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Eine Wüstenfahrt

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Langsam, mit müdem Blick versehen, nähert sich ein etwa 30 Jähriger Mann dem Ausgang. Bedächtig an seinem Gepäck ziehend, so als gelte es eine spezielle schwere Fracht zu bewegen. Eine, die offensichtlich viel schwerer wiegt als sie sich durch das Wenige darstellt. Es ist das inhaltlich belastende Drumherum, was herausquellen will und nur durch die dünne Wandung des Gepäcks zurückgehalten wird. Unsere Augen treffen sich. Sofort bemerke ich, wie sie augenblicklich mit den letzten Erlebnissen angefüllt sind.


Ich habe Durst, unendlich viel Durst……..

mitten in 100.000 Quadratkilometern Wüste überschlug sich plötzlich mein Landcruiser, bin ich eingeschlafen oder nur trunken vom gelbglühenden Sand, der wie die Ewigkeit hier schon verharrt, von der Sonne, die mir die Augen sticht, ach, was rede ich da, benebelt von der Hitze eines Backofens, jetzt warte ich auf den Knall, irgendetwas muss passieren, doch nichts!!!, so hänge ich kopfüber in meinem Gurt, meinem Lebensgurt, doch was bedeutet es im Augenblick?, nur etwas Winziges in dieser riesigen Sandkiste, ein Sandkorn vielleicht, mein Herr, möchten Sie ein Sandkorn?, nur exklusiv für Sie?, was höre ich?, Sie wollen es nicht?, aber ich sagte eben, es ist nicht irgendein Sandkorn, nein, es ist Ihr Sandkorn, nein, Sie wollen es immer noch nicht, weil es hier so viel davon gibt!, täuschen Sie sich nicht, mein Herr, bedenken Sie, es ist besser nur ein Sandkorn zu besitzen als diese verdammt heiße Wüste!, immer noch ist kein Knall erfolgt, es ist eigentlich nur Stille um mich, freie Stille, exklusive Stille, fast wie das Sandkorn, welches ich Ihnen angeboten habe, jetzt lasse ich meinen Blick schweifen und dann an mir hinab gleiten, nein, nicht hinab, es muss heißen hinaufziehen, denn ich hänge ja kopfüber im Auto, immer noch kein Knall, so taste ich mich langsam herum, kopfüber, nein, das ist keine gute Lage, wir Menschen wissen schon, warum wir auf unseren Beinen stehen wollen und nicht auf dem Kopf, meine rechte Hand scheint ein wenig taub zu sein, mein Rücken auch, fast ohne Leben….., was brauche ich zum Leben?, Wasser, wo ist mein Wasser, eben war es doch noch seitlich am Auto in einem Tank, ein Riss und… der Sand hat seinen Durst gestillt und mein Wasser getrunken, nur noch ein wenig feuchter Dampf scheint an der Stelle zu sein, ich hoffe, Herr Sand, Sie haben es sich schmecken lassen!, ja, wundervolles, klares Wasser, benommen krieche ich aus dem Wagen, wie komisch so ein Auto kopfüber aussieht, fast wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt und mit den Beinen strampelt, ja, ein Rad scheint sich noch zu drehen, ein Käferrad, haha, wie lustig ist ein Käferrad, träume ich schon?, verdammt, wie heiß der Sand ist, glühend heiß, und jetzt ohne Wasser werde ich nur einige Stunden überleben, Leben, eine Nichtigkeit, wie oft habe ich bereits Stunden vergeudet, und nun sollen sie auf einmal wichtig sein, diese nichtigen Stunden, nein Ihr Stunden, ganz so einfach werde ich es euch nicht machen, nein, ich werde jede Stunde in meine Hand nehmen, Schicksalsstunden, ich bin meine Schicksalsstunde und nicht Ihr seid es, oh guck mal, da vorn liegt ja meine Wasserflasche, schnell hin und ab in den Schatten, ich sehe, wie sich bereits das Blech der Flasche ausbeulen will, Sand bist Du so gierig, Du hast bereits mein Wasser getrunken, sei still, jetzt bin ich am Zuge, und da, da liegen noch einige Bananen, still Dir den Magen damit, nicht mein Wasser, jetzt will ich mit der rechten Hand nach der Flasche greifen, doch, sie bewegt sich nicht, angeschwollen, bewegt sie sich nicht, wie soll das auch gehen?, versuchen Sie einmal mit einer angeschwollenen Hand nach etwas zu greifen, mein Herr, schwierig, ach, sagen Sie, Sie haben ja noch die linke Hand, wunderbar, dass wir Menschen zwei Hände haben, ah, ist die Flasche heiß, wer kommt auch auf die Idee, eine Metallwasserflasche mitzunehmen, wenn er in die Wüste fährt?, sie ist noch halbvoll, das wird für die nächsten Stunden reichen, Stunden?, sonst kommen doch immer so viele Autos hier entlang, wieso ist denn jetzt nichts zu sehen, ich muss den nächsten Hügel erreichen, von dort kann ich die Autos sehen, wie mühsam der Weg ist, mit dem Auto geht alles so leicht, aber nur, wenn es richtig herum steht, puuuuh geschafft!, jetzt wird gleich eins vorbeikommen, noch nicht, sei nicht so ungeduldig, sind doch erst ein paar Minuten vergangen, was habe ich vorhin über das Sandkorn gesagt, exklusiv?, ja exklusiv wie ein Auto, aber mein Herr, sie wollten das Sandkorn nicht schätzen, also bekommen Sie auch jetzt kein Auto, ja, jetzt haben Sie verstanden, ich muss zurück zu meinem Wagen, ich muss einen Notruf absetzen, so kann mich niemand finden, ich sehe ja selbst wie ein Sandkorn aus, haha, jetzt wird bald ein Auto kommen und mich abholen, geschafft, oh, ich spüre Durst, ich muss erst einmal trinken, haha, in ein zwei Stunden, da brauch ich nicht mit Wasser sparsam umgehen, noch ein Schluck, und noch einen großen, aufpassen und noch etwas übrig lassen, man weiß ja nie, kann erst in drei Stunden die Hilfe kommen, hallooooo!, ich winke mit dem linken Arm, da ist doch bereits die Hilfe, ich sehe ganz deutlich den kleinen Punkt in einiger Entfernung vorbeiziehen, eingehüllt in einer Sandwolke, halloooo!, jetzt ist er weg, nein, der hat mich gesehen und hat eben gewendet, na klar gewendet, ich werde ihm entgegenlaufen und winken, wo bleibt der denn?, ich schwitze vor Anstrengung, noch einen Schluck Wasser vielleicht?, jetzt sind die Schatten bereits länger geworden, und das Auto?, hat es sich verfahren, na, ich werde mit dem Fahrer sprechen, wie man so in der Wüste fährt, ist bestimmt Anfänger, der Fahrer, ich kann hier nicht sitzen bleiben, der Sand raubt mir den letzten Tropfen Feuchtigkeit, oder?, kann man seinen eigenen Schweiß trinken?, ich hab ja noch meine Flasche mit einigen Schlucken, erst einmal zurück zum Auto, die Schatten sind noch länger geworden, bald bricht die Nacht an, und auch ist eine Kühle eingezogen, sternklarer Himmel, müde bin ich, ich werde mich ausruhen und ein wenig schlafen, doch die Ohren bleiben offen, ich muss hören, wenn ein Auto kommt, bin ich schon einmal nachts in der Wüste gefahren?, zu gefährlich, die verletzte Hand habe ich an den Körper gezogen, wie dick die ist, irgendwann kommt das Morgenlicht auf und dann kommt das Glühen zurück, gottseidank habe ich ja noch Wasser, guck mal dort vorn die schöne Stadt, wieso habe ich die gestern nicht gesehen, die liegt doch dort unten am Fuß der Düne, ja, sehr schön und weiß schimmernd im Sonnenlicht, wenn ich erst einmal dort bin, dann kann ich auf die Wüste schauen, lieber Gott, vielen Dank, dass Du mir die schöne Stadt geschickt hast, ich weiß, auf Dich kann man sich verlassen, Meter für Meter gehe ich auf sie zu, verdammt!, ich laufe jetzt schon zwei Stunden und wieso kommt sie nicht näher, ich verfluche Dich schönste Stadt, oder bist Du gar keine Stadt, aaahhh, nur eine Luftspiegelung, wie komme ich zu meinem Auto zurück?, Fußspuren, ja, ich muss nur nach meinen Fußspuren schauen, jetzt habe ich kein Wasser mehr, egal, es kommt ja gleich Hilfe für mich, und wenn nicht?, wie lange kann ich ohne Wasser auskommen?, 10 oder 12 Stunden, ach es kommt ja gleich jemand vorbei, erst einmal esse ich den Rest der Banane, gut dass sie so reif ist, ist ja fast wie Trinken, mein Hals ist bereits ein wenig rau, noch der letzte Hügel und dann bin ich bei meinem Auto, oh, guck mal, da liegt ja noch eine Apfelsine im Sand, meine Rettung, wie ich Apfelsinen liebe oder eher Bananen?, ja Bananen, aber nun habe ich keine Stück mehr davon, ich werde später daran lutschen, wieder kommt ein leichter Wind auf, er wird mir ein Auto zuwehen, wie dunkel es auf einmal ist, ich fröstele, Gleichgültigkeit macht sich in mir breit, wieder Nacht, tief dunkle Nacht, ist das Schicksal nicht mit den Sternen verknüpft?, so sagt man doch, jetzt wird es richtig kalt, ich beginne zu frieren, meine Zähne klappern, ist es der Durst?, den habe ich gar nicht gespürt, ich muss mich schützen, so krieche ich auf die andere Seite, ja, hier ist es besser, ich habe ja noch die Apfelsine, mein Herr, möchten Sie nicht ein saftigsüßes Stückchen davon, herrlich, nein, besser erst morgen früh, meine Kehle schnürt sich langsam zu, oh, das kann nicht Gutes bedeuten, jetzt setzt der Durst ein, es sind schon 10 Stunden vergangen, ich lebe noch, noch mehr Durst, nur nicht daran denken, mein Hals scheint versteinert… und die Zunge, ist die aus Gips, rau, hart wie eine Feile, ich muss an der Apfelsine lutschen, ich wusste gar nicht, dass Apfelsinensaft brennen kann, etwas Linderung wird der Saft schon bringen, jetzt will die Gipszunge aus dem Mund quellen, ganz weit reiße ich den Mund auf, ich muss atmen können, gnadenlos glüht der Sand, jetzt sind schon mehr als 12 Stunden vergangen und ich lebe immer noch, scheiß Statistiken, ja, ihr habt keine Ahnung, seht, wie ich lebe, mein Hals ist jetzt komplett zugeschnürt, ja, ich sehe meine Zunge, lang und dick ist sie, ich werde mit der Apfelsine daran reiben, damit sie nicht noch länger wird, Speichel, was ist das, ich habe nur Gips oder Stein, ich muss erst einmal räuspern, kein Laut kommt heraus, ja, mein Herr, haben Sie sich schon einmal mit einem Steinhals und Gipszunge geräuspert?, haben sie im Museum die alten Figuren schon einmal räuspern hören?, Stille, nur Stille und ein leichtes Rauschen des Windes, nein, ich höre ein Motorengeräusch, schnell auf den Hügel, damit es nicht wieder an mir vorbeifährt, ich winke und winke, guck, das Auto bleibt stehen, und jetzt macht es eine Kehrtwendung… und , ja, es hat mich gesehen, ich rolle die Sanddüne hinab und rolle und rolle, Stillstand, ich liege….zwei Arme ziehen mich hoch und setzen mich auf, irgendetwas sagt der Mann, ich verstehe nichts, dann läuft er weg, kommt wieder zu mir und schüttet mir Wasser über den Kopf, ich öffne die Lippen und lasse es in mich hineinlaufen, was für ein herrlicher Geschmack, so schmeckt Leben, nach Wasser?, dann zerrt mich der Fremde zu seinem Auto, ich liege dort und träume… von einem riesigen See…, als ich wieder aufwache, liege ich in einer Klinik…. Und träume nicht mehr, ich weiß!


Noch einmal schaut der müde Mann sich um, ein zweites Mal treffen sich unsere Augen, die sagen: Ich weiß! Dann dreht er vor mir eine kleine Schleife, wendet sich ab und geht auf den Taxenstand zu.


*

Zwischendurch, wenn ich dort erwartungsvoll auf (m)einer Bank sitze und auf die nächsten Gäste warte, geschieht in der Regel wenig. Doch manchmal…..


»Ist neben Ihnen der Platz frei?«, werde ich von einem gesetzten Herrn angesprochen.

»Bitte nehmen Sie doch Platz«, antworte ich freundlich und lasse meinen Blick über ihn gleiten. Etwa 55 Jahre alt, gepflegt, von schlanker Gestalt, nördlicher blasser Typ, so ist mein erster oberflächlicher Eindruck.

»Es ist immer wieder spannend, wenn man seine Kinder erwartet«, so fährt er fort. »Die waren auf Gran Canaria und kommen jetzt zurück. Es muss ein toller Urlaub gewesen sein, haben sie mir jedenfalls geschrieben!«

»Ich war ein paar Mal auf Lanzarote. Der teilweise dunkle, vulkanische Sand ist gewöhnungsbedürftig. Aber sonst? Sehr angenehmes Klima! Nicht zu heiß im Sommer«, antworte ich höflich unverbindlich.

»Ich bin sehr früh dran. Der Flieger soll erst in circa 40 Minuten landen. Aber man weiß ja nie. Wir kommen aus Schleswig-Holstein. Da muss man rechtzeitig losfahren.«

So redselig, der Herr, so denke ich. Ist ja eigentlich nicht die nordische Art. Da verhält man sich eher mundfaul, wie man zu sagen pflegt. Sicherlich liegt es an der Anspannung, dass ihm die Wörter so leicht entgleiten.

»War eigentlich so etwas wie eine Hochzeitsreise von den beiden!«, meldet er sich wieder zu Wort.

»Ach ja? „Eigentlich so etwas“. Was bedeutet das?«

»Sie wollten sich in Ruhe aussprechen, wann und wie die Hochzeit vonstattengehen soll. Wissen Sie, bei uns auf dem Lande ist das immer eine große Angelegenheit. Da werden dann Gott und die Welt eingeladen. Und wenn dann die Tante Emma 5. Grades vergessen worden ist. Oh, oh!«

»Dann ist offensichtlich Ärger vorprogrammiert. Das meinen Sie wohl damit!«

»Genauso verhält es sich. Die vielen Angehörigen unter einen Hut zu kriegen, das ist wirklich nicht einfach. Dem einen passt es so nicht, der nächste hat, daran etwas auszusetzen. Und so geht das in einer Tour.«

»Mein Herr! Ich kenne Ihre Familie natürlich nicht. Ich versuche mich, gerade in die Lage hineinzuversetzen. Also: Wenn ich mir vorstelle, zu heiraten und es verhält sich derartig kompliziert, ich denke, ich würde nach Dänemark fahren und mich dort vermählen. Das klappt ohne großes Aufgebot. Und dann könnte man als Ehepaar eine schöne Feier veranstalten. Wer kommt, kommt! Und wer sich auf den Schlips getreten fühlt? Dann ist es eben so!«

»Nein, nein, so geht das nicht bei uns. In diesem Fall hätten sie das ganze Dorf gegen sich aufgebracht!«

»Na ja, die werden sich irgendwann auch wieder abregen!«

»Mein Herr, man merkt, dass Sie aus einer Großstadt kommen, jedenfalls vermute ich es Ihrem Reden nach. In unserem Dorf in der Nähe von Husum ist seit Generationen jeder mit jedem verwandt. Und wenn sie eine Person davon ausschließen, schließen sie das ganze Dorf aus. So verhält es sich bei uns. Wir sind insgesamt eine große Familie«, antwortet er mir in seiner ruhigen Art.

»Und die jungen Leute rebellieren nicht dagegen?«, frage ich interessiert nach.

»Das kommt immer mal wieder vor. Legt sich aber wieder mit dem Älterwerden. Viele Junge sind deswegen weggezogen und kommen dann ab und an zu Besuch. Leider!«, sprich er etwas wehmütig und fährt dann fort.

»Deshalb ist unser Dorf mittlerweile überaltert. Wissen Sie, ich bin jetzt 55 Jahre alt und gehöre zu den jüngeren Menschen. Verrückt nicht wahr?«

»Sehr gewöhnungsbedürftig zumindest würde ich sagen. Hier in Hamburg ist so etwas kaum vorstellbar. Da wohnen die Leute seit Jahren Tür an Tür und kennen sich kaum. Mal wird ein Wort gewechselt, wenn man sich zufällig am Briefkasten trifft, oder man grüßt sich…. Und das war es auch schon. Glauben sie nicht, dass jemand seinen Nachbarn um Milch, Zucker oder Ähnliches bittet. Kommt nicht mehr vor, seitdem die Geschäfte bis nachts geöffnet haben. Und wenn wir für ein paar Tage in den Urlaub fahren, erfährt es niemand im Haus. Einbruchsgefahr wissen sie. Und glauben Sie nicht, dass jemand dem Nachbarn den Wohnungsschlüssel anvertraut? Nein, schon lange nicht mehr. Vertrauen, das ist so eine merkwürdige Angelegenheit in der Großstadt. Wem wollen Sie vertrauen, wo Sie ständig über Einbrüche, Überfälle, Betrügereien in der Zeitung lesen können. Das muss man akzeptieren!«

»Und finden Sie das gut?«, hakt der Holsteiner nach.

»Nein! Akzeptanz der Zustände oder auch Angst bestimmen die Handlungsweise! Hören Sie, meine Mutter hat mir die Verhältnisse, wie sie bei Ihnen offensichtlich noch immer herrschen, geschildert. Sie erzählte, niemand hat seine Haustür abgeschlossen, man hat sich gegenseitig besucht, geholfen, das Kind für ein paar Stunden abgegeben und so weiter. Ist vorbei seit den 70 er-Jahren. Sicherheitsschlüssel, spezielle Riegel, Kamerasysteme sind fast überall installiert.«

»Das ist doch furchtbar!«, ruft mein Nachbar aus.

»Mehr als das! Wirkt aber beruhigend. Hören Sie: Meine Nachbarin haben sie wegen ihrer Leichtgläubigkeit bereits zweimal ausgeraubt….«

»Ach, wie das?«, ruft er entsetzt aus.

»Mein sorgloser Herr! Das ging ganz einfach. Da hat eine jüngere Frau bei ihr geklingelt und zu ihr gesagt, dass sie sehr dringend auf Toilette müsse, weil sie schwanger sei. Und was macht meine Nachbarin? Sie ist übrigens 84 Jahre alt und wohnt allein, öffnet ihre Wohnungstür, lässt die Frau eintreten, die auch sofort auf die Toilette rennt. Als sie wieder herauskommt, bittet sie noch um ein Glas Wasser und die beiden Frauen gehen in die Küche. Dort lenkt sie die alte Dame mit irgendwelchem Gefasel über ihre angebliche Schwangerschaft ab. Irgendwie hat die Lügnerin es geschafft, dass die Haustür nicht verschlossen ist. Also, während die beiden sich in der Küche befinden, verschafft sich ihr Komplize Zutritt zur Wohnung und klaut ihr den Schmuck, der sich im Schlafzimmer in Schatullen befindet. Da lag auch noch etwas Bargeld, wenig zwar, nur ein paar Euro und schwupp war auch das weg und der Komplize wieder aus der Wohnung raus. Das Ganze hat höchstens 1- 2 Minuten gedauert. Unglaublich! Aber diese Klauer wissen, wo die Leute ihre Sachen aufbewahren. Meine Nachbarin hat das erst ein oder zwei Tage später bemerkt, als sie ausgehen und ihre Uhr umbinden sowie einen Ring überstreifen wollte. Und da sie sich nicht sicher war, hat sie erst einmal in der ganzen Wohnung gesucht. Und dann hat sie den Verlust realisiert und ist zur Polizei gelaufen. Und was meinen Sie, was man ihr dort gesagt hat?«, frage ich meinen Holsteiner Nachbarn.

»Ich weiß es nicht?«

»Ach, liebe Frau«, hat man zu ihr gesagt, »passen Sie besser auf Ihre Sachen auf. Das passiert in Hamburg diverse Male am Tag. Wir, die Polizei, geben immer Warnungen heraus, aber die liest ja keiner, offensichtlich!«

»Also hatte eigentlich die alte Dame noch Schuld daran, das wollen Sie mir andeuten«, antwortet der Fremde.

»Genauso ist es. Besser aufpassen? Wie soll das gehen? Solche Strolche sind doch Profis. Die besitzen eine sehr gute Menschenkenntnis!«

»Verrückt, diese Welt. Und Sie sprachen vorhin von einem zweiten Mal?«

»Hat sich ganz ähnlich abgespielt. Wieder eine solche Mitleidsnummer! Na ja, als mir das meine Nachbarin gestanden hat, dabei wollte sie mir nicht in die Augen sehen, habe ich zu ihr gesagt: „Sie werden aber auch nicht schlau daraus!“ Da hat sie nur still genickt und war weiterhin sehr kleinlaut. Aber wissen Sie, was sie mir gestern erst gesagt hat. Darauf werden Sie nicht kommen?«

»Was denn?«

»Nun könne ihr nichts mehr passieren, nun besitze sie keine wertvollen Gegenstände mehr!«

»Galgenhumor!«

»Genau das habe ich Ihr darauf geantwortet und mit dem Kopf geschüttelt. Ein Rat: Hängen Sie ein Schild an Ihre Tür: Ich bin zweimal überfallen und ausgeraubt worden. Ich besitze jetzt nichts Wertvolles mehr!«

»Wenn es denn hilft! Oh, da kommen meine Kinder! Tschüs!«, und sofort springt er auf und läuft den beiden winkend und freudestrahlend entgegen.


*


Eben hat sich die Schiebetür geöffnet und hat einen Urlauberschwall durchgelassen. Darunter befinden sich auch die Kinder des Herrn aus der Nähe von Husum, dessen Namen ich nicht einmal weiß. Ist eigentlich auch unwichtig, wir werden uns vermutlich nicht noch einmal begegnen. Jetzt dreht er sich mir noch einmal zu und winkt und zeigt stolz auf seine Hochzeitler in spe oder nicht spe? Wer weiß es schon? Ich nicke ihm freundlich zu, währenddessen er seine Kinder umarmt hat und sie mit sich zum Ausgang zieht. Ich schau mir die beiden an. Vom Lande, das stimmt! Typisch langweilig angezogen, mit irgendwelchen Urlaubsmarkenshirts versehen. Billigplagiate, in denen häufig auch Strass verarbeitet ist, deren Steine unlogisch, ungeordnet vor sich hinglänzen und vermutlich auch bald abfallen werden. Dazu kommen einheitliche Shorts in blau, um eventuell aus der Unsichtbarkeit hervorzutreten oder um sich nicht zu verlieren. Ist bei Koffern auch üblich. Irgendwelche Slipper klappern an ihren Füßen. Und braun gebrannt wie die Brathähnchen sind sie beide außerdem übereinstimmend. Vermutlich zeigten beide zuvor bereits diese ungesunde Hautfarbe, oder wie ich es einmal von „fachkundiger“ Seite gehört habe, dass es angeraten sei, sich vor dem Sonnenurlaub im Studio aus Schutzgründen vorbräunen zu lassen. Aha! Sie ist von kräftiger Statur, nicht schwabbelig, eher speckig, jedenfalls weisen ihre Oberarme einen beträchtlichen Umfang aus, was ich von meiner Position gut erkennen kann. Zusätzlich steht sie auf unerschütterlichen Beinen, die sie, wie ich vermute, für ihre Arbeit dringend benötigt. Ihr Mann besitzt ebenso eine kräftige Figur, denn er schiebt bereits in seinen jungen Jahren eine sogenannte Bierkugel vor sich her. Nicht so beträchtlich im Umfang aber bereits groß genug, dass das T-Shirt in der Lendenregion nicht mehr abschließt und bereits an die Dehngrenze gestoßen ist. Dazu kommen obsolete Frisuren: Die Haare sind passend blondiert und mit einer Krause versehen, die mich ein wenig an die achtziger Jahre erinnern lassen. Lässig hochgeschoben tragen beide ihre Sonnenbrillen in das Haar gesteckt. Ein passendes Paar, wie ich meine, welches nach ländlich geprägter Meinung gesund wirkt. Typ: Wirtsleute!


Ich lasse meine Augen auf ihnen verweilen, um einen Blick von ihnen zu erhaschen, was mir leider nicht gelingt, zu beschäftigt sind die beiden. Ich hätte gern mehr erfahren und etwas aus ihren Augen herausgelesen. Auf der anderen Seite habe ich bereits sehr viel aus ihren örtlichen Zuständen von ihrem Vater erfahren. Wahrscheinlich wäre auch nicht sehr viel mehr dazugekommen. Wie auch? Manchmal schäme ich mich, wenn ich in ein solch vorurteilsvolles Denken verfalle. In diesem Falle nicht. Ich befinde die beiden für uninteressant, die mir nichts Wissenswertes zu berichten hätten, ansonsten hätte mir ihr stolzer Vater ganz sicherlich davon erzählt, so redselig, wie er noch vor kurzen neben mir gesessen hat.

*

Etwas lustlos geworden streife ich erst einmal durch die lange Ankunftshalle. Ich betrachte hier und da einige Auslagen, betrete das Zeitungsgeschäft, blättere ebenso lustfrei in einigen Boulevardzeitungen herum, wobei ich sofort auf die bloßen Busen und Hintern von einigen sogenannten Sternchen stoße, die zur Wahl des Monats zur Abstimmung für die Leserschaft bereitgestellt sind. Darüber hinaus kommentieren die bunten Blätter fast einhellig ihre Meinung zu den üblichen Trennungen von Prominenten, zeigen es bildhaft an, indem sie einen Trennungsschnitt durch ein veraltetes, gemeinsames Bild mittels Photoshop eher schlecht verändert haben, die offensichtlich so wichtig sind, dass sie sich gut vermarkten lassen, obgleich ich, was natürlich nichts zu bedeuten hat, die meisten Namen der Promis nicht einmal kenne, beziehungsweise nun zum ersten Male von diesen lese! Wie gesagt: Ich bin kein Maßstab für sogenannte wichtige Personen. Ich denke mir dabei: Wenn diese Geschichten auf der ersten Seite zu sehen sind, also irgendwie bewegend sein müssen, jedenfalls aus der Perspektive der Redaktionen und nicht aus der Sicht der Leserschaft, dann entsteht bei mir sogleich die Frage und auch Sorge: Was ist wirklich wichtig? Wichtig sind (für mich!) Familie, Freunde, Gesundheit, friedliches Zusammenleben, Perspektiven für die Zukunft, geregeltes und vernünftiges Einkommen. Weitere Wichtigkeiten: Vernunftgesteuerte Politik(er), leider ist das eine illusionäre Wunschvorstellung, wir Bürger werden schon lange nicht mehr gefragt, so abgehoben sind Gewählten mittlerweile. Zusätzlich beruhige ich mich in der Regel damit, dass mein Geist offensichtlich andere Prioritäten setzt oder mit dem zunehmenden Alter von Ü-30 bereits an Unschärfe zunimmt. Wie sagte unser erfahrender Professor immer zu uns jungen Studenten: Älter werden zeigt sich darin, dass jemand das Interesse verliert. Na ja, daran findet sich bestimmt etwas Wahres, er musste es in seinem Alter bereits durch seine Kinder erfahren haben. Egal, und weiter.

Am Ende der Halle stoße ich zur U-Bahn-Station vor. Diese besteht aus zwei Gleisen und ist recht übersichtlich gestaltet. In ihr dominieren auch wieder die großen Informationstafeln zu Ankunft und Abflug. Zusätzlich sind Pfeile angebracht, um die Fluggäste in die richtige Richtung zum Terminal 1 oder 2 zu leiten. Selbstverständlich sind die Informationen in zwei Sprachen ausgeführt: Deutsch und Englisch. Warum eigentlich Englisch? Es gibt andere Sprachen, die viel „mehr“ gesprochen werden! Chinesisch, Hindi beispielsweise. Selbst über die Bedeutung des Englischen lässt sich ein Für und Wider anführen. Was die sogenannte alte Welt angeht, ist die Einschätzung mit wichtig sicherlich zutreffend. Doch gilt es auch für die stark aufstrebenden Länder? Insofern relativiert sich mein zuvor benutztes Wort „selbstverständlich“ wieder. Haben sie Tafeln mit chinesischen Schriftzeichen in Hamburg gesehen? Ich nicht! Wie gesagt: politische Entscheidungen!

Bevor ein Passagier die Gleise erreicht, befindet er sich in einer kleinen Vorhalle. Dort sind zwei Automaten für den Verkauf von Fahrscheinen in die Wand eingesetzt. Auch heute, wie eigentlich immer, stauen sich die Passagiere in einer Schlange davor. Wer kann auch solche Apparate bedienen? Ich jedenfalls habe damit so meine Probleme wie viele andere offensichtlich auch. Zwar hat der HVV (Hamburger Verkehrsverbund) elektronisch mit Software in den letzten Jahren aufgerüstet, zufriedenstellend ist das Ergebnis dennoch nicht, wie ich augenblicklich leicht an der unsicheren Handhabung wie auch Gestik erkennen kann. Ganz ehrlich: Wer kennt sich als Ausländer mit Tarifbereichen und Tarifen aus? Also ich bin kaum imstande, solche Entscheidungen kostengünstig zu treffen, obgleich ich Hamburger bin. Ich kaufe dann immer zu teuer ein, um sicherzugehen, wie ich später bei einer Kontrolle erfahre. Und dass dort eine Person zur Hilfe abgestellt ist, habe ich noch nie gesehen und nie davon gehört. Irgendwie und wann kommen dann noch Alle zu Fahrkarten und laufen anschließend zu der bereitstehenden U-Bahn, die Richtung Hauptbahnhof fährt. So oder so fahren sämtliche Bahnen über den Hauptbahnhof, was vermutlich auch treffend den Namen erklärt.

Noch eine Bemerkung zu den Rolltreppen, die vom Bahnsteig zu der Flughalle führen. Ich habe mich lange Zeit gewundert, warum vor den Fahrtreppen Pfosten angebracht sind? Häufig genug habe ich mich auch darüber geärgert, weil ich wieder einmal mit meinem Rollkoffer dagegen gestoßen und hängen geblieben bin, wenn ich sozusagen nicht richtig gezielt habe. Die Erklärung: Für die Gepäcktransportwagen, die im Flughafen bereitstehen und auch gern genutzt werden, bedeuten diese Pfosten eine Sperre! Seltsame Logik! Deutsche Logik! Erklären sie das einem Rollstuhlfahrer oder einer Mutter mit Kinderwagen, die verzweifelt nach Hilfe um sich blicken, wenn der Bahnhof nicht behindertengerecht ausgebaut ist! Aber im Erklären sind wir Deutschen hervorragend aufgestellt.


*

Auf dem Rückweg zu meinem Stammplatz werde ich von einem kleinen Mädchen, geschätzt etwa sechs Jahre alt, angesprochen, die sich offensichtlich von der Mutter zuvor losgerissen hat.

»Kannst Du mir Bonbons kaufen?«, fragt mich die Kleine unbesorgt.

»Ich beuge mich zu ihr hinunter, betrachte das Mädchen näher, schaue mich irritiert nach einem Angehörigen um, den ich noch nicht entdeckt habe, und sage:

»Na klar, kann ich das! Bezweifelst Du es?«

Nun ist die Kleine irritiert, vermutlich hatte sie sich ein „Ja“ erwünscht, und schaut sich auch nach wem auch immer um und fängt laut zu schreien an. Von irgendwo stürmt eine etwa vierzigjährige Frau auf uns los, blickt mich wütend an und reißt das Mädchen ein Stück von mir weg und kräht mich drohend an:

»Haben Sie Ihr etwas angetan, Sie, Sie….!«

Plötzlich bin ich sprachlos, erstarre und kann nur verneinend mit dem Kopf schütteln, was der Mutter offensichtlich nicht genügt. Sofort geht es wieder mit einem Vorwurf weiter.

»Sie, Sie…..! Man sollte die Polizei holen!«

Da war das Wort gefallen: Polizei! Sofort drehen sich etliche weitere Leute zu uns um, bleiben stehen und stieren mich an. Und postwendend beginnt eine Nachfragerei und Diskussion. Ein Herr zu mir (zu allen).

»Holt jemand die Polizei! Ich halte so lange diesen Mann fest!«

Gleichzeitig will er seine Androhung wahr machen und greift nach meinem Arm. Ich zische ihn an:

»Fassen Sie mich nicht an, sonst….!«

»Der will mich schlagen!«, schreit er sofort in die Menge. Sogleich wollen andere Hände den Versuch starten, zuzugreifen. Doch meine wild fuchtelnden Augen signalisieren offensichtlich Gefahr, sodass es nur bei diesem Versuch bleibt. Dennoch befinde ich mich umringt in einem geschlossenen Kreis von Personen. „Ja, ich bin ein Schwerverbrecher, Kinderschänder und nun lyncht mich oder werft mich den Krokodilen vor. So denkt und giert ihr doch alle!“

Ein anderer: »Da kommt ja die Polizei! Endlich!«

Und tatsächlich, wie ich aus dem Augenwinkel sehen kann, kommen jetzt zwei Polizisten, eine Frau und ein Mann, beschleunigt auf uns zugelaufen. Beide sind Angst einflößend mit Maschinenpistolen ausgerüstet.

Wieder schreit einer.

»Der da ist gefährlich!«, und er deutet mit dem Finger auf mich und fügt weiter an.

»Der ist bestimmt auf Droge!«


Nun ist bereits das zweite Zauberwort gefallen: erst Polizei und nun Droge! Und schon bahnen sich die Beamten eine Gasse durch die Menge. Bevor sie bei mir sind, höre ich noch von irgendwoher: „Lasst mich durch!“ oder „Ich will auch was sehen!“, „Was ist denn hier los?“, „Den kenne ich doch!“, „Bestimmt ein Terrorist!“ und ich weiß nicht, was da noch alles an Beschuldigungen und Vorurteilen in den nächsten Sekunden auf mich einprasselt. Hatte ich eben noch Bedenken gegen die Polizei, bin ich mittlerweile froh, dass die Beamten gekommen sind. Obgleich sich die Beamten vor mir und weiteren Umstehenden drohend aufbauen und sofort wissen wollen. »Was ist denn hier los?«

Und da die Frage allgemein und nicht nur an mich gerichtet ist, sprechen wieder etliche durcheinander, weshalb kein Wort mehr zu verstehen ist. Das reicht dann auch den Polizisten, die sich an mich wenden:

»Was geht hier vor?«

»Ich weiß es nicht!«, sage ich mit wiedergefundener, kräftiger Stimme und weiter: »Ein kleines Mädchen wollte….«, weiter komme ich nicht, denn wieder schreit einer dazwischen:

»Der wollte sie bestimmt entführen!«, worauf sich die Polizistin an den Schreier wendet:

»Können Sie das bezeugen?«

Schnell wendet sich der Mann ab. Sofort ergreift der Kollege das Wort:

»Wer nichts gesehen hat, geht bitte weiter. Wer aber etwas zu sagen hat, tritt bitte vor!«

Allgemeines Schweigen, dann lösen sich ein paar Figuren aus dem Auflauf und gehen weg. Die Glotzer bleiben weiterhin stehen. Die Polizistin wendet sich mir zu. »Wie war das mit dem kleinen Mädchen? Und wo ist eigentlich das kleine Mädchen?«, worauf sich die Verbliebenen umdrehen, sich gegenseitig anschauen und auch ich nur mit den Achseln zucken kann. Die Kleine mit ihrer Mutter hat bereits schon lange den sogenannten Tatort verlassen. Jedenfalls stehen nur Erwachsene um uns herum. Daraufhin geht eigentlich alles sehr schnell. Der Mann, der mich festhalten wollte, hat auch bereits das Weite gesucht. Und da kein weiteres Geschrei ertönt, stehe ich nur noch mit den beiden Polizisten allein in der Halle. Ich erkläre ihnen, was sich zugetragen hat, muss dennoch meinen Ausweis zeigen und kurz darauf verabschieden wir drei uns freundlich voneinander. Puuuuuh, das ist nochmal gut gegangen und willkommen in der deutschen Gründlichkeit!

Mit dieser Störung geht der Tag zu Ende, und wie man sich denken kann, bin ich nicht mehr zu meinem angestammten Platz zurückgelaufen, sondern zum Parkplatz, auf dem mein Auto steht. Für diesen Tag ist mein Wissensdurst jedenfalls bestens gestillt worden.

*

Der Augenleser

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