Читать книгу Clockwise - Reise durch Traum und Zeit - Carola Hipper - Страница 9

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1. Kapitel Ein Spaziergang im Schnee

An jenem winterlichen Sonntagmorgen lag eine wundersame Stille über dem Haus der Familie Clock, als die zwölfjährige Emma erwachte. Das Mädchen lag mit geschlossenen Augen da und lauschte den eigenen, regelmäßigen Atemzügen.

Noch hatte der Schlaf seinen sanften Schleier nicht ganz und gar gelüftet, und noch immer fühlte sich Emma als ein Teil jenes fremden Landes, das sie in ihrem Traum bereist hatte, da begann die Erinnerung an die phantastischen Abenteuer, die sie in der vergangenen Nacht durchlebt hatte, zu verblassen. Schlaftrunken wankte das Mädchen an der Schwelle zwischen Traum und Wirklichkeit, und beinahe bedauerte Emma, die wunderbare Traumwelt verlassen und zum Leben erwachen zu müssen. Eine Weile blieb sie reglos liegen. Sie horchte in die Stille des Raumes hinein, dann, endlich, richtete sie sich auf. Noch herrschte die Dunkelheit mit magischer Macht über Emmas kleine Welt, als das Mädchen die Bettdecke zurückstreifte, aufstand und zum Fenster ging. Emma blickte hinaus in die sternklare Nacht, die sich noch nicht entschlossen hatte, dem anbrechenden Tag zu weichen.

An diesem besonderen Morgen schien es Emma, als leuchteten die Sterne in einem sehnsuchtsvollen Blau vom Himmel auf sie herab. Gerade wollte sie das Fenster öffnen und die klare Morgenluft mit einem tiefen Zug einatmen, sie beugte sich dicht über das Fensterbrett, als plötzlich-

»Aua!« meldete sich eine ihr wohlbekannte Stimme vorwurfsvoll.

»Oh! Entschuldige, Paddy! Habe ich dich aufgeweckt?« Emma trat rasch einen Schritt zurück und beugte sich hinab zu dem kleinen stacheligen Gewächs, das in einem mit Sand gefüllten Blumentopf auf ihrem Fensterbrett stand und sich in dieser Sekunde ausgiebig räkelte.

»Uuuiiiaaaaaaaah!« gähnte das grüne Gewächs aus voller Kehle. »Es ist ja noch mitten in der Nacht!«

»Ach, ich wollte nur das Fenster öffnen, dabei muß ich dich angestupst haben. Tut mir leid, ich wollte dich nicht aufwecken«, sagte Emma und ließ sich vom Gähnen ihres stacheligen Zimmergenossen anstecken.

»Hab’ ich dich etwa in den Bauch gepikst?« grinste der kleine Frechling, der weder Mensch noch Tier war. Paddy war ein aufgeweckter, kleiner, grüner Kaktus, dessen voller Name Sir Paddington Grusonii lautete.

»Beinahe!« schmunzelte Emma und warf Paddy einen vieldeutigen Blick zu, während sie in ihre Jeans und das T-Shirt schlüpfte, das sie am Abend zuvor über die Stuhllehne geworfen hatte.

»Tjaja, ich kann nun mal nicht heraus aus meiner Haut«, erwiderte der kleine, grüne Stachelkopf und räkelte sich genußvoll.

»Und ich vergesse immer wieder, daß du für deine Größe ganz schön frech bist! Warte nur, ich hab’ dich lange nicht mehr abgebraust ...« Emma machte ein gespielt drohendes Gesicht.

»Wasser? Bäääh!« Paddy zog einen Flunsch und schüttelte seine spitzen, goldgelben Stacheln in alle Himmelsrichtungen. Dann verschränkte er die kurzen Arme und fügte hinzu:

»Das meinst du doch nicht ernst, oder? Wenn du mich unter die kalte Dusche stellst, hole ich mir einen Schnupfen, und dann sollst du mal erleben, was es heißt, mit einem niesenden, hustenden, prustenden Echinokaktus das Zimmer zu teilen. Oh ja, und wenn ich mir dann eine Infektion zuziehe und am Ende an Naßfäule elendiglich zugrunde gehe, jaja, dann wirst du schon merken, was du in den guten alten Zeiten an mir hattest!«

Emma streifte sich ihren Lieblingspullover über und schüttelte lächelnd den Kopf:

»Du bist nicht nur wasserscheu, mein Freund, ein richtiger kleiner Dramatiker bist du!« lachte sie. »Sei bloß froh, daß du kein kleiner Junge bist. Sonst müßtest du dich täglich waschen und sogar die Zähne putzen!«

»Iiiiiiiihhh!« rief Paddy aus und schüttelte sich voller Abscheu.

»Pst. Sei mal still!« sagte Emma, die die Zimmertür vorsichtig geöffnet hatte und nun ins dunkle Treppenhaus spähte.

»Ich habe etwas gehört. Ich glaube, Mama ist aufgestanden«, flüsterte das Mädchen.

Emmas Eltern durften nicht erfahren, daß sich ihre Tochter wieder einmal mit ihrem kleinen, grüngelben Zimmergenossen unterhielt. Sie hielten Paddy für ein lebloses Gewächs, und sie sahen es nicht gern, daß Emma mit ihrem kleinen, grünen Gefährten redete, statt mit gleichaltrigen Jungen und Mädchen Freundschaften zu schließen. Emma erinnerte sich nur zu gut an das Donnerwetter, als Tante Kunigunde sich eines Sonntags bei einem ihrer unerwünschten Besuche im Hause Clock auf Paddys Kopf gesetzt hatte. War das ein Tohuwabohu! Emma hatte nicht aufgepaßt und den kleinen Kaktus für einen Moment auf dem großen Ohrensessel im Wohnzimmer abgesetzt, als Emmas Mutter plötzlich ihren Namen gerufen hatte. Das Mädchen war zu ihrer Mutter in die Küche gelaufen, und als die dicke Tante unbemerkt von ihrem ausgiebigen Toilettengang zurückgekommen war, hatte sie sich mit ihrem großen, behäbigen Hinterteil auf den Sessel niederlassen wollen. Und gerade, als sie den armen Paddy schon beinahe zerquetscht hatte, nun, da hatte er sich schließlich zur Wehr setzen müssen –, und so war es passiert! Paddy hatte seine allerdicksten Stacheln ausgefahren, und Tante Kunigunde war schreiend aufgesprungen und wie von einer Tarantel gestochen im Wohnzimmer umhergehüpft. Während die Tante sich das schmerzlich angestochene Hinterteil hielt, schimpfte sie Emma »eine verrückte kleine Göre, die nichts als Unsinn im Kopf habe!«

Es dauerte fast zwei Stunden, bis der Arzt mit einer Pinzette alle Stacheln aus dem Allerwertesten der Tante herausgezupft hatte. Nach diesem Malheur hatte Tante Kunigunde drei jammervolle Wochen lang »auf halber Pobacke« sitzen müssen. Das hatte urkomisch ausgesehen, aber Emmas Vater war über diesen kleinen Unfall sehr, sehr wütend geworden. Überhaupt sei es merkwürdig, einen Kaktus »Sir Paddington Grusonii« zu nennen, hatte er geschimpft. Und ihre Mama hatte Emma zu erklären versucht, daß ein Kaktus nun einmal nicht lebendig und darum kein ordentlicher Spielgefährte sei. Man könne nicht mit ihm spielen oder ihn gar streicheln wie ein Haustier. Emma hatte geschwiegen. Sie hatte es vor langer, langer Zeit aufgegeben, ihre Eltern von der Tatsache zu überzeugen, daß es auf der ganzen Welt keinen treueren Freund als Paddy geben konnte. Emma war von jeher ein stilles, in sich zurückgezogenes Mädchen.

Ihre Eltern, Titus und Elizabeth Clock, waren zerstritten, seit Emma denken konnte. Sie hatte gerade erst laufen gelernt, als sie eines Abends die Eltern wieder einmal heftig streiten hörte. Es war schon weit nach Mitternacht, und eigentlich hätte das Mädchen längst schlafen sollen, da schlich sich Emma leise ins Treppenhaus. Von dort belauschte sie die Auseinandersetzung der Eltern. Schon damals hatten sie sich laut angeschrieen und eine Menge Geschirr zerbrochen. Und genau so war es auch heute. An Weihnachten stritten sie gewöhnlich besonders lautstark und heftig.

Emmas Vater stammte aus Schottland. Lange vor Emmas Geburt war er aus Liebe seiner Frau nach Deutschland gefolgt. Nach und nach hatte er sich in Hamburg eine Existenz als Rechtsanwalt aufgebaut. Doch nach seinem zweiten Herzinfarkt hatte er seine Anwaltskanzlei aufgeben müssen. Emmas Mutter war eine erfolgreiche Chirurgin. Leider verbrachte sie weitaus mehr Zeit in ihrer Klinik als daheim.

An den Wochenenden gab es im Hause der Familie Clock fast immer Streit. Manchmal begannen Emmas Eltern schon vor dem Frühstück, aneinander herumzunörgeln. Häufig ging es um belanglose Kleinigkeiten. Emma hatte stets versucht, sich daran zu gewöhnen. Doch ohne Erfolg. Ihre Angst, daß die Eltern sich einmal voneinander trennen könnten, schien im Gegenteil täglich zu wachsen.

Zuweilen fand Emma Trost bei dem Gedanken, daß sie nicht immer ein Einzelkind gewesen war. Ihr Zwillingsbruder war unmittelbar nach seiner Geburt gestorben. Die Eltern sprachen niemals von ihm. Emma aber hatte von jeher in Erfahrung bringen wollen, woran ihr Bruder gestorben war. Doch Titus und Eliza Clock behaupteten stets, Emma sei zu jung, um die Umstände seines Todes vollends zu verstehen. Nach und nach hatte das Mädchen den Eindruck gewonnen, daß erst das Schweigen der Eltern seinen Bruder, dessen Namen es nicht kannte, wahrhaftig getötet hatte. Irgendwann hatte Emma schlicht aufgegeben, Fragen zu stellen. Doch tief in ihrem Herzen hatte sie niemals wirklich glauben wollen, daß ihr Zwillingsbruder »einfach so« gestorben war. Sie spürte, daß ihre Eltern ihr nicht die volle Wahrheit sagten.

Wenn sie allein in ihrem Zimmer vor sich hin grübelte, fragte sie sich oft, wie es wohl wäre, einen Bruder zu haben. Emma fragte sich, ob ihre Eltern sich weniger streiten würden, wenn ihr Sohn nicht gestorben wäre. Im Laufe der Zeit hatte Emma gelernt, sich in ihre eigene Welt zurückzuziehen. Und ihr kleiner, stacheliger Freund Paddy war zu einem wichtigen Teil ihres Lebens geworden.

»Welch ein herrlicher Morgen!« dachte Emma.

Mit einem Mal war sie hellwach und voller Tatendrang. Sie schloß die Zimmertür leise. Dann ging sie zum Fenster hinüber, schob Paddys Sandtöpfchen behutsam beiseite und öffnete es.

»Die Luft ist herrlich! Was hältst du von einem Spaziergang im Schnee?«

»Nicht mit mir! Ich bin nicht gut zu Fuß«, antwortete Paddy mürrisch, bevor er sich einem hingebungsvollen Gähnen widmete. »Geh und frag ›Miss Schreck-in-der-Morgenstunde‹!«

»Bitte sehr, wenn der Herr in seinem Sandtopf versauern möchte – mir ist es recht!« erwiderte Emma achselzuckend. Sie schlich zur Tür hinaus auf den Gang, dann horchte sie noch einmal kurz nach den Eltern. Alles blieb still. Auf Zehenspitzen glitt das Mädchen die Treppe hinab bis ins Kellergeschoß. Dort, unter den Stufen der Kellertreppe, wohnte Pepperoni.

»Pst«, sagte Emma leise und lauschte in die Stille hinein. Nichts rührte sich. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit. Vorsichtig spähte sie zwischen den Stufen hindurch.

»Pst, pst. He Peppi! Schlafmütze! Wach auf!« zischte Emma ins Dunkel. Da, plötzlich, blitzten zwei strahlend gelbe Augen, hell wie Feuerbälle, unter den Treppenstufen hervor. Pepperoni war aufgewacht. Aus ihren ausdrucksvollen Augen strahlte sie Emma an.

»Na, Tigerin, hast du endlich ausgeschlafen?« lächelte Emma.

»Uaaah!« gähnte Pepperoni und erhob sich gemächlich von ihrem weichen Ruhekissen. »Emmaaah! Ich hatte einen sooo süßen Trauuum. Hmmmh!« schnurrte sie und begann, ihre verschlafenen Glieder genüßlich zu recken und zu strecken.

»Dann erzähl ihn mir draußen, ja? Ich möchte Mama und Paps nicht aufwecken. Laß uns einen Spaziergang machen, hm?«

»Oh! Es ist ja noch ganz dunkel und viel zu früh! Laß mich ein bißchen weiterträumen, hmmmh!«

»Draußen dämmert es bald. Es hat geschneit, und die Sterne leuchten hell«, sagte Emma aufmunternd. Pepperoni verzog das Gesicht und murmelte:

»Bäh, Schnee! Da werden meine Pfötchen ja ganz naß. Nimm meinethalben den ›kleinen, grünen Giftzwerg mit‹, aber laß mich schlafen.«

»Ach, bis Paddy seine Füße aus dem Sand ausgegraben hat, ist der Schnee längst getaut«, entgegnete Emma. »Nun komm schon mit, Pepperoni. Etwas Bewegung täte dir gut.« Nach einer Pause fügte Emma mit hochgezogener Braue hinzu: »Ich sehe, daß du schon Bauchspeck angesetzt hast!«

»Was?!?«

Pepperoni war aufgesprungen. Blitzartig wechselte die Farbe ihres Fells von Schwarz nach Giftgrün. Die Nackenhaare standen ihr zu Berge, und sie machte einen Buckel. Pepperoni war eine Chamäleonkatze. Vermutlich die letzte ihrer Art. Je nach Stimmung und Gelegenheit wandelte sich die Farbe ihres Fells, ja selbst ihre Augenfarbe war veränderlich. Dabei war sie entsetzlich eitel und sehr darauf bedacht, sämtlichen Katern der Nachbarschaft zu gefallen. Der Richtige war ihr zwar noch nicht über den Weg gelaufen, aber sie glaubte fest an die große romantische Liebe. Bisher war es allerdings noch niemals geschehen, daß Pepperoni ihr glänzendes Fell rot aufflammen ließ. Der freche Paddy hatte es gewagt, ihr zu unterstellen, daß sie in Wahrheit gar nicht rot zu werden vermochte, zumal sie, Paddy zufolge, nicht einmal Schamesröte besaß. Doch Pepperoni hatte steif und fest behauptet, daß ihr Fell eines Tages in einem feurigen Rot erstrahlen werde. Sie erklärte, sie könne diese heikle Farbe nur im Moment noch nicht anlegen, weil sie noch nicht wußte, wie es sich anfühlte, jemanden mit voller Leidenschaft und aus tiefstem Herzen zu lieben. Wenn aber der Richtige endlich da wäre, dann, ja dann würde sie das strahlendste Rot anlegen, das je eine Katze ihrer Art getragen hatte!

»Waaas? Bauchspeck?!« Entsetzt blickte Pepperoni an sich hinunter. »Das ist nur mein Fell! Sieh doch, es wirft Wellen«, fügte sie rasch hinzu und streckte ihren Körper lang und länger, bis alle »Bauchwellen« verschwunden waren.

»Es liegt nur an der Körperhaltung. Siehst du, ich habe eine perfekte Figur«, betonte die Katze und änderte ihre Farbe augenblicklich in ein dunkles Violett. Emma schmunzelte. Es war nur allzu offensichtlich, daß ihre Eitelkeit Pepperonis Achillesferse war.

»Also, ich weiß nicht ...« sagte Emma stirnrunzelnd. »Nein, ich weiß wirklich nicht ... vielleicht sollten wir doch nach draußen gehen. Hier im Dunkeln kann ich nicht genau beurteilen, ob du recht hast. Nicht einmal die Farbe deines Fells kann ich genau erkennen!« Mit einem großen Satz sprang die nunmehr zitronengelb angelaufene Pepperoni aus ihrem Versteck. Dann besann sie sich und nahm eine aufrechte Haltung an. Schließlich sollte Emma nicht merken, wie sehr sie sich um ihr Äußeres sorgte.

»Also gut! Laß uns an die frische Luft gehen«, säuselte die Chamäleonkatze, die ihre inzwischen königsblaue Schwanzspitze kokett hin und her wedelte. »Das wird mir gut tun. Aerobic am Morgen vertreibt Schlummer und Sorgen!«

Mit königsblauer Miene tänzelte sie leichtfüßig an Emma vorbei die Treppenstufen hinauf. Vor der Windfangtür im Erdgeschoß machte sie Halt.

»Emma, Liebes, sei so gut und öffne mir! Ich bin noch nicht wach genug, um auf Türklinken herumzuspringen.« Hoheitsvoll setzte sich die Katze auf ihr wohlgeformtes Hinterteil und begann, sich mit der rechten Vorderpfote den Schlaf aus den Augen zu wischen. Dabei schnurrte sie selbstverliebt vor sich hin.

»Scht«, machte Emma, die immer wieder vergaß, daß ihre Eltern Pepperonis Stimme gar nicht hören konnten, »nicht so laut! Du weckst ja das ganze Haus auf!« flüsterte sie. »Und nimm endlich wieder eine normale Farbe an, dieses Orange steht dir überhaupt nicht!«

Pepperoni blickte erschrocken auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, daß das Königsblau sich in ein knalliges Orange verwandelt hatte. Eine Sekunde später war sie so pechschwarz wie bei ihrer Geburt.

Emma öffnete die Tür zum Windfang langsam und vorsichtig, damit nur kein Geräusch die Eltern aufweckte. Kaum war die Tür einen Spalt geöffnet, huschte etwas Schwarzes zwischen Emmas Beinen hindurch in die Garderobe. Von dort sprang Pepperoni wie ein geölter Kugelblitz auf das Waschbecken der Gästetoilette. Die eitle Katzendame nahm auf dem Waschbeckenrand Platz und warf einen ausgiebigen Blick in den Spiegel. Mit selbstverliebter Miene begann sie, sich zu putzen, während ihre Schwanzspitze vergnügt auf- und niederglitt. Emma verdrehte die Augen.

»Was für eine eitle, kleine Diva sie ist«, dachte sie und griff nach Schal und Mantel. Als ihr Blick in den Spiegel fiel, hatte Emma für einen kurzen Moment den Eindruck, daß der kleine, weiße Hautfleck unterhalb ihres Halses ein klein wenig größer geworden sei. Sie zog den V-förmigen Ausschnitt ihres Pullovers gerade und wickelte sich den Schal um den Hals.

Pepperoni kippte ihren kleinen Kopf hin und her, wobei sie ihrem Spiegelbild mit den Augenwimpern zuklimperte.

»Also wirklich, Pepps! Du bist schön genug!« bemerkte Emma. »Es ist noch nicht mal richtig hell draußen – und du?« Doch Pepperoni ließ sich nicht beirren. In aller Seelenruhe setzte sie ihre Morgentoilette fort.

»Was meinst du, steht mir das?« fragte die Katze und strich ihre Barthaare in einem großen Bogen himmelwärts.

»Ha! Jawoll! Das paßt zu Eurer verschnupften Hochnäsigkeit, Majestät«, grölte Paddy, der wie aus dem Nichts hinter den beiden aufgetaucht war. Offenbar hatte der kleine Kaktus seine Meinung geändert und Lust auf einen Spaziergang bekommen. Also war er flugs aus seinem gemütlichen Schlaftopf hinausgesprungen, und nun stand er auf seinen kurzen, grüngelben Wurzelfüßchen in der Tür und hielt sich den stacheligen Bauch vor Lachen.

»Grüner Wicht!« schimpfte Pepperoni, die sich aufgebracht zu Paddy umgedreht hatte. Unwillkürlich hüllte sich ihr Körper in ein giftiges Grün, das ihr gar nicht gut »zu Fell« stand.

»Hahahaha!« feixte Paddy. »Sieh mal in den Spiegel, Durchlauchtigste! Wer im Glashaus sitzt, sollte seine Geschäfte besser im Keller erledigen!«

»Oh!« Empört blickte die Katze in den Spiegel, der ihr den wenig schmeichelhaften Farbton entgegenhielt. Vor Schreck hatte sie ihre zuvor mit Spucke in Form gebrachten Barthaare losgelassen, und nun sträubten sie sich in alle Richtungen.

»Mach dir keine Sorgen, Teuerste. Es gibt ganz bestimmt irgendwo einen streunenden Kater, der auf deinen Damenbart abfährt!« Paddy bog sich vor Lachen.

»Du! Oh, du!« Pepperoni war mit einem Satz vom Waschbecken auf den Boden gesprungen. Nun sah sie wütend auf Paddy herab.

»Giftiges Insekt, du!«

Mit der offenkundigen Absicht, dem frechen, kleinen Kaktus eine Lektion zu erteilen, hob sie drohend ihre Pfote. Blitzartig fuhr Paddy seine goldgelben Stacheln aus, und Pepperoni schreckte zurück.

»Warte nur, Zwerg! Irgendwann krieg ich dich schon!« versetzte die Katze und stolzierte hoch erhobenen Hauptes und mit wehenden Barthaaren auf die verschlossene Haustür zu.

»Hört endlich auf zu streiten!« sagte Emma und schritt entschlossen an den beiden vorbei. Sie öffnete die Haustür und blickte hinaus. Eine fast magische Stille lag über der schneebedeckten Landschaft. Pepperoni nutzte die Gelegenheit und schlüpfte an Emma vorbei ins Freie. Draußen angelangt, fuhr die vor Schreck ganz weiß gewordene Peppi ihre Krallen aus, um ihre unerwartete Rutschpartie abzubremsen. Buckelnd und fauchend schlitterte sie auf ihrem schneeweißen Hinterteil die vereiste Auffahrt hinab.

»Iiiiiih! Ist das kalt!« hörten Emma und Paddy sie kreischen. Emma griff sich geschwind den Hausschlüssel, schubste Paddy, der seine Stacheln wieder eingefahren hatte, durch die Tür hinaus in den Schnee, und beide rannten Pepperoni hinterher.

»Ist dir auch nichts passiert?« fragte Emma besorgt, als sie die Katze eingeholt hatte. Doch Pepperoni, die vor Ärger gleich wieder grün geworden war, hatte sich längst aufgerichtet. Sie zog die Augenbrauen empor, ganz so, als sei gar nichts geschehen.

»Bloß ein unbedeutendes Malheurchen«, säuselte sie, um von ihrer alles andere als grazilen Landung im Schnee abzulenken. »Wollen wir nun ein wenig gymnastiziiiieren?« Paddy war den beiden atemlos hinterhergeeilt. Mit seinen kurzen Beinchen hatte er Mühe, sich im Schnee fortzubewegen, und so war er in einigem Abstand hinter Emma zurückgeblieben. Nun erreichte er die beiden gerade noch rechtzeitig, um Pepperonis Bemerkung angemessen zu kommentieren:

»Ach, gymnastiziiiiiieren nennen wir das?« übertrieb er mit gespitzten Lippen. »Du meinst wohl ›herumstolzieren und unverheiratete Kater anbaggern‹, ist es nicht so, Eisprinzessin?!«

Pepperoni beschloß, diese unwürdige Bemerkung nicht zu beantworten und Paddy statt dessen für den Rest des Tages mit Nichtachtung zu strafen. Aufrecht, das hübsche Näschen hoch in die Luft erhoben, schritt sie mit elegantem Hüftschwung den anderen voraus in die Winterlandschaft.

Etwa eine halbe Stunde lang waren die drei durch den Schnee gestapft bzw. gehüpft, denn Paddy mußte sich springend und hüpfend fortbewegen, um nicht mit seinen kurzen Wurzelfüßchen im tiefen Schnee steckenzubleiben, da begann Emma unvermutet zu weinen. Mitten im eisigen, schneebedeckten Wald war sie stehengeblieben, denn ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Pepperoni war bereits vorausgelaufen und hinter einer kleinen Anhöhe verschwunden. Der kleine Paddy aber hatte Mühe, Emma zu folgen. Durch die anstrengende Hüpferei war er ziemlich aus der Puste geraten, und als er Emma endlich einholte, bemerkte er zu seiner Bestürzung ihre großen, blauschimmernden Tränen, die, zu winzigen Eisperlen gefroren, wie ein salziger Hagelschauer zu Boden fielen.

»Emma! Du weinst ja!« rief der kleine Kaktus besorgt aus, während er hektisch hin und her hüpfend den herabfallenden Eistränen auszuweichen versuchte. »Was ist denn nur geschehen?!«

»Ach«, schluchzte Emma leise, »es ist ... Mama und Paps ... Ich weiß es ja auch nicht ...«

»Was denn bloß?« fragte Paddy bestürzt.

»Ich glaube ... Ich fürchte, sie werden mich fortschicken ...« brachte Emma weinend hervor.

»Abbaabbaabba, wieso denn das?« stammelte Paddy, »woher ... wie kommst du plötzlich darauf?«

»Ich weiß es nicht genau ... Es ist ... eine Ahnung, vielleicht ist es aber auch mehr als das ...« druckste Emma verzweifelt, während Paddy, auf der Flucht vor dem eisigen Tränenhagel, wie ein kleiner, grüner Schneeball vor ihren Füßen auf- und niederhüpfte.

»Emma, bitte hör doch mal ...« japste Paddy in den Pausen zwischen Emmas Schluchzern. »Bitte, hör mir doch zu! Nimmst du mich auf deine Schulter? Ich kann nicht mehr.« Das Mädchen lächelte traurig, hob den kleinen Kaktus vom schneeweißen Boden auf und setzte ihn sich auf die Schulter.

»Ach, Emma, deine Eltern streiten sich, seit du denken kannst. Wieso sollten sie dich ausgerechnet jetzt fortschicken, hm?«

»Weil ... nun, vielleicht gibt es keinen richtigen Grund. Aber in der letzten Zeit, da habe ich immer wieder denselben Traum gehabt ...«

»Aber Träume haben doch gar nichts zu bedeuten. Sie haben mit dem wahren Leben nichts zu tun«, unterbrach Paddy.

»Ich weiß nicht, Paddy, manchmal sehe ich in meinen Träumen klarer als im wirklichen Leben. Glaubst du nicht, daß Träume doch eine Bedeutung haben können?« fragte Emma hilflos.

»Also, ich weiß es wirklich nicht ... na ja, wenn überhaupt, dann bedeuten nur die guten Träume etwas. Alpträume sind Schäume! Du solltest sie schnell vergessen. Was genau hast du denn geträumt?«

»Ich habe geträumt, daß Mama und Paps sich einen Sohn gewünscht haben. Ich erfülle ihre Erwartungen nicht. Deshalb streiten sie sich ständig. Ich glaube, sie waren immer schon ein bißchen enttäuscht, weil ich nur ein Mädchen geworden bin.«

»Das ist doch Unsinn!« meinte Paddy. »Deine Eltern sind wahrscheinlich so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie sich gar nicht mehr miteinander beschäftigen können. Aber das kann ja nicht ewig so weitergehen.«

»Du meinst, sie schieben ihre Probleme vor sich her, statt nach einer Lösung zu suchen?« schniefte Emma.

»Vielleicht. Das ist eben das einfachste. Wenn man sich ordentlich anschreit, braucht man sich nicht über das Wesentliche zu unterhalten.«

»Na ja. Womöglich hast du ja recht, und es war wirklich es nur ein ganz dummer Alptraum. Hast du auch manchmal böse Träume, Paddy?« erkundigte sich Emma, während sie in ihrem Mantel nach einem Taschentuch suchte.

»Nein, nie! Ich träume immer, daß ich Pepperoni in die hoch erhobene Nase piekse! Das ist wohl eher ein Wunschtraum, oder was meinst du?!« sagte Paddy verschmitzt.

»Ach, ihr zwei! Daß ihr dauernd streiten müßt!« Emma schüttelte den Kopf und lächelte.

»Halb so wild. Was sich frißt, das liebt sich! Eigentlich ist die kleine Zicke ganz in Ordnung. Ich kann sie bloß nicht besonders gut leiden«, verriet Paddy gelassen.

»Wo ist sie überhaupt abgeblieben? Ich sehe sie nicht mehr!« Auf Emmas Stirn zeichnete sich eine sorgenvolle Falte ab.

»Die wird sich ’nen Schneekater gesucht haben, den sie ein bißchen auftauen kann!« frotzelte Paddy.

»Pepperoni!« rief Emma laut in den Wald hinein. »Pepperooooni! Wo steckst du?«

»Wenn du ihr unbedingt hinterherlaufen willst, dann sollten wir einfach ihrer Spur folgen«, philosophierte Paddy altklug. Emma sah zu Boden und erblickte Pepperonis Pfotenabdrücke auf der dicken Schneedecke. Die beiden folgten den kleinen Tatzenspuren bis zu einer Anhöhe, nach der sich der Weg gabelte. Der Schnee wurde immer tiefer und dichter, je weiter sie in den Wald vordrangen. Emma rief wieder und wieder Pepperonis Namen, doch die Katze blieb verschwunden. Als Emma ihren Schritt beschleunigte, griff Paddy ahnungsvoll nach einer ihrer Haarsträhnen. Als das Mädchen zu laufen begann, purzelte Paddy auf und ab, so daß er Mühe hatte, sich auf Emmas Schulter zu halten. Hilflos hüpfte er hin und her, kreuz und quer, bis ihm ganz schwindelig wurde. Die besorgte Emma lief schneller und schneller durch den Schnee. Sie bemerkte kaum, daß Paddy sich in ihrem Haar festklammerte und dabei unsanft durch die Luft geschüttelt, gerüttelt und geschleudert wurde. Wie ein kleiner Stacheltarzan in den Lianen hing der arme Paddy in Emmas dichtem Haar.

»Ah, endlich!« keuchte Emma, die vom Laufen ganz außer Atem war. »Da vorn, da! Da ist sie!« Sie blieb stehen und rief noch einmal laut Pepperonis Namen. Endlich wandte die Katze, deren schwarzes Fell vor Kälte einen Blaustich bekommen hatte, den beiden ihr Gesicht zu. Sie miaute einmal kurz und fing an, sich zu putzen.

»Na, die-hi hat ja Nerven!« hickste Paddy, der vom Durchgeschütteltwerden einen heftigen Schluckauf bekommen hatte. »Mir ist jedenfalls ganz schwi-hi-ndelig!«

Mittlerweile brach der Tag an, und die Schneelandschaft erstrahlte bald im aufgehenden Sonnenlicht. Von Ferne hörten Emma und Paddy Pepperoni ungehalten schimpfen:

»Nein, es war keine gute Idee, so früh am Morgen lustwandeln zu gehen! Keine gute Idee, nein! Die eiskalte Luft schadet meinem Teint!«

»Ich glaube eher, das vi-hi-le Parfum scha-ha-det deinem Hi-hi-rn!« sagte der hicksende Paddy vergnügt, während er in das goldgelbe Licht der aufgehenden Sonne blinzelte.

»Sollte ich ein Sonnenbad nehmen?« Pepperoni war auf eine erhöht gelegene Steinplattform geklettert. »Oh ja, das werde ich tun!« fügte sie hinzu und räkelte sich genüßlich, bevor sie eine sorgsam ausgesuchte Stelle der Plattform mit ihren fächerartigen Schwanzbewegungen vom frischen Schnee befreite. Nur noch ein letztes, schwungvolles Wedeln mit dem Katzenschwanz, dann, endlich, ließ sie sich nieder. Emma lächelte amüsiert. Plötzlich ertönte ein knarrendes Geräusch über ihren Köpfen. Emma trat einen Schritt zurück und sah sich um. Hoch oben in den Baumwipfeln bewegte sich etwas.

»Vielleicht ein Vogel, der hier überwintert«, dachte Emma. Sie hielt eine Hand schützend vor die Augen, weil das grelle Sonnenlicht sie blendete. Pepperoni saß noch immer schmollend auf der freigeschaufelten Stelle unmittelbar unter einer mächtigen Blautanne, die bis in den Himmel zu ragen schien. Die Tanne ächzte und knarrte unter der Last des frischen Schnees.

»Oh, nein!« rief Emma sorgenvoll aus, als sie das Unheil kommen sah. »Komm da weg, Peppi! Schnell!«

Doch es war zu spät! Mit einem ohrenbetäubenden Krächzen, Knacken und Knarren der sich unter der weißen Last biegenden Äste und Zweige löste sich eine gewaltige Schneemasse aus dem Wipfel des Baumes und sauste wie eine Blitzlawine zur Erde hinab und landete genau auf der Stelle, die Pepperoni mit ihrer Schwanzspitze soeben sorgsam freigewedelt hatte.

»Hi-hihi-hoppla-ha!« Paddy hielt sich vor Schadenfreude den Bauch und hickste gleich mehrmals hintereinander, als er sah, daß Pepperoni ihren Kopf aus dem weißen Haufen, der sie unter sich begraben hatte, hervorstreckte und ihn heftig schüttelte. Bei diesem Anblick konnte auch Emma das Lachen nicht mehr unterdrücken. Während Emma und Paddy sich nun also vor Lachen bogen, schimpfte und fluchte Pepperoni lauthals vor sich hin:

»So eine blöde Idee! Ich hätte unbesorgt weiterträumen können, aber ihr mußtet ja unbedingt mitten in der Nacht einen Spaziergang machen. Nun schaut mich an! Mein Fell! Es ist ruiiiiniert!« jammerte die durchnäßte Katze, die sich mühevoll aus der pappigen Schneemasse zu befreien versuchte.

»Hihi-hi-hihihi! In dei-hei-nem früheren Le-he-ben warst du bestimmt ein bego-ho-ssener Pu-hu-del!«

Paddy war außer sich vor Vergnügen. Es war ein Tagesauftakt nach seinem Geschmack!

Nach Pepperonis kleinem Unfall machten sich die drei Frühaufsteher auf den Weg nach Hause. Dort angekommen, öffnete Emma so leise wie möglich die Haustür, denn sie nahm an, daß ihre Eltern noch schliefen. Sofort schlüpfte Pepperoni durch den Türspalt ins Haus hinein, wo sie schnurstracks unter die Kellertreppe in ihr kuscheliges Bett verschwand.

Bevor Emma eintrat, lauschte sie für einen Moment ins Haus hinein. Sie hörte die Stimmen ihrer Eltern, die sich im Wohnzimmer unterhielten. Wahrscheinlich hatten sie gleich nach dem Aufstehen begonnen, miteinander zu streiten. Emma schloß die Haustür ebenso leise, wie sie sie geöffnet hatte. Dann zog sie ihren Mantel aus und horchte. Leise und vorsichtig öffnete sie die Zwischentür und spähte ins Haus. Die Eltern waren offenbar vollauf mit ihrem Streit beschäftigt. So vertieft in ihr Wortgefecht bemerkten sie nicht, daß ihre Tochter an ihnen vorbei die Treppe hinaufschlich. Oben angelangt, setzte sich Emma auf den Treppenabsatz und ließ ihren Tränen freien Lauf. Paddy war untröstlich über den Kummer seiner Freundin. Emma schluchzte leise, als sie ihre Mutter plötzlich sagen hörte:

»Es war ein Fehler, sage ich dir! Wir hätten den Jungen behalten sollen! Es war eine falsche Entscheidung, die wir übereilt getroffen haben. Es war ein bitterer Fehler!«

»Red keinen Unsinn!« schrie Emmas Vater zornig zurück. »Das hätte auch nichts geändert! Mir reicht’s! Hätte ich doch meine Heimat nie verlassen!«

Elizabeth Clock brach in Tränen aus. Mit dünner Stimme erwiderte sie:

»Und was geschieht nun? Was sollen wir jetzt tun? Wirst du es Emma sagen? Sie wird wissen wollen, wieso ...«

»So geht es nicht weiter! Wir müssen ihr die Wahrheit sagen!« unterbrach Titus Clock seine Frau.

»Also, gut. Ich werde sie aufwecken. Früher oder später mußte es ja so kommen«, erwiderte Emmas Mutter niedergeschlagen. Nach diesen Worten öffnete sie die Wohnzimmertür. Auf der Suche nach einem Taschentuch lief Elizabeth Clock schluchzend in die Küche. Unterdessen kauerte ihre Tochter mit dem schweigsam gewordenen Paddy auf ihrer Schulter noch immer auf dem Treppenabsatz.

»Siehst du, Paddy«, sagte sie traurig, »Träume werden wahr!«

Dann stand sie auf und ging zurück auf ihr Zimmer. Sie nahm ihren kleinen, stachelingen Freund vorsichtig von ihrer Schulter und setzte ihn zurück in sein Sandtöpfchen. Anschließend warf sie sich aufs Bett und begann zu grübeln. Kaum eine halbe Stunde war vergangen, da hörte Emma ihre Mutter rufen. Sofort sprang sie auf und lief die Treppe hinab. Die Eltern warteten im Wohnzimmer. Mit den allerschlimmsten Befürchtungen betrat das Mädchen den vom winterlichen Sonnenschein hell erleuchteten Raum. Titus Clock deutete auf einen Stuhl und gebot seiner Tochter, sich zu setzen. Kaum hatte Emma Platz genommen hatte, begann er ohne Umschweife zu sprechen:

»Mein Kind, wir müssen dir etwas mitteilen, das auch dich betrifft. Die Entscheidung ist uns sehr schwergefallen. Aber die Angelegenheit duldet keinen weiteren Aufschub, und daher ist es an der Zeit, dir die Wahrheit zu sagen. Deine Mutter und ich haben einvernehmlich beschlossen, uns für eine Weile zu trennen.«

Emma sah erst ihren Vater, dann ihre Mutter entgeistert an. Elizabeth Clock blickte zu Boden. Schließlich sagte sie mit einem tiefen Seufzer:

»Emma, du mußt wissen, daß wir uns schon seit längerem nicht mehr verstehen. Wir haben diese undankbare Entscheidung immer und immer wieder vor uns hergeschoben, aber glaube mir, meine Kleine, es ist sicher das Beste für uns alle, wenn dein Vater und ich von nun an getrennter Wege gehen. Und für dich, mein Schatz, wird sich diese Lösung auch ganz bestimmt als gut erweisen, davon sind wir überzeugt.«

Emma saß wie erstarrt auf ihrem Stuhl. Nun ergriff ihr Vater das Wort:

»Deine Mutter wird im Frühjahr zu einem Kongreß in die Vereinigten Staaten reisen. Ich werde sie begleiten. Vielleicht ergibt sich währenddessen die Gelegenheit zu einem Neuanfang für uns beide. Sollte allerdings auch dieser letzte Versuch ebenfalls scheitern, so werde ich von Chicago aus direkt nach Schottland fliegen. Ich werde also möglicherweise nicht mehr nach Deutschland zurückkehren.«

»Aber du kannst deinen Vater selbstverständlich jederzeit in Schottland besuchen«, ergänzte Emmas Mutter hastig.

»Habe ich etwas falsch gemacht?« fragte das Mädchen zaghaft.

»Aber nein, mein Liebling! Dein Vater und ich haben, jeder für sich, einige Fehler begangen, die mit der Zeit dazu führten, daß wir uns auseinandergelebt haben. Niemand außer uns beiden trägt dafür eine Schuld«, sagte Emmas Mutter sanft. »Es ist nun einmal geschehen. Damit du aber unsere ewigen Zankereien nicht länger ertragen mußt, haben wir uns überlegt, daß dir ein Ortswechsel sicher gut täte. Also darfst du deine Großmutter in Rumänien besuchen. Ist das nicht aufregend?! Dort, in Transsylvanien, wirst du zunächst für ein paar Monate, vielleicht sogar ein ganzes Jahr lang, die Schule besuchen. Das wird sicher wunderbar: ein neues Land, andere Menschen – und Grandma Tallulah freut sich sehr auf deinen Besuch!«

»Ich erinnere mich nicht an sie«, sagte Emma kleinlaut.

»Das ist nicht weiter verwunderlich. Immerhin warst du noch ein Baby, als deine Grandma dich das letzte Mal gesehen hat. Sie wird sich über das Wiedersehen mit dir ganz bestimmt sehr freuen!«

»Ich muß doch hier zur Schule gehen.« Zwei winzige Tränen liefen stumm über Emmas schmale Wangen. Ihre Verzweiflung war offenkundig. Dennoch verzog sie keine Miene. Eine starre Blässe stand über Emmas Gesicht, doch hinter den leicht geröteten Augen pulsierte dieselbe schreckliche Vorahnung, die sie in der Vergangenheit stets als einen bloßen Traum verkannt hatte.

»Den Schulwechsel haben wir bereits organisiert. Es ist alles gut geregelt«, erklärte Titus Clock. »Du wirst ein rumänisches Internat besuchen.«

»Kann ich Pepperoni mitnehmen?« fragte das Mädchen verstört.

»Nein. Die Katze bleibt hier!« antwortete ihr Vater langsam. »Deine Großmutter besitzt irgendeinen exotischen Raubvogel, der sich ganz sicher nicht mit Katzen vertragen würde.«

»Es geht leider nicht, Schatz. Aber deinen kleinen Kaktus, den kannst du gern mitnehmen«, ergänzte Emmas Mutter rasch. »Sieh mal, Emma, so ist es wirklich das Beste für dich«, fügte sie besänftigend hinzu.

»Woher willst du das wissen?« fauchte Emma zurück. »Du bist ja sowieso nie zu Hause!« Mit diesen Worten sprang sie vom Stuhl auf und rannte aus dem Zimmer.

Clockwise - Reise durch Traum und Zeit

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