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Eine schicksalhafte Telefonnummer

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Ein paar Tage später.

Mein angestammter Platz ist besetzt. Ich überlege mir, ob ich um ihn kämpfen soll, schließlich ist es ja „mein“ Platz. Furcht einflößend kann ich die junge Dame, die darauf platzgenommen hat, erst einmal anschauen. Zu meiner Enttäuschung nimmt sie mich nicht wahr. Ja, sie respektiert mich nicht einmal! Vertieft und gebeugt in ihr Handy glotzend, ist alles um sie herum Luft. Vermutlich könnte ich ihr sogar die Sitzbank mit meinem Platz wegziehen, sie würde weiterhin in dieser Position verharren! Besäße ich ihre Handynummer, würde ich ihr jetzt einen fiesen Post zuschicken! Aber so schwänzel ich um die Bank herum, auch um sie abzulenken oder verwirren, jedenfalls mit dem Ziel, meinen Platz kurzfristig zu erlangen.

Endlich wird der Platz neben ihr leer. Ich habe mir zuvor schon eine Taktik überlegt, um sie zu verscheuchen. Und die setze ich sofort um. Ganz überlegt fange ich an zu niesen. Einmal, zweimal! Nichts bewegt sich neben mir. Nicht einmal ein Blick! Also noch einmal von vorn. Und diesmal viel lauter. Nichts! Und jetzt mit voller Wucht in Ihre Richtung, worauf ich gleich ein „Entschuldigung!“ nachfolgen lasse. Langsam bewegt sich diese Frau, rückt etwa 20 cm von mir ab, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Doch ich lasse nicht locker. Also noch einmal: So laut es nur geht: Haaaadschiiiii! Etliche Nebenstehende drehen sich um. Einer wünscht Gesundheit, worauf ich mich bedanke (endlich mal jemand mit Benehmen!). Doch was macht die Frau neben mir. Selenruhig zieht sie ein Tempo aus ihrer Tasche hervor, wobei sie weiterhin nur auf ihr Handy schaut, und reicht es mir zu.

»Danke!«, antworte ich artig. »Bei dem Wetter ist es auch kein Wunder, eine Erkältung zu haben. Fast die ganze Stadt ist zurzeit erkältet!«

Doch jetzt kommt es:

»Meinen Platz, auf den Sie es abgezielt haben, bekommen Sie nicht. Sie sind ja gar nicht erkältet! Sie besitzen keine Erziehung!«, bemerkt die junge Dame schroff.

Hoppla! Das hat mich so richtig unerwartet getroffen. Ich erröte wie glühendes Eisen und… mach mich schnell aus ihren Augen. Nur weg von Ihr, aus ihren Augen und von meinem Platz, den ich aus der Entfernung nochmals mit meinen Augen streichele. Hinter einem Pfeiler bleibe ich erst einmal beobachtend stehen. Mit was für Leuten man es manchmal zu tun bekommt? Unzufrieden laufe ich umher, setzte mich schließlich in ein Café, von dem ich auch Ihr Verhalten versteckt beobachten kann. Ständig bewegt mich die Sorge um meinen Platz, tröste mich nach dem zweiten Kaffee damit, dass dieser augenblicklich für mich warmgehalten wird. Solange diese Person dort sitzt, kann niemand anderer dort Platz nehmen. Auch wenn ich mich mittlerweile beruhigt habe, nimmt doch nur ein Wort in meinem Kopf einen festen Platz ein: unverschämt! Von dieser herzlosen Person! Man sollte augenblicklich einen Dienst beauftragen, der meinen Platz ständig freihält. Wer könnte das erledigen? Nochmals, um eines klarzustellen: In solch eine peinliche Situation möchte ich in der nächsten Zeit nicht mehr verwickelt werden. Basta!

Jetzt geht ein Ruck durch ihren Körper. Steht sie auf? Tatsächlich, sie erhebt sich, zieht eine Schleife und bewegt sich geradezu auf meinen Platz im Café zu. Selbstverständlich tue ich so, als würde ich sie nicht bemerken, in dem ich belanglos in der Bestellkarte blättere, sie dennoch im Blick behalte. Was plant sie? Plant sie überhaupt etwas oder ist ihr Kommen nur ein Zufall? Wer will bei dieser abgebrühten Person daran glauben wollen? Ich jedenfalls nicht! Und tatsächlich schiebt sie sich dicht an meinem Platz vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und doch geht eine kaum wahrnehmbare Bewegung durch ihre rechte Hand. Und schon ist sie weg! Puuuh, jetzt kann ich erst einmal tief ausatmen. Unverzüglich geht mein Blick in Richtung meines Platzes auf die Bank. Mein Platz ist frei. Sofort rufe ich nach dem Kellner, entscheide mich, nicht zu warten, sondern lege entsprechendes Kleingeld auf den Tisch. Dabei fällt mein Blick auf einen zusammengefalteten Zettel. Der hat doch eben hier noch nicht gelegen? Hastig greife ich zu und laufe schnurstracks zu meinem Platz, damit dieser nicht wieder besetzt werden kann. Geschafft! Erst einmal Sitzen und wieder eingewöhnen. Jetzt fällt mir auf, ich halte immer noch den Zettel in meiner Hand. Langsam falte ich dieses hastig aus einem Kalender gerissene Blatt auseinander. In dicker Schrift steht dort eine Handynummer notiert und ein Smiley ist danebengesetzt worden.

Eine Telefonnummer? Was bedeutet das? Wessen Telefonnummer soll das sein? Ruhig! Erst einmal die Nerven bewahren und nachdenken. Wenigstens sitze ich auf meinem Platz und den kann mir erst einmal keiner wegnehmen. Der wird mich beruhigen und klare Gedanken bringen.

»Aaahhh!«, muss ich laut und unbemerkt ausgerufen haben.

»Ist Ihnen nicht gut?«, höre ich eine besorgte Stimme neben mir.

»Doch, doch! Alles gut!«

*

Wo bleiben eigentlich die klaren Gedanken nach all den Geschehnissen der letzten Wochen? Offensichtlich bin ich nicht nur angeschlagen, sondern verwirrt. Nach einer Weile: Ich werde jetzt erst einmal ein paar Tage wegfahren und Urlaub machen, um auf andere Gedanken zu kommen. Doch leichter gesagt als getan. Zwar bin ich mit dem Auto an die Ostseeküste über Rostock nach Fischland-Darß gefahren und tummele mich mittlerweile unter den normalen Urlaubern. Doch dass es mir Spaß macht, kann ich nicht ausdrücklich sagen. Ja, ich laufe in Ahrenshoop durch die Galerien, besuche das Kunstmuseum Ahrenshoop, welches für mich einen schönen Anblick bietet und nur wenig entfernt von der Steilküste am „Weg zum Hohen Ufer“ liegt. Sehr bewegend wie zugleich auch beruhigend, denn auch diesmal liegt die Ostsee wie ein Spiegel vor mir.

Jedes Mal entdecke ich irgendwelche Kleinigkeiten, an denen vermutlich viele Besucher blind vorbeischlendern. In eine Föhre haben vor langer Zeit, genauer 1914, zwei Menschen ihre Namen eingeritzt und einen eierförmigen Kreis, vielleicht besaß die Figur früher einmal die Andeutung eines Herzens, die aufgrund des Wachstums nunmehr verloren gegangen ist, drum herum geritzt. Auch die Namen sind mitgewachsen, dennoch gut zu lesen. Friedrich und Liselotte stehen dort. Aber, was ich viel immanenter empfinde: Sie haben das Wort „Hoffnung“ daruntergeschrieben.

Hoffnung! Eigentlich ein simples Wort, bestehend aus nur acht Buchstaben, jedoch mit einer großen Wucht an Bedeutung ausgestattet. Ich habe meine Hoffnung mit meiner Freundin verloren. Wir hatten eine gemeinsame Zukunft geplant und daran geglaubt. Und dennoch lebt eine neue Hoffnung in mir weiter!

Seit geraumer Zeit herrschen zumindest in Europa relativ friedliche Zeiten, jedenfalls tobt kein großer Krieg! Wie jedoch hat es sich mit Friedrich und Liselotte verhalten?, geht mir durch den Kopf. 1914 war ein schwieriges Jahr und zugleich ein Schicksalsjahr für das Deutsche Reich. Und natürlich möchte ich auch nicht die anderen Länder vergessen.

Wieder einmal hatten zuvor die europäischen Mächte mit ihren sogenannten Waffenhufen gescharrt und letztlich diese auch in Bewegung gesetzt. Und am Geschirr dieser Pferde hingen wie zuvor auch die Lafetten und Geschütze. Hinter diesen liefen „blindwütig“ gehorsam junge Männer, im Glauben für eine gute Sache tätig zu sein.

Ja, ich habe etliche Bilder aus dieser Zeit betrachten können, auf denen große „Verabschiedungsfeiern“ abgebildet sind, auf denen Schulklassen, Familien, allesamt mit Fahnen wedelnd und Blumen grüßend aufgestellt sind. Zumeist sind diese Karten mit martialischen Sprüchen übertitelt wie in etwa „Bald werdet ihr die Sieger bekränzen! Oder „Vorwärts mit Gott!“ Oder „Siegreich kommen wir zurück!“ oder….. Glorie wie Siegesgewissheit spricht aus den Gesichtern der jungen wie alten Soldaten und aus ihren Augen bricht eine Zuversicht, Begeisterung und Stolz hervor, die sicher viel zu berichten hätten.

Nur Jahre später vermittelten diese Bilder ganz andere Werte und von Würde war darauf nichts mehr zu entdecken. Zerlumpte, gebrochene und verwilderte Gestalten auf Krücken, denen die Beine abgeschossen waren, etliche, die Augenbinden trugen, weil sie erblindet waren, waren zurückgekommen. Oftmals gab es nur noch alte Bilder Trauer beflort als Erinnerung im Haus, weil die Männer und Kinder erschossen oder mit Giftgas getötet worden waren. Der einstige Stolz war dem Elend gewichen. Und noch etwas fällt auf: Diese Jünglinge von siebzehn bis Anfang zwanzig sahen wie ihre eigenen Väter aus. Gealtert in ein paar Kriegsjahren um eine Generation.

Und diesmal, bei ihrer schmachvollen Rückkehr standen nicht die Stadthonoratioren im Vordergrund, sondern die wenigen und trauernden Angehörigen, die wie immer die Überreste ihrer Soldaten nach Hause schleifen durften. Die Honoratioren hatten sich hinter ihre festen Mauern zurückgezogen und lebten dort in ihrer Scheinwelt weiter und betrieben dort das nahezu endlose Spiel der gegenseitigen Beschimpfungen und Schuldzuweisungen. Beschämend und welch Hohn auf die Opfer und Tränen der Menschen. Doch Schuld besaß auch wie immer niemand an dieser Situation, denn die Anordnung war „von oben“ gekommen und musste unbedingt ausgeführt werden. Verflucht seien diese wahnsinnigen, gefühlslosen Geister. Augenblicklich würde man sich einen ausgleichenden, friedvollen Geist, so wie es Jesus einmal gewesen ist, wünschen. Jedoch zu viel Zeit ist seitdem vergangen und diese Hoffnung in Vergessenheit geraten! Nur manchmal piepst eine schwache Mäusestimme von irgendwo auf, über die von allen Seiten gleichzeitig eingeschrien und die sofort zum Schweigen gebracht wird. Hoffnung vice versa Realität!

Wie es Friedrich und Liselotte ergangen ist, wissen wir nicht und werden es auch nicht erfahren?

Nur ein paar Zentimeter höher sind zwei weitere Namen eingeritzt worden. Diese sind 1939, also 25 Jahre später dazugekommen. Karl und Hermann sind dort zu lesen. Und wieder ist ein Kreis um die Namen eingekerbt worden. Und auch ein Zusatz steht dort zu lesen: „Hoffnung! Gibt es die?“ Vermutlich hatten die beiden ihre Einberufung erhalten und waren dann zu diesem Baum gelaufen, um sich auch dort zu verewigen. Möglicherweise waren es Freunde, vielleicht auch Brüder, die dieses Mal in den geschichtlichen Ofen des Krieges geworfen werden sollten. Möglicherweise waren es Kinder von Friedrich und Liselotte?

Tatsächlich ließe sich sehr viel darüber spekulieren und konstruieren. Aber ganz ehrlich: Was würde es helfen?

Und was mache ich? Ich hole ein kleines Messer aus der Tasche. Wie allein zieht die Klinge ihre Bewegung auf dem starken Stamm: „Hoffnung! Die gibt es immer! Denn wer diese aufgibt, gibt sich selbst auf!“

Ich werde in ein paar Jahren wieder diesen Baum besuchen kommen und nachschauen gehen. Möglicherweise befinden sich die nächsten Namen und auch ein weiterer Spruch dort auf dem Stamm. Allerdings, so könnte ich mir genauso vorstellen, dass dieser Baum gefällt worden ist, um jegliche Schulddiskussion im Keim zu ersticken. Mal sehen, was ich dort vorfinden werde?

Die Fischbrötchen in dem zentral gelegenen Imbiss sind berühmt, wie auch sehr begehrt. Man darf nicht zu spät kommen, um noch ein paar Leckereien erwerben zu können. Immer, wenn ich solch einschneidende Erlebnisse erlebe, fängt augenblicklich mein Magen wie ein Hund zu knurren an. Dieser Imbiss befindet sich in Schrittweite von dem Baum und mir. Und so lege ich die kurze Strecke zu Fuß zurück. Bereits etliche Meter zuvor kündigt sich der Betrieb durch den angenehmen Geruch an. Auch diesmal herrscht dort ein großes Treiben. Es gelingt mir, zwei unterschiedlich belegte Brötchen zu bekommen. Wie gesagt: sehr lecker und sehr empfehlenswert! Ein befriedeter Magen lenkt mich sofort von meinem Problem oder den Gedanken darüber ab. Ist er erst angefüllt, wandelt seine peristaltische Arbeit meine Gedanken in Wärme um und erzeugt sogleich angenehme Gefühle in mir.

So laufe ich zum Strand, lege mich in die wärmende Sonne und beginne die Umgebung zu beobachten. Diverse Küstenvögel tummeln sich auf dem Sandboden. Hier und da schreit ein Vogel auf. Gerade jetzt kommt eine Möwe mit ihrem Fang angeflogen. Sie trägt eine lebende Scholle in ihrem gebogenen Schnabel, wobei sich der Fisch mit Körperschlägen befreien will. Nur unweit von mir landet die Möwe und legt die Scholle im Sand ab und hält sie mit einem ihrer Füße fest. Immer noch, versucht der Fisch sich mit seiner Schlagbewegung zu wehren. Aussichtslos! Ins Wasser kommt sie auf keinen Fall zurück.

Die Möwe ist durch meinen Anblick ganz offensichtlich irritiert. Bin ich ein Feind für sie? Ständig schaut sie aufgeregt zu mir hinüber. Jetzt schleppt sie die Scholle ein paar Meter weiter weg von mir. Sicherheitsabstand! Und auch die anderen Möwen, denen man ansieht, dass sie Appetit auf den Fang bekommen haben, kreisen ständig über der Fängerin und auch über mir. Ihr Kri Kri ist laut und hektisch! Das Gezappel des Fisches scheint mittlerweile auch die Fängerin zu nerven, denn jetzt schlägt sie ihren Schnabel mehrfach in den Fisch hinein, bis dieser ruhig geworden ist. Ständig schaut sie dabei um sich, um Angriffe ihrer Artgenossen sofort unterbinden zu können. Misstrauisch steigt sie mit ihrem toten Fang auf und fliegt etwa 40 Meter weiter ins seichte Wasser schaukelt dort mit den Wellen. Was nun geschieht, kann ich nicht mehr beobachten. Zuvor habe ich versucht, etwas aus den Augen des Vogels zu lesen. Was ich vorfand, beschränkte sich auf natürliche, ungezwungene Wildheit. Ach, wie gern besäße ich einen Teil davon.

Stunden sind vergangen, ohne dass diese mir bewusst geworden sind. Es hätten auch Minuten oder Sekunden sein können. Mein Körper ist wie von der Zeit abgekoppelt und in einem Zustand der Trance oder auch Rausch der Gefühlslosigkeit verfangen. Alles um mich sehe, höre und rieche ich, jedoch diese sinnliche Wahrnehmung ist nicht wirklich greifbar. Der Geist ist blockiert. Langsam neigt sich der Tag dem Ende zu. Über dem ruhigen Wasser baut sich eine violette Farbe auf, die endlos erscheint, so als würde sie bis in die höchsten Spitzen des Himmels reichen wollen. Unerschöpflich weit.

Dieses traumhafte Farbenspiel habe ich im Fischland häufig erlebt. Eigentlich habe ich jedes Mal erwartet, gleich müsse sich der Himmel über mir öffnen und eine Hand mit einem großen Pinsel erscheinen, der die Farben aus der Palette mit Rot beginnend über Violett bis zu einem Schwarz hin langsam und stetig verlaufen lässt. Das kann entweder nur aus übernatürlicher oder einer begnadeten Hand eines Landschaftsmalers stammen. Für einen durchschnittlichen Menschen, wie ich es bin, übersteigt dieses Farbenspiel die Vorstellungskraft. Es verzaubert und lässt eine Wehmut aufkommen, wenn man sich losreißen will. Das ist wohl die Trance, von der ich zuvor gesprochen habe, die mich augenblicklich umfängt.

Als der Himmel seine tiefste Farbe erreicht hat, wache ich auf. Ich erhebe mich und laufe mit unsicheren Schritten vom Wasser weg und auf die Dorfstraße zu. Erst nach der steilen Kante beleuchten Laternen den Weg. Spärlich zwar, jedoch ausreichend, um den Weg zu finden. Spontan entscheide ich mich, die Nacht in Ahrenshoop zu verbringen. Wenn ich schon in der Aura der Ostsee mich wieder einmal verfangen habe, so wird mir diese auch Hinweise geben, wie ich weiterhin zu reagieren habe. Diese Natur ist gut, ehrlich, authentisch und mir immer ein guter Lehrer oder Ratgeber gewesen, zumal sie nicht von der Hektik getrieben ist. Diese Eigenschaft ist menschlich und zumeist selbst ersonnen, ohne Balance und nur durch planloses Handeln gekennzeichnet. Und plötzlich drückt der Zettel mit der Telefonnummer auch nicht mehr wie Alp auf mir. In der Nacht zieht noch einmal der wundervolle Tag an mir vorbei. Entlastet stehe ich am nächsten Morgen auf und fühle neue Kräfte in mir.

»Sie scheinen gut geschlafen zu haben«, stellt die Bedienung am Frühstückstisch fest.

»Und woran haben Sie das bemerkt?«, frage ich gut gelaunt.

»Ihr freudiges Herz spiegelt sich in Ihrem Gesicht wieder!«

»Sie haben recht«, antworte ich der jungen Dame, die mir gerade die Kaffeetasse füllt. »Ich habe eine Entscheidung getroffen. Die Atmosphäre in Ahrenshoop hat es mir ermöglicht und zugleich erleichtert.«

»Hoffentlich eine Gute? Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, sind Sie sehr zufrieden damit!«

»Ja, sehr zufrieden sogar! Es liegt an den Kindern!«

»An den Kindern?«, fragt sie nach. »Aber Sie sind doch allein, oder etwa nicht?«

»Allein. Richtig! Ich meine es im übertragenen Sinn. Ich trage Kinder oder besser Kindergedanken in mir.«

Sie schaut mich verunsichert und ungläubig an, als versuchte ich, augenblicklich ihr einen Bären aufbinden zu wollen.

»Ich will es Ihnen erklären: Ich habe mich mit meinen Eltern häufiger gestritten, weil ich ihnen unterstellt habe, sie würden ihre eigenen Kinder, meinen Bruder und mich, nicht gut genug kennen. Immer unter dem Vorwand, so sprachen sie: „Wir seien noch zu klein, um zu verstehen!“, haben sie uns Dinge vorenthalten. Doch wir beide verstanden sehr gut sogar, manchmal sicherlich mit dem Herzen. Und wenn Mama bisweilen sehr verzweifelt war, konnten wir ihr einen Rat erteilen, sogar in ganz schwierigen Situationen. Verstehen Sie, das meine ich!«

»Leider nein!«, sagt die junge Frau zu mir und schüttelt ihren Kopf dabei. »Bei uns zu Hause war das anders. Meine Eltern haben mich immer gefragt, was ich von diesem und jenem halten würde. Ich war immer mit einbezogen……«

»Glauben Sie zumindest!«, unterbreche ich sie.

»Nein, nein, das war so und ist auch heute noch so, wenn ich mit meinen Eltern spreche.«

»Dann befinden Sie sich in einer speziellen familiären Situation. Herzlichen Glückwunsch!« Und ich fahre fort: »Wie gesagt: Bei uns war das eben so, wie in den meisten anderen Familien auch. Doch heute Nacht sind mir die „mahnenden Kinder“, wie mein Bruder und ich es einmal gewesen sind, im Traum erschienen und haben mir gesagt, welche Entscheidung ich treffen soll!«

»Eine Wichtige?«, hakt sie nach.

»Ich weiß es noch nicht, aber ich denke eine Bedeutsame, ja!«

»Oh, entschuldigen Sie. Ich muss weitermachen. Die anderen Gäste werden bereits unruhig.«

»Danke! Ja, gehen Sie!«

Das ist zugleich das Startsignal für mich. Ich lasse mir zwei Croissants einpacken, trinke einen Schluck Kaffee und packe meine Sachen zusammen. Schnell entscheide ich, an den Strand zu gehen und mir den herrlich aufziehenden Tag anzusehen, bevor ich nach Hamburg zurückfahre.

*

Der Augenleser

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