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Liam

Katja Müller-Kuckelberg

Du lachst. Du lachst so laut und ehrlich. Und ich stehe daneben und kann nicht anders als mit dir zu lachen. Wie kannst du nur so lachen? So selbstbewusst und unbeschwert? Wie kann dein Grinsen nur so breit sein auf deinem kleinen Gesicht? Sie sagen, in deinem Alter müsstest du längst sprechen und so langsam solltest du lernen, die Toilette zu benutzen, sagen sie. Aber du stehst hier vor mir, in deiner Windel, sagst kein Wort und lachst. Ich weiß nicht, wer dir in deinem kurzen Leben schon begegnet ist, ich weiß nicht was du mit deinen großen blauen Augen schon gesehen hast, ich weiß nicht, was dein schmächtiger Körper ausgehalten hat. Sie sagen, du musst Schlimmes erlebt haben. Was genau passiert ist, wissen sie nicht, sagen sie. Wahrscheinlich hat es etwas mit Drogen und Gewalt zu tun. Ich weiß gar nicht, ob ich es überhaupt wissen will. Aber ich würde wirklich gerne wissen, was ich tun soll, wenn du deinen eigenen kleinen Kopf gegen die Wand schlägst. Ich würde so gerne wissen, was ich tun soll, wenn du weinst und schreist und dein Gesicht sich vor Angst und Schmerz verzerrt. Ich kann versuchen, dich abzulenken, kann dich kitzeln, dich in den Arm nehmen. Ich kann mich zu dir auf die kalten Fliesen setzen und mit dir darauf warten, dass die Geister dich in Frieden lassen. Manchmal krallst du deine Finger dann in meinen Pullover oder legst den Kopf auf meine Schulter. Manchmal schlingst du deine Arme so fest um meinen Hals, dass ich fast keine Luft mehr bekomme. Und dann lachst du wieder. Plötzlich ist das Gurgeln in deiner Kehle nicht mehr das hart heruntergewürgte Salzwasser deiner Tränen, sondern ein glucksendes Kichern. Und vor Freude schlägst du mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Wenn du nur wüsstest, wie unendlich glücklich mich dein Lachen macht. Dieses Lachen, das mir deine Zähnchen zeigt, das von deinen Mundwinkeln bis zu den Ohrläppchen reicht und deinen ganzen Körper vibrieren lässt. Dieses Lachen, das so wertvoll, so zerbrechlich ist, das jeden Moment von einem weiteren Schreikrampf abgelöst werden kann.

Manchmal wünsche ich mir, ich könnte den ganzen Tag mit dir auf dem Teppich sitzen. Ich wünsche mir, wir könnten den ganzen Tag gemeinsam Verstecken hinter unseren eigenen Händen spielen. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte dich jedes Mal hochheben, wenn du mit flehendem Blick deine Arme in die Höhe streckst. Aber da sind neun andere Kinder, mit denen du dir meine Zeit und Aufmerksamkeit, meine Liebe und Geduld teilen musst. Manchmal hältst du es nicht aus, wenn es nicht du bist, der auf meinem Schoß sitzt. Dann spuckst du mich an oder trittst das Baby in meinem Arm. Dich so zu sehen bricht mein Herz. Das bist nicht du. Das sind die Geister in deinem kleinen Kopf, die du nicht gerufen hast. Es sind die Schatten einer Vergangenheit, von der ich keine Vorstellung habe.

Wenn du wüsstest, wie oft du mein Herz brichst. Jedes Mal wenn ich denke, ich hätte dein Vertrauen tatsächlich gewonnen, wenn ich denke, ich könnte deine Geister vertreiben, dann verletzt du wieder dich oder ein anderes Kind. Du hast das nicht verdient. Du hast es nicht verdient, nur eines von 10 Kindern in der Toddler Station zu sein, und du hast es nicht verdient, dass die Erzieherin mit dir schimpft, wenn du zu laut, zu lange und ohne ersichtlichen Grund schreist. Du hast Eltern verdient, die nur Augen für dich haben, deren ganzer Stolz dein unverständliches Gebrabbel ist, für die du mehr als nur ein anstrengender Aspekt ihres Berufes bist. Du hast Eltern verdient, die dich bedingungslos lieben, so wie meine Eltern mich immer geliebt haben und du hast Eltern verdient, die dich ihre Liebe jeden Tag spüren lassen, so wie ich mir der Liebe meiner Eltern jeden Tag sicher sein kann.

Du hast Eltern. Und wenn die Richterin sie im Verhandlungssaal nach dir fragt, dann sagen sie, dass sie dich lieben. Ich muss mir auf die Lippe beißen, wenn ich das höre, denn ich weiß, es grenzt an ein Wunder, dass deine Mutter tatsächlich hier ist und dass dein Vater neben ihr steht ohne sie anzuschreien. Und ich weiß, dass keiner der beiden zu dem gerichtlich angeordneten Drogentest nächste Woche erscheinen wird.

Aber jetzt gerade stehst du vor mir und lachst und all die Schwere, all die dunklen Gedanken erscheinen wie ein leises Echo aus weiter Ferne. Du lachst so laut und ehrlich. Und ich stehe daneben und kann nicht anders als mit dir zu lachen. Wie kannst du nur so lachen? So selbstbewusst und unbeschwert? Wie kann dein Grinsen nur so breit sein auf deinem kleinen Gesicht? Du grinst mich an und nimmst meine Hand. Du willst gehen. Und du willst, dass ich mit dir gehe. Wohin? Ich weiß es nicht.

Touché - und andere Generationengeschichten

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