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Individuen

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Als stille Erinnerung fahre ich fast täglich zum Flughafen hinaus. Ich beobachte die Ankommenden: Einheimische, Gäste, Berufspendler, Prominente……. Alles wirkt wie bunt gemischt und durchgequirlt. Diese zufällige Konstellation von Reisenden kann es nur einmal geben und wird nie wieder und auch nicht in ähnlicher Form zusammentreffen, außer, ja, außer die Zeit könnte auf diesem Augenblick zurückgedreht werden.

Dieser stündlich neu formierte Strom an Menschen. Beim Anblick ihrer Augen fliegen an mir ihre Gedanken, Reflexionen, Grübeleien, Rückblicke, Einbildungen, Fantasien oder sogar Luftschlösser vorbei, sodass ich wie in einem aufgeschlagenen Buch darin lesen kann. Alles ist darin so einmalig wie zufällig zusammengestellt und deshalb einzigartig inspirierend. Wer diesen Ort wie ich besucht, wird ähnliche Erfahrungen sammeln und sich vermutlich darin wiederfinden können: als winziges Etwas, möglicherweise sogar als Winziges Ganzes. Es sind Erlebnisse oder Episoden, die das Leben schreibt und die uns miteinander verbinden, weil wir sie nachvollziehen können. Weil wir Ähnlichkeiten darin entdecken und eben teilweise uns selbst darin wiederfinden. Es ist der Spiegel der Seele bereitgestellt und er wird jedem vorgehalten, um darin dem Menschen genügend Raum an Gefühlsregungen zu bieten, obgleich es nur ein augenblickliches Rauschen des (Menschen) Stromes ist, der sich bereits im nächsten Augenblick wieder zu einer Unschärfe und nur zu Erinnerungen verrauscht hat und anschließend sich in der Stadt gänzlich auflösen wird.

Jetzt kommt der Typ Businessmann. Souverän, lässig im Auftritt. Anzugträger und nur mit Handgepäck ausgestattet (dasselbe gilt auch für Frau!). Der Blick ist fest und zielgerichtet. Ein schnelles Telefonat, eine Whatsapp zur Info. So geht er durch das Gate und wendet sich dann schnellen Schrittes dem Ausgang zu. Und hier: Der Prominente mit dem aufmerksamkeitsfordernden, umherirrenden und fragenden Blick: „Erkennt man mich, obgleich oder weil ich mich hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt habe?“, mit betont lässigen Bewegungen dazu, die eher einem Schlendern gleichen und sowohl Aufmerksamkeit wie auch Distanz signalisieren sollen.

In einer Vielzahl werden Tollpatsche, Ängstliche, Vielredner, Schweiger, Erkundiger, Hilfsbereite wie Ablehnende aus dem Gate gespült, um bereits im nächsten Augenblick wieder unsichtbar zu werden. Gesichter, die unscheinbar sind, blass, nichtssagend. Personen, die gläsern wirken, weil sie durch die anderen, bemerkenswerten sofort hindurchscheinen. Diese eben Geschilderten haben nichts zu erzählen und werden auch nichts zu erzählen haben. Sie bleiben in ihrer Oberflächlichkeit, Ignoranz oder auch nur Langweiligkeit gefangen, an deren nicht vorhandenen Kanten und Ecken nichts hängen bleiben kann. Oder noch viel unerträglicher, in deren Leere Erlebnisse verloren gehen, weil sie weiterhin nur Leere generieren können.

Jetzt werden Gaukler, Hypochonder, Hyperventilierende, Kriminelle, Planlose heraus gespült. Wenige Farbtupfer in der grauen Masse, die darin wie verspritzter Tomatensaft wirken, einerseits auffällig wie gleichzeitig fremdartig. Auch diese kleine Gruppe hat nichts zu erzählen. Sie erzeugen direkt ein abwehrendes Stöhnen oder auch Bürde einer Aura, weil sie problembelastet nervend sind, sodass mein Blick hastig von diesen wegspringt.

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Der Augenleser

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