du?«

Layos, der einsehen mußte, daß jedweder Widerstand zwecklos war, antwortete mit ungebrochenem Stolz: »Ich stamme aus dem ruhmreichen Geschlecht der Phargonäer. Meine Heimat ist das Land Libranûr auf dem Kontinent Avalonia. Mein Volk hat große Ruhmestaten vollbracht. Himmelsleitern und großartige Tempel erbauten die Phargonäer zu Ehren der Weltengötter, große Schlachten und glanzvolle Kriege führte mein Volk im Namen des großen Wodanorr! Doch kein Menschensohn hat je der Großen Schöpfer Antlitz geschaut.«

Solch vermessene Rede schien das Gemüt der Königin aufzurühren. Zornesröte durchfuhr ihre Wangen, als sie das Wort an sich riß:

»Du rühmst dich, große Schlachten geschlagen zu haben?! Kriege, die ohne Zweifel den Tod Unschuldiger zur Folge hatten, nennst du ›glanzvoll‹? Wahrlich! Deine Geisteshaltung entspricht jener Anmaßung und Einfalt, wie nur ein Mann sie zeigen kann! Aggressoren wie deinesgleichen, Layos von Argant, werden hierzulande den Geiern zum Fraß vorgeworfen!«

Mit einem Anflug von zornigem Aufbegehren erhob Layos sein Haupt. Die Königin strafte ihren Gefangenen mit einem stählernen Blick, bevor sie weitersprach: »Vier große Zeitalter hat das vedayanische Volk überdauert, und unsere Welt ist noch immer frei von Krieg. Wir trachten nicht nach Weisheit, wir bauen keine Himmelsleitern, denn die Weisheit des Himmels wohnt in unseren Herzen!«

»So seid Ihr eine der Glorreichen?« Layos verneigte sich tief. Er glaubte noch immer, auf Elyandrien gelandet zu sein und eine der Großen Ahnen vor sich zu haben.

»Einfältiger Tor!« sagte die Königin. »Das Antlitz deiner Schöpfer wirst du auch heute nicht erblicken!«

Die hohe Frau gebot ihrem Gefangenen, sich aufzurichten. »Nicht vor Elyandrien ankert dein Schiff. Du befindest dich auf dem Boden Auroras, der vergessenen Insel, und ich bin weder Weltengöttin noch Angehörige des Rates der Großen Ahnen. Du stehst vor Irhavana, Königin des vedayanischen Volkes und Herrscherin über den Goldenen Kontinent!«

Layos blickte die Königin verwundert an. Dann faßte er sich und sagte: »So ist dies nicht der Kontinent der Unsterblichen?!«

»Nein!« sprach die Herrscherin. »Aurora, das Goldene Eiland, ist die Heimat des Volkes der Vedayana. Weder sind wir unsterblich noch unverwundbar. Und doch wird es keinem weltlichen Feldherrn je gelingen, uns zu bezwingen! Wir sind eins mit den Elementen, eins mit der Zeit, doch nein, Unsterblichkeit ist nicht unser Geschick!« Königin Irhavana erhob sich voller Stolz von ihrem Thron. »Sprich denn, Sohn Libranûrs, was soll ich tun mit dir und deinen Gefährten? Lasse ich euch ziehen, so werden andere nach euch kommen und danach trachten, Aurora, die Goldene, zu erobern. Es wäre also nicht klug, dich gehen zu lassen. Andererseits entspricht es nicht den Gepflogenheiten meines Volkes, Gefangene zu machen. Wenn ich dir untersage, in deine Heimat zurückzukehren, wirst du mir freiwillig dienen?« Die Herrscherin sah Layos fest in die Augen. Er hielt ihrem Blick stand und sagte:

»Verzeiht, oh Königin! Nicht mein Geschick allein steht auf Messers Schneide. Meine Männer zogen aus, den Kontinent ihrer Schöpfer zu entdecken! Es sind treue Gefährten, die nicht verdient haben, als Gefangene ein glanzloses Dasein zu fristen! Daher ersuche ich Euch, hohe Herrin, wenn schon nicht mir, so schenkt wenigstens meinen Männern die Freiheit!«

Die Königin bedachte sich für einen Moment. Sie war klug und erfahren genug, abzusehen, daß Layos nicht der letzte Seefahrer sein würde, der Aurorien erreichte. Kehrte er nicht in die Heimat zurück, so würden andere Schiffe aufbrechen, um nach ihm zu suchen. Früher oder später würde einer der nordischen Weltenbummler das Goldene Eiland finden. Für Aurorien war die Zeit der Vergessenheit vorüber. Es galt nun, sich der Welt mit all ihren Gefahren zu öffnen und das Wissen von Generationen mit anderen Völkern zu teilen. Königin Irhavana tat einen tiefen Atemzug. Schließlich sagte sie:

»Höre denn meine Entscheidung, Layos von Argant! Drei Prüfungen sollst du bestehen. Dreimal sollst du deinen Mut und dein Gottvertrauen unter Beweis stellen! Gelingt es dir, alle drei Aufgaben zu erfüllen, sollst du als freier Mann mein Reich verlassen, und mit dir deine Mannen!«

»Welche Prüfung Ihr mir auch auferlegen werdet, große Königin, ich werde sie meistern, und in das Land meiner Väter heimkehren«, erwiderte Layos schlicht.

»So lasse denn deinen Worten Taten folgen, Phargonäer!« Die Herrscherin ließ ihre Schleppe mit einer entschlossenen Bewegung durch die Luft fahren, bevor sie kehrtmachte und den gewohnten Platz auf ihrem Thron einnahm. »Erfahre nun deine erste Aufgabe: Begib dich an die Ufer des Flusses Eoh Aldabra. Dort schlage dein Lager auf, und baue ein Floß. Überquere den Strom, suche die Sümpfe von Vallejah, und bringe mir einen Korb voll mit Früchten des Adansobaumes!«

»Das ist alles?« rief Layos freudig aus. »Nun, das dürfte ein Leichtes sein!«

»Freue dich nicht vor der Zeit, Abenteurer!« gab die Königin ungerührt zurück. »Die Sümpfe werden bewacht von den schrecklichen Nictilioniden, geflügelten Ungeheuern mit Krallen und Zähnen aus Eisen. Die Nictilioniden sind fürchterliche Monstren, die die Früchte der Adansobäume nach Kräften zu verteidigen geschworen haben! Wer den Eoh Aldabra zu überqueren sucht, wird von den ehernen Waffen der Bestien zerfetzt. Kein Sterblicher hat es je fertiggebracht, den Fluß an dieser Stelle zu überqueren!«

»So will ich es dennoch wagen!« sagte Layos. Nach kurzem Bedenken fügte er hinzu: »Gewährt mir nur eine einzige Gunst, oh Königin! Auf all meinen Abenteuern habe ich stets einen magischen Stein mit mir geführt, der mein Glücksbringer ist. Lasset mir diesen Stein bringen, und ich will mich noch heute auf den Weg machen!«

»Deine Bitte sei dir gewährt!« sprach die Herrscherin. »Drei meiner treuesten Kriegerinnen gebe ich dir zur Seite. Sie werden dich begleiten und dir den Weg zum Fluß weisen. Überqueren mußt du ihn jedoch allein! Mögen die Götter mit dir sein!«

In Begleitung der königlichen Eskorte begab sich Layos zu den Ufern des Eoh Aldabra. In seinem Gepäck hatte er eine Streitaxt, ein Katar und den magischen Stein, der alles Metall in seiner Nähe magnetisch anzog. Die vedayanischen Kriegerinnen führten Proviant, Wasser und Takelgarn mit sich. Nach zwei Tagesmärschen hatten sie ihr Ziel erreicht. Die Vedayana übergaben dem Abenteurer das Garn, das er für den Bau des Floßes benötigte und einen kleinen Vorrat an Proviant und Trinkwasser. Sodann zogen sie sich zur Jagd in die Wälder zurück und überließen Layos seinem Schicksal. Der Phargonäer eilte sich, Bäume und Gesträuch zu fällen. Aus den Stämmen und Ästen zimmerte er ein Floß samt Ruderwerk. Im Zentrum des Floßes errichtete er einen starken Mast, an dessen Spitze er den magischen Stein befestigte. Als es vollbracht war, nahm der Phargonäer seinen Mut zusammen und ließ das Gefährt zu Wasser. Er hatte kaum die Mitte des Flusses erreicht, da drang auch schon ein ohrenbetäubendes Kreischen an sein Ohr. Sein Blick fuhr auf. Hoch in den Lüften entdeckte er die Bestien. Es waren drei an der Zahl. Schrecklicher und bedrohlicher als Layos es sich in seinen kühnsten Befürchtungen ausgemalt hatte, waren die Monstren anzusehen: Aus den garstigen Fledermausköpfen ragten Zähne lang wie Dolche, ihre spitzen Krallen glichen Messerklingen. Mit Schwingen von gigantischer Spannweite näherten sich die Monstren dem schutzlosen Wasserfahrzeug.

»Die Götter mögen mir beistehen!« flehte der Abenteurer. Doch kaum hatten sich die Höllenvögel dem Floß bis auf wenige Plethrone angenähert, da schien es, als gerieten sie aus dem Gleichgewicht. Sie schlugen plötzlich wild mit den Flügeln, als wehrten sie sich gegen einen unsichtbaren Sog. Es war der magische Stein, der die schwarze Brut mit magnetischer Kraft zum Mast des Floßes zog. Der Magnet zog ihre eisernen Krallen und Zähne mit unüberwindlicher Macht zu sich heran, und kurz darauf waren die drei Nictilioniden hilflos am Mast des kleinen Floßes gefangen. Layos stürzte sich auf die gräßlichen Wesen und machte zwei von ihnen den Garaus. Das dritte Höllentier aber entwischte ihm. Im Gemenge wurde es von dem Magneten losgelöst und flog davon. Den zwei erlegten Tieren entfernte Layos die Krallen und heftete sie als Trophäen an seinen Gürtel. Dann ruderte er zum anderen Ufer und ging an Land. Wenig später hatte er die Sümpfe erreicht. Geschwind erntete er die verbotenen Früchte. Darauf kehrte er glücklich und erleichtert zum Fluß zurück. Auf der anderen Seite erwarteten ihn, mit erstaunter Miene, die königlichen Kriegerinnen. Sie waren gekommen, seinen zerfetzten Leichnam aus dem Wasser zu bergen, hatten sie ihn doch tot geglaubt. Zurück im Palast war auch die Herrscherin höchst verwundert über Layos’ glückliche Wiederkehr. Mit Siegermiene reichte ihr der Phargonäer die begehrten Früchte. Die Königin nahm seine Gabe dankend entgegen. Dann stellte sie Layos ohne Umschweife die nächste Aufgabe:

»So höre denn deine zweite Prüfung: Inmitten der roten Wüste, unweit des Berges Chosioz, befindet sich der Zugang zu den heiligen Quellen. Es heißt: ›Wer aus diesen Quellen trinkt, wird das Geheimnis der Schöpfung gewahr‹. Die Furt zu den heiligen Wassern wird von den Ureinwohnern Auroriens Rhogeda genannt. Sie führt in ein unterirdisches Gewölbe, dessen Eingang von Xerberos, dem Höllenhund, bewacht wird. Kein Sterblicher hat es je vermocht, zu den Quellen der Erkenntnis vorzudringen. Ihr dunkler Wächter besitzt drei Köpfe: es sind die Häupter eines Hundes, einer Katze und das eines Adlers, sein Schwanz aber, ist eine lebendige Schlange. Sein schwarzes Fell ist von spitzen Stacheln durchsetzt, die allesamt aus reinem Gold geschaffen sind! All jene, die ihr Glück versuchten, den Höllenhund zu überlisten, fanden den Tod. Mit dem Gift seines schuppigen Schwanzes lähmt Xerberos den Eindringling. Hernach wird sein Hals vom gräßlichen Fang des Hundehauptes niedergerungen, so daß das Opfer bewegungslos dem grausamen Tun der beiden anderen Häupter ausgeliefert sei. Mit ihren kleinen, spitzen Zähnen beginnt die Katze das Fleisch von den Knochen ihres Gefangenen zu nagen, während der Adlerschnabel dem Opfer erst das Augenlicht raubt und ihm dann bei lebendigem Leibe Stück um Stück die Leber herausreißt. Die Folge ist ein langsamer und äußerst qualvoller Tod.

Die Weltengötter allein wissen den grausamen Wächter zu bezwingen. Überliste ihn, und beschaffe mir eine Kotule des kostbaren Naß aus den heiligen Quellen! Doch hüte dich, Layos, mich zu betrügen und mir etwa das Wasser einer anderen Quelle darzubringen! Ich verlange einen untrüglichen Beweis: Als Zeichen deines Erfolges bringe mir einen der goldenen Stachel vom Leib des Wächters. Wage es nicht, mich zu täuschen! Nun denn! Viele haben ihr Glück versucht. Doch keiner ist von seiner Mission heimgekehrt. Hunderte meiner tapfersten Kriegerinnen liegen in den Tiefen des Höhlenreiches begraben. Die Luft an diesem Ort ist süß vom Gestank der Verwesung. Denn niemand vermag Xerberos, den Höllenhund, zu überwinden!«

Kaum hatte die Übersetzerin ihren Vortrag beendet, sagte Layos entschlossen:

»So mag mein Name fortan ›Niemand‹ lauten, meine Königin! Denn ich werde der Niemand sein, der das Unmögliche vollbringt!«

Der Phargonäer verlangte nach seinem Rucksack, den die Bediensteten der Königin sogleich von seinem Schiff holten. Sodann wurde der Todgeweihte von den vedayanischen Kriegerinnen bis an die Schwelle der Furt von Rhogeda geleitet. Nun war auf sich gestellt. Um das Zentrum des heiligen Ortes zu erreichen, mußte sich Layos in das unterirdische Höhlensystem vorwagen.

Unter der Erde war die Luft feucht und mit einem seltsam süßlichen Geruch behaftet. Der Abenteurer tastete sich mühsam vorwärts, denn auf diesem Teil des Weges war er von Finsternis umfangen. Nicht lange, da hatte Layos einen höhlenartigen Raum erreicht, der von einem schmalen Lichtstrahl, der durch eine Spalt in der steinernen Decke einfiel, spärlich erhellt wurde. Kurz darauf entdeckte er das Ungeheuer. Es lag schlafend vor einem steinernen Torbogen, um seinen Hals eine Kette, die das Höllenwesen an diesen Ort zu fesseln schien. Das Tor, das Xerberos bewachte, besaß keine Tür. Es war von einem hauchdünnen, blauschimmernden Vorhang verdeckt, der, obgleich transparent wie die Oberfläche eines stillen Gewässers, keinen Blick auf die andere Seite zuließ.

Das Höllenvieh schien zu schlafen: Sein Brustkorb hob und senkte sich in regelmäßigem Abstand, die drei Häupter ruhten mit geschlossenen Augen auf seinen Vorderläufen. Layos rüstete sich zum Kampf. Er nahm ein Wollknäuel, eine Phiole mit Azansalz und einen Spiegel aus seinem Gepäck. Sein Schwert zog er langsam und geräuschlos aus der Scheide. Dann versicherte er sich ein letztes Mal, daß die mitgebrachte Feldflasche fest mit seinem Gürtel verbunden war. Nun näherte er sich dem dämonischen Wächter. Layos nahm das Wollknäuel und warf es vor die Nase des Katzenkopfes. Als die Katze die Augen öffnete, erwachte sogleich ihr Spieltrieb. Sie schnappte nach dem Spielzeug und versuchte, es mit den Zähnen einzufangen. Da ließ Layos das Knäuel, dessen anderes Ende er in seiner Hand hielt, hochschnellen und die Katze konnte nicht anders, als dem Spielzeug mit ihren Augen zu folgen. Indes regte sich das schuppige Hinterteil der Bestie. Layos hielt seinen Rucksack parat, während er mit einer kühnen Bewegung vorstürmte und dem spielerisch abgelenkten Katzenkopf einen Fausthieb zwischen die Augen gab, daß es in tiefe Ohnmacht sank. Geschwind riß er dem Höllentier einen seiner goldenen Stachel aus dem Fell, doch schon hatte sich am hinteren Ende die giftige Schlange zur Verteidigung aufbäumt. Als das Reptil wütend seine Zähne vorschnellen ließ, trafen sie nur auf den Rucksack, den Layos schützend vor seinen Leib hielt. Das lähmende Gift entlud sich an dem Gepäckstück.

Layos ergriff seine Chance und stürmte an der Bestie vorbei. Kaum war er durch den Vorhang hindurchgetreten, da bot sich ihm ein wahrhaft paradiesischer Anblick: Ein Blütenmeer, dessen Farbenpracht alles bisher Gesehene überstrahlte, lag vor ihm. Inmitten solcher Pracht erblickte er die drei Wunderquellen. Geschwind zückte er seine Feldflasche und befüllte sie mit dem kostbaren Quellwasser. Die Flasche verschnürte er fest mit seinem Gürtel. Alsdann trat er zurück in die Höhle des Xerberos, aus der er soeben glücklich entkommen war.

Das höllische Katzenhaupt war noch immer bewußtlos, doch nun regte sich der Hundekopf des Xerberos. Als Layos sich an ihm vorbeistehlen wollte, fletschte er drohend die garstigen Zähne. Doch der Phargonäer war gewappnet. Wagemutig stürzte er sich auf den Hund und preßte ihm die Kiefer fest aufeinander, so daß dieser nicht zubeißen konnte. Das Vieh rollte wild mit den Augen, während sich die spitzen Zähne des Reptilienschwanzes in Layos Wade bohrten. Der Schlangenbiß verfehlte jedoch seine Wirkung, denn das tödliche Gift hatte sich eben erst an Layos Rücksack entleert. Gleichwohl war die Wunde äußerst schmerzhaft. Der Abenteurer biß die Zähne zusammen und träufelte dem Hundekopf das beißende Azansalz auf die empfindliche Nase. Das Vieh heulte kurz auf, bevor es in eine tiefe Ohnmacht sank. Inzwischen war auch das Adlerhaupt aus seinem Schlaf erwacht. Der Raubvogel stieß zum Angriff einen gellenden Schrei aus. Layos zückte den mitgebrachten Spiegel, und mit seiner reflektierenden Oberfläche fing er das Licht der Sonne auf, das aus der kleinen Öffnung hoch über seinem Kopf in die Höhle einfiel. Geschickt lenkte der Abenteurer den Lichtstrahl in die Augen des Widersachers und blendete ihn. Mit einem spitzen Schmerzensschrei versuchte der Adler nach dem Feind zu hacken, doch da der Vogel seines Augenlichts beraubt war, traf sein Schnabel ins Leere. Layos raubte dem ohnmächtigen Katzenhaupt noch rasch eines seiner silbernen Barthaare, dann entfernte er sich von dem gespenstischen Ort.

Wenig später erreichte Layos entkräftet, aber glücklich die Erdoberfläche. Das Licht der Sonne ergoß sich warm und wohlig über seine erschöpften Glieder. Die vedayanische Eskorte geleitete den Abenteurer sicher zurück zum königlichen Palast. Dort wartete Königin Irhavana bereits auf Nachricht. Die Herrscherin war offenkundig sehr erstaunt über den unerwarteten Erfolg der Mission. Ohne Zögern ließ sie ihre Leibärztin kommen, damit die Wunde, die das Höllentier Layos geschlagen hatte, versorgt werde. Ihre Bewunderung für den kühnen Phargonäer, der sich so ganz und gar von den blutleeren Männern ihres Landes unterschied, verbarg die Königin hinter einer Miene von majestätischem Gleichmut.

»Wohlan, Layos von Argant«, sprach die hohe Frau, »zwei Prüfungen liegen hinter dir. Höre nun die dritte und schwerste: Wähle aus deiner Gefolgschaft drei Männer, und töte sie! Sodann sei dir die Freiheit geschenkt!« Layos ahnte nicht, daß die Regentin keinesfalls beabsichtigte, drei seiner Gefährten dem Tode zu überantworten. Königin Irhavana verfolgte ein anderes Ziel. Die letzte Aufgabe sollte die Geisteshaltung des Helden auf eine harte Probe stellen. Würde er auf seine Freiheit verzichten und sich in die lebenslange Gefangenschaft fügen, um seine Gefährten vor ihrem grausamen Schicksal zu bewahren? Oder würde er tatsächlich drei seiner Gefolgsleute opfern?

Wie erwartet war Layos entsetzt über die ihm gestellte Aufgabe. Doch bald hatte er seine Fassung wiedergewonnen. Die Züge des Weltenumseglers erstarrten zu Stein, als er das Wort an die Herrscherin richtete: »Euer Wunsch, oh Herrin, soll mir Befehl sein! Doch eine Bedingung stelle ich!«

»Sprich!« forderte die Regentin.

»Jeder der drei Unglücklichen soll seine Todesart selbst wählen dürfen«, sagte Layos. Die Königin zögerte kurz, während sie überlegte, wie Layos Gesichtsausdruck zu deuten sei. Dann antwortete sie: »Nun gut! Deine Bitte sei gewährt!«

Layos wählte die drei klügsten unter seinen Kameraden aus. Es waren Godehard, Arialdus und Theonas. Mit unverändert regungsloser Miene gab Layos der königlichen Leibgarde zu verstehen, die drei Todgeweihten herbeizuholen. Ohne zu ahnen, welches Schicksal ihnen bevorstand, ließen sich die drei in den Thronsaal führen. Kaum waren sie dort eingetroffen, richtete die Königin das Wort an sie:

»Gefährten des Layos von Argant! Ihr seid des Todes! Höret nun die letzte Ansprache eures Anführers!« Alle Blicke richteten sich auf den Weltenumsegler. Der aber warf seinen Kameraden eindringliche Blicke zu, während er die Bedingungen des Urteils verkündete:

»Mein Herz ist schwer, nun, da ich euch, meinen teuren Freunde, das Todesurteil verkündigen muß: Königin Irhavana fordert euer Leben im Austausch für die Freiheit unserer übrigen Gefährten. Doch eine letzte Gunst konnte ich der Herrscherin abringen: Jeder unter euch darf selbst bestimmen, wie er zu Tode kommen will! Wählt weise, meine Freude!«

Theonas, der Jüngste und zugleich Klügste unter den Mannen des Layos, entschied sich als erster. Mit fester Stimme sagte er: »Ich wähle den Gifttod! Man möge das Lippenrot meiner Gemahlin mit dem tödlichen Stoff benetzen. Von ihren süßen Lippen möchte ich den Kuß des Todes empfangen, denn meiner Gemahlin allein gebührt das Recht der Vollstreckung!«

Was die Königin nicht ahnte, war, daß der schöne Theonas nicht verheiratet war. Seinen engsten Vertrauten war nicht lange verborgen geblieben, daß er der Weiblichkeit abschwor. Theonas Liebe galt dem Jüngling Osastros, der in der Heimat auf seine Rückkehr wartete. Es war nun also höchst unwahrscheinlich, daß Theonas jemals seine wahre Natur verleugnen und eine Frau zu seiner Gemahlin erwählen würde. Als nächster trat Godehard vor und sagte beherzt:

»Ich will von der Hand meines leiblichen Bruders gerichtet werden. Mögen die Götter mir gnädig sein!«

Ein kaum merkliches Lächeln glättete die Züge des Layos, denn er wußte, daß Godehard keinen Bruder besaß. Seine Eltern waren kurz nach seiner Geburt gestorben. Geschwister hatte er nicht. Es gab keinen Bruder, von dessen Hand er gerichtet werden konnte. Zuletzt war die Reihe an Arialdus. Hatte auch er die List, mit der sein Anführer die königliche Aufgabe zu hintergehen suchte, durchschaut? Würde auch ihm eine Lösung einfallen? Arialdus bedachte sich einige Augenblicke, bevor er mit ruhiger Stimme zu sprechen begann: »Höret nun meinen Todeswunsch: Ich möchte an den Gebrechen des Greisenalters sterben.«

Bei diesem Ausspruch begriff Königin Ihravana, daß sie einer Täuschung aufgesessen war. Tiefes Schweigen hatte von den Anwesenden Besitz ergriffen. Die Männer waren auf einen Zornesausbruch der Regentin gefaßt, doch nichts dergleichen geschah. Zu ihrer Verwunderung erhellte ein Anflug von wissender Genugtuung die gestrengen Züge der Herrscherin. Endlich sagte sie:

»Layos von Argant! Es bedarf großen Mutes, dem Willen einer Königin zu trotzen! Doch sei versichert, Sohn Libranûrs, daß es niemals mein Bestreben war, deine Gefährten hinrichten zu lassen. Der Zweck der letzten Aufgabe bestand einzig darin, deine Gesinnung zu prüfen. Du hast dich als würdig erwiesen, meinen letzen Urteilsspruch zu hören: Du bist frei! Und mit dir deine Gefährten! So gehe hin, und berichte der Welt von Aurorien, dem vergessenen Eiland, und von seinen Schätzen. Viele werden nun aufbrechen, um in deinen Fußspuren zu wandeln. Doch wehe denen, die kommen werden, um sich das vedayanischen Volk zu unterwerfen und Auroriens Schätze zu rauben! Ihnen droht ein Schicksal grausamer als der Tod!«

Die Königin ließ Layos und seine Mannen großzügig mit Gold und Juwelen beschenken. Sie überließ ihm eines der prächtigsten Schiffe ihrer Flotte und versorgte ihn reichlich mit Vorräten für die Rückreise.

Clockwise - Reise durch Traum und Zeit

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