Читать книгу Rätselhafte Nachbarschaft - Catherine St.John - Страница 3

2

Оглавление

Als Sarah einige anstrengende Tage später morgens neben dem Bett ihrer Mutter hochschreckte, sah sie sofort, dass sich etwas verändert hatte: Das Gesicht der Kranken wirkte wächsern – und als sie nach ihrer Hand griff, war diese kühl.

„Mama? Mama?“ Sie erkannte, dass sie keine Antwort mehr erwarten konnte, und blieb einfach am Bett sitzen, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen.

Die Hand in ihrer wurde immer kälter und schließlich schloss sie ihrer Mutter die Augen, streichelte noch einmal die wächsernen Wangen und faltete ihr die Hände vor dem Leib.

Eigentlich war das Unsinn, wusste sie, der Totengräber würde Mama doch in ein Leichenhemd hüllen…

Oh. Ein Leichenhemd – was könnte sie da verwenden? Sie hatte auf keinen Fall die Mittel, ein neues Hemd zu kaufen – der Sarg würde schon teuer genug werden. Immerhin hatte die Familie Linton eine Familiengruft im Park hinter der Hall. Blumen… aus dem Park, sie würde die Tante um Erlaubnis bitten. Und ein Leichenbegängnis würde es nicht geben, denn Gäste würden nicht kommen, nicht für die Witwe eines jüngeren Sohnes.

Sie tupfte sich die Augen mit einem Schürzenzipfel ab und zog die Vorhänge im Schlafzimmer zu, dann stieg sie die Treppe hinunter und ging Bessie anschirren.

Dr. Sheramy nickte betrübt, als sie ihn informierte, und versprach, später vorbeizukommen und obendrein den Totengräber zu informieren.

„Danke“, murmelte Sarah. „Das wäre eine große Hilfe. Dann bringe ich die traurige Nachricht zur Hall.“

Er betrachtete sie näher. „Sarah, wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?“

„Ich weiß nicht… doch, die Hammelbrühe, die Mama verschmäht hatte. Ich konnte sie doch nicht umkommen lassen, so etwas können wir uns nicht leisten.“

„Sarah, das war vor vier Tagen!“

„Es hat für drei Teller gereicht“, erklärte sie abwesend. „Ich fürchte, ich muss jetzt den Viscount informieren…“

„Ja, Sarah, fahren Sie nur zur Hall. Aber essen Sie nachher etwas Ordentliches!“

Sie versprach es, obwohl sie nicht wusste, ob überhaupt noch etwas Essbares im Haus war, und stieg wieder auf ihr Gig.

Onkel Victor nickte teilnahmsvoll, als sie ihm die Todesnachricht brachte, und sprach ihr sein Beileid aus. „Komm, setz dich doch ein wenig zu Barbara und den Mädchen in den Salon!“

Nun, wenn er meinte?

Lady Glanby äußerte Mitgefühl in gemessenem Ton, Selly und Lavvy umarmten Sarah herzlich. „Du Arme, was wirst du denn jetzt tun?“

Der Viscount und seine Frau wechselten einen halb bedrückten, halb verlegenen Blick.

„Ich weiß es nicht. Vermutlich werde ich mir eine Stelle suchen müssen.“

„Was!“ Lavinia war empört. „Eine Stelle? Du bist die Nichte eines Viscounts! Und was für eine Stelle sollte das überhaupt sein?“

„Vielleicht als Gouvernante? Ich habe von meinen Eltern eine Menge gelernt – ich könnte einen kleinen Jungen durchaus auf die Schule vorbereiten. Oder als Zofe? Nein, von feiner Kleidung verstehe ich nicht viel.“

Selina betrachtete sich das graue, abgetragene Kleid und die zwar saubere, aber auch fadenscheinige Schürze darüber und seufzte. „Nein, wohl eher nicht. Aber trotzdem – das muss doch wohl nicht sein! Papa! Mama!“

„Als Hausmädchen“, überlegte Sarah weiter, ohne das Unbehagen von Onkel und Tante wahrzunehmen.

„Nun“, versuchte der Viscount schließlich zu begütigen, „man wird sehen. Eine Lösung wird sich schon finden. Aber dass Sarah auf eigenen Füßen stehen möchte, ist doch auch verständlich, nicht wahr?“

„Natürlich wäre es ideal, wenn sich jemand fände, der dich heiratet, mein Kind“, stellte Lady Glanby fest.

Sarah lächelte trübe. „Wer sollte das wohl sein, liebe Tante?“

Ja, das wusste Lady Glanby auch nicht. Die Gegend war nicht gerade reich an begehrenswerten Junggesellen und Sarah war ein nettes, freundliches, häusliches Mädchen, gewiss auch nicht hässlich, aber sie hatte weder Vermögen noch das Zeug zur Debütantin der Saison.

Nicht einmal ihre eigenen Töchter, die noch etwas hübscher und vergleichsweise wohlhabend waren, hatten bis jetzt Verehrer gefunden. Und an eine Saison in London war angesichts der Familienfinanzen gar nicht zu denken, da würde Paul schon energisch Einspruch erheben - und er hätte Recht.

So mussten die seltenen Bälle in Tunbridge Wells genügen, aber dabei hatte sich bis jetzt nichts ergeben. Lavinia war neunzehn, Selina achtzehn, Sarah zweiundzwanzig.

Und woher sollte Paul eines Tages eine nette und passende Ehefrau nehmen? Schließlich wäre er der nächste Viscount Glanby und musste die Linie fortsetzen!

Ein Aufkeuchen riss sie aus ihren Überlegungen. Sie fuhr herum und sah Sarah regungslos auf dem Boden liegen, die Cousinen über sie gebeugt und ihre weißen Wangen tätschelnd.

„Großer Gott, was hat sie bloß? Sarah? Sarah! Mama, hast du kein Riechsalz?“

Lady Glanby reichte das Fläschchen hastig hinunter und binnen Kurzem hustete Sarah, richtete sich auf und blinzelte verwirrt. „Was ist denn passiert?“

„Du warst ohnmächtig“, erklärte Lavinia.

„Oh, wie dumm. Das ist mir noch nie passiert…“

„Vielleicht war es der Schock“, vermutete der Viscount, dem ohnmächtige ebenso wie weinende Frauen ein Gräuel waren, und wandte sich verlegen zum Fenster.

„Ich habe keinen Schock erlitten“, widersprach Sarah und kam wieder auf die Füße, „Dr. Sheramy hatte mir doch gesagt, dass sich Mama nicht mehr erholen würde.“

„Aber du bist so bleich!“, rief Selina. „Wirst du vielleicht krank?“

„Ich war noch nie krank“, empörte sich Sarah, allerdings mit schwankender Stimme, und hielt sich rasch am Türrahmen fest.

„Wird dir schon wieder schwach?“, fragte Lavinia besorgt.

Lady Glanby betrachtete sich ihre Nichte genauer. „Sarah, wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?“

Sarah riss die Augen auf. „Warum? Ich fürchte, ich weiß es gar nicht genau. Ich glaube, gestern. Oder?“

„Kind, warum isst du denn nicht vernünftig?“, wollte der Viscount wissen.

Sarah spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen – sollte das auch noch ein Vorwurf sein?

„Ich habe das gegessen, was Mama verschmäht hat. Die Hammelbrühe.“

„Iih!“, kommentierte Lavinia.

„Und sonst?“

„Sonst… ich weiß nicht, was noch im Haus ist. Etwas Brot vielleicht. Ich muss ohnehin zurück, dann werde ich nachsehen. Ich muss ja auch den Haushalt auflösen.“

„Lass nur, Sarah, das hat doch Zeit“, mischte sich der Viscount wieder ein.

„Ich beschäftige mich gerne etwas. Außerdem dachte ich doch ohnehin nur an die Kleider und einige Bücher. Alles andere gehört doch wohl zum Besitz, nicht wahr?“

„Was meinst du mit „Alles andere, Sarah?“, fragte Selina.

„Die Möbel, das Kochgeschirr, das Porzellan, die Bettwäsche – oder?“

Das traf zwar tatsächlich zu, aber es klang doch sehr hart; Onkel und Tante wechselten einen peinlich berührten Blick. Sarah wandte sich zur Tür. „Ich wollte euch nicht die Stimmung verderben; ich glaube, ich gehe jetzt besser. Ich wünsche noch einen schönen Abend.“

Damit eilte sie in Halle und so schnell zur Eingangstür, dass Grimes es nicht einmal schaffte, ihr rechtzeitig die Tür aufzureißen. Bessie fand sich unsanft von den Blumen neben der Tür entfernt und zur Allee gedreht, so dass sie besonders lustlos antrabte. Dennoch war Sarah bereits einigermaßen außer Hörweite, als sich ihre Verwandten aufgerafft hatten und sich nun im Portal drängten und ratlos die Auffahrt entlang spähten.

Sie versuchte, sich auf den Feldweg und auf Bessies üble Laune zu konzentrieren und nicht auf das hohle Gefühl in ihrem Inneren, und so gelang es ihr tatsächlich, bis zum Dower House zu gelangen, abzusteigen, Bessie vor einem Stück saftigen Rasens anzubinden, sie flüchtig abzureiben (ins Schwitzen war die ältliche Stute unterwegs auch kaum geraten) und ins Haus zu treten.

Dort durchsuchte sie hastig die Küche und fand noch einen Kanten steinhartes Brot. War das der Rest von dem Laib, den sie Anfang letzter Woche gebacken hatte? Ja, sie hatte das Brot oben sternförmig eingeschnitten, und davon sah man noch eine Spur.

Sie holte sich einen Becher Wasser am Brunnen hinter der kleinen Spülküche und setzte sich damit und mit dem versteinerten Brot und einem Messer an den Küchentisch. Immerhin gelang es ihr, ein kleines Stückchen Brot abzuschneiden oder besser zu reißen und es vorsichtig zu kauen. Mal stelle sich vor, sie bisse sich noch einen Zahn aus! Dann könnte sie sich wirklich nur noch als Küchenmagd verdingen…

Das Kauen war anstrengend, aber schließlich war der Bissen Brot doch einigermaßen schluckbar. Sie schluckte also und spülte mit dem Wasser nach.

Satt war sie damit nicht.

Was wäre denn, wenn sie ein Stück Brot in Wasser legte, um es aufzuweichen? Sie probierte es aus und beschloss, das Brot eine Zeitlang liegen zu lassen. In der Vorratskammer musste es doch noch Äpfel geben…

Ja, exakt zwei - eher Misstrauen erweckende – Exemplare. Sie schnitt den weich gewordenen Teil ab, untersuchte den Rest auf unerwünschte Bewohner und biss schließlich vorsichtig ab. Mehlig, nun gut, aber wurmfrei und nicht verfault. Ihr Magen beruhigte sich zusehends.

Aber was sollte sie in den nächsten Tagen essen? Morgen hatte sie vielleicht noch einen Rest des nassen Brots, aber davon abgesehen war die Speisekammer so leer wie der Vorratsraum. Nicht einmal verlockende Krümel von irgendetwas fanden sich noch – und am Haken für den Schinken gab es nur noch ein Restchen Schnur.

Aber zu Mamas Lebzeiten war doch auch genug zu essen dagewesen? Sarah setzte sich ins Wohnzimmer vor den kalten Kamin und überlegte.

Woher hatte Mama diese kleine Rente bezogen? Von Onkel Victor? Aus einem Rest des Vermögens von Papa? Aber hatte Papa als jüngerer Bruder überhaupt Vermögen besessen? Und wenn ja, wo war es jetzt? War das Einkommen mit Mamas Tod erloschen?

Unsinn, tadelte sie sich selbst. Sogar wenn das Einkommen nun wegfiel: Mama war heute Nacht gestorben und ganz plötzlich war die Speisekammer leer? Das hörte sich eher nach einem bösen Märchen an…

Gut, während Mamas Krankheit hatte sie sich nicht allzu sehr um Einkäufe gekümmert, denn Mama wollte ja ohnehin nichts essen und die Sorge war Sarah selbst auf den Magen geschlagen.

Wenn sie aber nicht eingekauft hatte, musste doch irgendwo noch Geld sein? Wo bewahrte Mama das Geld auf, das sie einmal im Monat in der Stadt von der Bank geholt hatte? Von dem sie Sarah Geld für die Einkäufe zu geben pflegte? Knapp bemessen natürlich, damit man bis zum Monatsende auch hinreichte?

Sarah sah sich suchend um. Das Dower House war eher ein Häuschen, man merkte, dass die Familie Linton nicht mit großen Reichtümern gesegnet war; sie besaß ein kleines Herrenhaus und ein entsprechend winziges Witwenhaus, in dem der jüngere Sohn mit Frau und Tochter gelebt hatte, seitdem die Dowager Viscountess – als Sarah noch nicht laufen konnte - verstorben war. Im Erdgeschoss gab es das Wohnzimmer, die Küche mit Spülküche und einen Abstell- und Garderobenraum, im Obergeschoss drei Schlafzimmer und eine Badekammer mit einer Wanne, die man schon lange nicht mehr benutzt hatte, da es am Personal fehlte, um sie mit heißem Wasser zu füllen. Im Dachgeschoss standen zwei Dienstbodenräume leer – und hinter dem Haus gab es einen Verschlag mit einem Abort. Nicht gerade neuzeitlich, dachte Sarah, sogar im Herrenhaus hatten sie schon eine Einrichtung mit Wasserspülung. Dort dachten sie auch schon über Gasbeleuchtung nach und hier gab es insgesamt fünf Petroleumlampen und noch einige Kerzen.

Im Wohnzimmer durchsuchte sie rasch den Sekretär, wo sie Mamas Testament entdeckte. Sie sollte es wohl dem Onkel bringen. Nun, morgen vielleicht. Sie war müde, Bessie war müde.

Einige alte Briefe, auch welche von Papa an Mama, mit einem blauen Seidenband umwickelt, das ihr unter den Händen zerfiel. Diese Briefe würde sie behalten, denn ihre Eltern hatten eine Liebesheirat geschlossen und das war doch wohl der Erinnerung wert? Auch wenn sie im Moment nicht die Kraft hatte, sie zu lesen.

Ansonsten fand sie nur noch Papas Siegelring, einige Blatt unbenutztes Papier und einen Bogen, auf dem Mama – oder Papa? – Notizen zu einer Metamorphose des Ovid gemacht hatte. Das würde sie auch als Erinnerung aufbewahren… Aber Geld fand sie nicht, nicht in den kleinen intarsierten Schublädchen (zumeist leer), nicht in den Brieffächern, nicht in den großen Fächern. Sie beschäftigte sich einige Minuten lang damit, die spärlichen Habseligkeiten ihrer Mutter gefällig zu arrangieren und im Sekretär Staub zu wischen, dann sah sie sich weiter um. Zwei halbhohe Regale neben dem – natürlich kalten – Kamin.

Links Literatur in lateinischer und griechischer Sprache, rechts die eigenen Klassiker, Chaucer, Marlowe, Shakespeare…. ein intarsiertes Kästchen, leider leer.

In der Küche? Vielleicht in einem Gefäß in der Vorratskammer?

Nein, dort konnte sie auch über die leeren Bretter wischen und die ebenso leeren Gefäße spülen und abtrocknen.

Mamas Schlafzimmer? Dort lag Mama immer noch, kalt und starr und fremd wirkend.

Dies machte es Sarah nahezu unmöglich, dort nach Geld zu suchen, aber sie verdrängte ihre Beklemmung, versuchte, den Leichnam ihrer Mutter zu ignorieren, und sah sich suchend um. Der Toilettentisch barg keine Verstecke und auf der Platte aus poliertem Kirschbaum lagen nur Haarbürste und Kamm – Mama hatte von Puder und Rouge nichts gehalten.

Ach ja – die Schmuckschatulle! Viel enthielt sie nicht, eine schmale Perlenkette, ein Medaillon mit Papas Porträt darin und einen altmodischen Ring mit einem großen roten Stein.

Sarah überwand sich und zog den Ehering von der kalten Hand ihrer Mutter, um ihn ebenfalls in die Schatulle zu legen, bevor sie das Kästchen wieder schloss.

Und nun? Es blieb nur der Schrank. Mamas Kleider und Wäsche zu durchsuchen, erschien ihr recht pietätlos – aber was sollte sie tun? Hätte Mama eben den Rest des Monatsgeldes in einer Börse im Schreibtisch aufbewahrt, wie es wohl auch üblich war…

Mamas Kleider – viele waren es nicht – hingen etwas verloren in dem mächtigen alten Schrank. Hastig durchforstete Sarah die Taschen in den Röcken und fand schließlich tatsächlich ein Samtbeutelchen, das sich vielversprechend schwer anfühlte.

Sie schaute hinein – tatsächlich, goldener Schimmer, ganze zehn Guinees! Wenn man bedachte, dass ein großes Weizenbrot ungefähr zehn Pence kostete… das würde eine Zeitlang vorhalten.

Es sei denn, Onkel Victor war der Ansicht, dass alles, was Mama hinterlassen hatte, ihm zustand. Eigentlich war Onkel Victor ein freundlicher Mann, aber er hatte auch zu kämpfen – und Cousin Paul würde ihn darin bestärken, alles für sich zu reklamieren. Schließlich standen ihm die Töchter, die noch unterzubringen waren, wohl näher als die Nichte.

Sie versenkte das Samtbeutelchen in ihrer eigenen Rocktasche und stieg die Treppe wieder hinunter, denn es hatte geklopft.

Die folgende Stunde verlief in großer Geschäftigkeit, denn Dr. Sheramy hatte den Bestatter und die Leichenfrau, Mrs. Hunts, mitgebracht.

Mrs. Hunts entkleidete die Leiche routiniert und wusch sie, während Sarah mit abgewandtem Blick das schönste von Mamas Nachthemden heraussuchte und es der Leichenfrau reichte. Sobald die Tote schicklich und präsentabel dalag, die Hände wieder auf der Brust gefaltet, und Mrs. Hunts ihr die Haare bürstete und sie zu zwei ordentlichen Zöpfen flocht, wurde der Sarg heraufgebracht und neben dem Bett abgestellt. Der Bestatter hatte nur ein kleines Geschäft und keine Gesellen oder Lehrlinge. Als also die Leiche auf die Polster darin gebettet und der Deckel auf Sarahs Bitte hin geschlossen war, musste Dr. Sheramy, immerhin ein kräftiger Mann, der zur Not auch dem Tierarzt beistehen konnte, einen Ochsen zu halten, mithelfen, den Sarg wieder nach unten zu tragen.

Plötzlich wirkte das Zimmer groß und leer. Sarah zog mit müden Bewegungen das Bett ab und warf die Leintücher und den Kissenbezug in der Küche in den Waschkessel.

Nun stand der Sarg also unten; übermorgen würde die Beerdigung stattfinden, hatte Dr. Sheramy angekündigt, der mit dem Pfarrer gesprochen hatte. Und Mr. Wenderby würde heute noch vorbeikommen, um die Einzelheiten zu klären. Dazu sollte wohl auch Onkel Victor gebeten werden…

Sarah überlegte gerade, ob es Sinn hatte, heute doch noch einmal zur Hall hinüberzufahren, um Onkel Victor zu informieren, oder ob sie dann ausgerechnet den Pfarrer verpasste, als es wieder klopfte.

Onkel Victor war vorbeigekommen! Sie lächelte ihn dankbar an und bat ihn herein.

Das Wohnzimmer wirkte durch den Sarg natürlich recht deprimierend, aber sie konnte den Viscount ja nun auch nicht in die Küche bitten, also rückte sie die Stühle so zurecht, dass sie dem Sarg auf dem Esstisch den Rücken zuwandten, und bat den Onkel, sich zu setzen.

Onkel Victor tätschelte etwas gedankenverloren den Sarg, fröstelte und setzte sich. Sarah bot an, Tee zu kochen. „Ja, danke, mein Kind. Kalt ist es hier. Warum heizt du denn nicht?“

„Wir haben doch kein Kaminholz mehr! Nur Mamas Schlafzimmer wurde geheizt. Einen Moment, bitte!“

Sie eilte in die Küche, wo immerhin noch etwas Holz im Herd lag, zündete das Feuer an und setzte den Kessel auf. Viel Tee gab es auch nicht mehr – aber immerhin ein hübsches Service, das sie auf dem silbernen Tablett gefällig anrichtete.

Ihr Onkel tauchte in der Küchentür auf. „Sarah, warum habt ihr nie etwas gesagt?“

„Worüber denn, Onkel Victor? Ich würde dir gerne etwas dazu anbieten, aber ich fürchte, es ist nichts da.“

„Darüber, wie ihr hier lebt – gelebt habt“, antwortete er leicht gereizt. „Und nein, ich brauche kein Gebäck.“

„Ich verstehe nicht - wie haben wir hier denn gelebt? Wir haben das Dower House ordentlich gepflegt, das versichere ich dir!“

Sie goss den Tee auf und stellte den Kessel wieder auf den Herd.

„Aber wovon habt ihr gelebt? Es erscheint mir alles doch recht – nun ja – ärmlich?“

„Sicher, wir hatten nicht viel, aber wir waren eigentlich recht zufrieden. Dass es so schnell vorbei sein würde, hätte ich freilich nicht gedacht. Und wovon wir gelebt haben? Ich dachte, du hättest Mama eine kleine Rente gezahlt, immerhin war sie doch die Frau deines Bruders.“

„Das war sie“, antwortete der Viscount gedankenvoll.

„Nun“, Sarah nahm das Tablett auf und ging voraus ins Wohnzimmer, „was wirst du nun mit dem Dower House anfangen?“ Das letzte sagte sie über die Schulter hinweg. Als der Viscount das Zimmer betrat, hatte sie bereits das kleine Tischchen zwischen den beiden Stühlen gedeckt.

„Was meinst du mit anfangen?“

„Vielleicht könnte Paul hier wohnen, wenn er einmal heiratet. Für den Anfang wäre es wohl recht nett. Natürlich, wenn einmal Kinder kommen… aber es gibt ja sogar zwei Dienstbotenkammern unter dem Dach.“ Sie lächelte ihren Onkel an und reichte ihm seine Tasse.

Er nippte verdutzt und stellte fest, dass der Tee immerhin stark und aromatisch war.

„Aber ihr hattet keine Dienstboten?“

„Nein. Vermutlich hätte die Rente dafür nun doch nicht gereicht. Ach, bevor ich es vergesse: Ich habe noch den Rest des Geldes hier, vermutlich gehört es dir. Es sind immerhin zehn Guinees, allerdings müsste man davon wohl noch den Doktor und die Beerdigung bezahlen. Oder möchtest du, dass ich das übernehme?“

Ohne nachzudenken nahm er den Samtbeutel, den sie ihm hinhielt. „Wovon möchtest du es denn übernehmen? Ich meine, du besitzt doch wohl überhaupt nichts?“

Er ließ seinen Blick beziehungsreich über die karge Einrichtung wandern.

„Mein Konfirmationskreuz. Ich glaube, es ist aus Silber. Ich könnte es verkaufen, allerdings weiß ich nicht, wo. Vielleicht könntest du das für mich übernehmen? Ansonsten besitze ich tatsächlich nichts. Dinge wie die Kerzenleuchter gehören ja schließlich dir, als Teil des Dower House.“

„Bist du da sicher?“

„Woher soll ich das schon wissen? Ich nehme es eben an. Aber wenn du das Kreuz nicht für mich verkaufen willst, kann ich auch Dr. Sheramy darum bitten. Er war eigentlich immer recht hilfreich.“

Der Viscount setzte seine Tasse hart ab. „Sarah, was soll das alles?“

Sie starrte ihn verständnislos und erschrocken an. „Was meinst du, Onkel Victor?“

„Was denkst du eigentlich über mich? Dass ich den Rest des Geldes deiner Mutter einstecke und dich die Beerdigung von deinem kleinen Konfirmationskreuz bezahlen lasse? Glaubst du, ich bin so hartherzig?“

„Nicht hartherzig, Onkel Victor. Aber du hast immerhin eine Familie zu versorgen und selbst kein großes Vermögen – und das Dower House ist doch ein Teil des Anwesens! Ich habe jetzt doch kein Recht mehr, hier zu wohnen.“

„Du bist meine Nichte, du hast jedes Recht, hier zu wohnen!“, fuhr er sie an. Sie setzte ihre Tasse hastig ab und fuhr sich über die Augen. „Es tut mir leid, ich wollte nur nicht lästig fallen.“

„Ja, du möchtest irgendwo Hausmädchen werden, nicht wahr? Welch ein Unsinn!“

„Warum ist das Unsinn? Bedenke, heiraten kann ich doch wohl nicht, und wenn ich von etwas leben möchte, muss ich doch arbeiten. Warum nicht als Hausmädchen? Davon verstehe ich wenigstens etwas. Gouvernante – da fehlt es mir leider wohl doch an Dingen wie Aquarellmalerei und Piano, weil Papa und Mama so etwas nicht so sinnvoll fanden.“

„Die Nichte von Viscount Glanby arbeitet als Dienstbote“, kommentierte er bitter.

„Oh! Du meinst, das schadet deinem Ruf? Das wollte ich natürlich nicht – aber was sollte ich sonst tun? Oh, ich könnte unter mich einem anderen Namen verdingen – und möglichst weit weg, vielleicht in Schottland? Dann würde es doch wohl niemand erfahren?“

„Lass die Albernheiten. Du wirst keine Stelle als Dienstbote annehmen, die Beerdigung und den Doktor bezahle ich – und dein Kreuz und die zehn Guinees sind dein Notgroschen, hast du das verstanden? Ich schicke einen Boten zum Bestatter und schlage ihm vor, deine liebe Mutter übermorgen Mittag in der Familiengruft beizusetzen. Bist du damit einverstanden?“

„N-natürlich! Das ist äußerst großzügig von dir, Onkel Victor!“

„Nein, das ist es nicht. Es ist das allerwenigste, was ich tun kann. Sei nicht so unterwürfig, Sarah. Möchtest du gerne zu uns herüberkommen oder lieber in Ruhe von deiner lieben Mutter Abschied nehmen?“

„Ich werde hierbleiben, wenn es dir recht ist. Etwas aufräumen, ausfegen…“

Er nickte und erhob sich. „Hast du überhaupt noch genug zu essen?“

Sarah spürte, wie sie errötete. „Einen Rest Brot, leider schon etwas hart. Ich habe aber gar keinen Hunger.“

Die Lüge stand ihr wahrscheinlich ins Gesicht geschrieben, denn er knurrte: „Ich lasse dir etwas herüberschicken. Ich würde ja ein Hausmädchen mitschicken, aber wahrscheinlich lenkt dich die Arbeit etwas von deiner Trauer ab.“

Sie nickte stumm und sah ihm nach, als er in den Flur trat und sich unter der niedrigen Haustür bückte, um nach draußen zu kommen, wo sein Wagen stand. Zwei kräftige, junge Pferde – kein Vergleich mit Bessie, die gerade einen Strauch abweidete und den beiden Konkurrenten böse Blicke zuzuwerfen schien.

Nun, damit war einiges geklärt. Sehr nett von Onkel Victor, das musste man sagen! Dennoch wusste sie nicht, was nun aus ihr werden sollte. Alles, was sie dem Onkel auseinandergesetzt hatte, stimmte doch: Heiraten würde sie nicht mehr, sie war an der Grenze zur alten Jungfer, besaß keinen Penny, kannte niemanden und ging nicht in Gesellschaft. Schon gar nicht während der Trauerzeit. Und besonders schön fand sie sich eigentlich auch nicht. Im besten Fall konnte sie im Herrenhaus Aufnahme finden und die Anstandsdame ihrer Cousinen spielen – nun, warum eigentlich nicht? Lavinia und Selina waren nette Mädchen, in Glanby Hall brannten die Kaminfeuer, es gab satt zu essen – und gegen Flick- oder Stickarbeiten hatte sie nichts einzuwenden.

Hatte Onkel Victor ihr das wirklich angeboten? Es hatte sich fast so angehört, aber sie wollte es lieber noch nicht für garantiert annehmen.

Rätselhafte Nachbarschaft

Подняться наверх