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Als mein Vater mich verließ

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An dem Tag, an dem mein Vater mich verlies, änderte sich alles. Alles in mir und alles um mich herum. Abgesehen von dem Schmerz in meinem Körper, machten sich Tausende von Gedanken auf den Weg durch meine Nerven- und Gehirnzellen, machten sich breit in jeder Ecke meines Hirns, rauschten mir durch den Kopf. Warum? Wieso? Das kann nicht sein. Der letzte Kontakt, der letzte Satz, die letzte Umarmung.

Ich wusste schon, als mein Handy klingelte und ich sah, dass es meine Mutter war, dass etwas passiert sein musste. Sonst hätte sie mich niemals während meines Urlaubs angerufen. Doch dass es etwas derartig Brutales war, erwartete ich nicht. Ich hörte ihre Worte und spürte, wie mein Herz durch einen heißen, brennenden, explosionsartigen Stoß mit Schmerz infiziert wurde, der langsam in jede meiner körpereigenen Zellen kroch.

Schmerz. Unendlicher Schmerz, nur Weinen und Schreien, kaum Atmen. Mir war so schlecht, Übelkeit, mein ganzer Körper tat weh. Von jetzt auf gleich. Nur eine Sekunde im Leben und sie änderte es von Grund auf. Ich sah Palmen, die im Wind wehten, Hauswände, die von der kanarischen Sonne bestrahlt wurden, Fenster mit hässlichen Vorhängen, Autos, die vor unserem Apartment hin und herfuhren, als hätte sich nichts geändert.

Nichts kann ihren Rhythmus durchbrechen. Mich hingegen hatte gerade Etwas mit einer derartigen Wucht durcheilt, dass ich mich wunderte, dass mein Herz noch schlug und meine Lunge noch atmete, sogar schneller als normal. Ich konnte nicht klar denken. Alle Gedanken mischten sich in einen riesigen Chaosball zusammen, der durch mein Gehirn tobte. Als würden meine Gedanken Karussell fahren und einen Heidenspaß haben.

Nur ich nicht. Ich fühlte mich, als würde mein Kopf platzen. Ich riss einige Kleider von mir. Ich konnte nicht atmen. Ich schrie und weinte. Mein Körper wollte ausbrechen, fliehen, vor diesem Schmerz. Aber er konnte nicht. Er war gefangen in sich selbst. Immer wieder erinnerte ich mich an die Worte meiner Mutter: »Es ist was ganz Schlimmes passiert! Der Papa ist gestorben.«

Mein Vater: mein Berater, Vertrauter, Aufmunterer, Scherzkeks und weiser Mann. Der, der immer eine Lösung kannte. Der, der fühlen konnte, was ich fühlte. Der, der mir so nah war, wie kaum jemand in meinem Leben. Immer wieder sagte ich mir: »Das kann nicht sein. Das kann nicht sein ... Und wenn es wahr ist, dann schaffe ich das nicht. Das überlebe ich nicht. Papa, du warst doch gerade noch da!«

Gerade eben, vor ein paar Sekunden war meine Welt noch in Ordnung, als ich in der Küche stand und eine Tomate schnitt, und jetzt das. Schlagartig wurde mir klar, dass mein bisheriges Leben hier endete und nun ein ganz anderes Leben begann. Eins, dass ich gar nicht wollte und nicht kannte. Die 30 Jahre, die ich lebte, kannte ich schließlich nur mit meinem Vater. Er war immer Teil, immer da. Er war Teil meiner Identität. Wie sollte mein Ich ohne ihn funktionieren?

Innerlich zerrieselte dieses in ein Häufchen Elend. Über 3 Stunden konnte ich nicht aufhören zu weinen. Mein Freund hielt mir die selbstgemachte spanische Tortilla unter die Nase und bat mich, einen Happen zu essen. Ich konnte nicht. Die Tortilla schmeckte nach Tod. Ich rief wieder und wieder das Handy meines Vaters an, weil ich nun beschlossen hatte, es nicht zu glauben. Er würde bestimmt rangehen. Nach dem 5. Mal gab ich auf. Die Stimme, die ich hörte, war die meines Vaters, doch kam sie von einem Tonband und sprach immer wieder dieselben Worte: »Sie sind verbunden mit der Mobilbox von …« und er füllte die Lücke schwungvoll mit seinem Namen. Ich konnte nicht aufhören, seine Stimme zu hören.

Es war mittlerweile spät abends. Mein Freund half mir, zu duschen. Mein Körper war wie gelähmt. Immer wieder brach der Schmerz aus mir heraus. Nicht mal ein paar Minuten schaffte ich ohne Weinen. Der Schock hemmte meine Bewegungen, aber mein Kopf rauchte noch immer. Als ich im Bett lag und schlafen sollte, machte ich kein Auge zu. Nichts auch nur Annäherndes wie Entspannung war möglich. Wenn mir die Augen mal aus Erschöpfung zufielen, öffnete ich sie schreckhaft wieder. In meinem Kopf tobte es: Wo bist du Papa? Wo bist du? Irgendwann schlummerte ich leicht weg. Mit jedem Aufwachen schrie ich innerlich wie ein Kind: Wo bist du Papa?

Es wurde hell. In meinem tranceartigen Zustand schlug die schlimme Nachricht erneut durch und ich konnte nichts als Weinen. Wieder wurde mir schlagartig unglaublich übel und ich konnte mich nur quälend hin und her wälzen. Mein Freund zwang mich zum Aufstehen, zum Essen und zum Rausgehen. Wir machten einen Spaziergang durch den Ort, am Hafen vorbei und am Strand. Zu viele Rentner. Alles grauhaarige Männer, die es sich in der Sonne gut gehen ließen. Ich konnte sie kaum ansehen. Ich entwickelte einen derartigen Hass und eine Wut auf sie. Wieso war es meinem Vater verwehrt geblieben so alt zu werden? Was ist das für eine verdammt ungerechte Welt? Gut, dass ich meine Sonnenbrille trug, die die Männer vor meinen boshaften Blicken schützten und zuließ, dass ich mich etwas von der Welt distanzieren konnte. Irgendwann hielt ich die Heiterkeit und das einfache Fortschreiten der Welt nicht mehr aus und ging zurück zum Apartment.

Natürlich brachen wir den Urlaub ab und flogen so schnell es ging zurück. Ich ertappte mich dabei, wie ich darüber nachdachte, überhaupt zurückzufliegen. Ich dachte: »Ach Papa hätte bestimmt gewollt, dass ich bleibe.« Im selben Moment fiel mir auf, wie absurd dieser Gedanke war. Als wäre es ein Geburtstag oder eine sonstige Veranstaltung, die ich verpasste. Natürlich musste ich zurück. Das, was mich zu diesem Gedanken verleitet hatte, war die absolut tiefgreifende Angst vor dem, was jetzt alles auf mich zukommen würde und davor, der Tatsache ins Auge zu sehen. Wir gaben das Auto zurück, checkten am Flughafen ein. Jeder Kontakt mit Menschen war eine absolute Herausforderung, als hätte ich es verlernt.

Ich musste mich zusammenreißen, nicht die Fassung zu verlieren und überhaupt ein vernünftiges Wort herauszubekommen. Zudem fragte ich mich, ob mein Gegenüber mir nicht sofort ansehen müsste, dass bei mir etwas ganz und gar nicht stimmte. Im Wartesaal schob ich mir wieder meine Sonnenbrille auf die Nase und weinte heimlich an der Schulter meines Freundes. Auch im Flugzeug nahm ich sie nicht ab. Ich brauchte Abstand von dieser grausamen Welt. Würden wir jetzt abstürzen, war es mir egal. Dann würde ich vielleicht wenigstens Papa nochmal sehen.

Vielleicht würde ich zu ihm kommen? Dieser Gedanke nahm mir zum ersten Mal jegliche Flugangst. Wieder machte ich kein Auge zu. Ich konnte nur starren. Ich starrte und beobachtete die Menschen in den vorderen Reihen. Eine Frau mit Kind, die ein paar Mal auf Toilette ging und sich hin und wieder mit Sitznachbarn unterhielt, welche sich an ihrem Baby erfreuten.

Ich überlegte mir, ob diese Frau eigentlich wusste, wie gut es ihr gerade ging.

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