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Am übernächsten Tag, einem Montag, kleidete Sarah sich in ihr einziges schwarzes Gewand und setzte eine schwarze Haube auf. Das Haus war tadellos aufgeräumt und geputzt, in der Küche stand noch der Korb, den Onkel Victor geschickt hatte – nun, wohl eher Tante Barbara: frisches Brot, eine Pastete, ein halbes Dutzend Eier, eine Flasche Wein und ein ordentliches Stück Käse. Sarah hatte ein wenig davon gegessen und alles Übrige in die kühle Kammer geräumt.

Das schwarze Kleid saß recht locker, zumindest über der Brust und an den Ärmeln – der gerade, hochangesetzte Rock natürlich sollte großzügig fallen.

Insgesamt schien sie in der letzten Zeit wohl tatsächlich an Gewicht verloren zu haben. Sie überzeugte sich selbst davon, dass dies nach den traurigen Tagen, die hinter ihr lagen, wohl nicht verwunderlich sein konnte. Sicher kehrte ihr Appetit irgendwann wieder zurück!

In einer Stunde würde Onkel Victor einen Wagen schicken, denn er war der Ansicht, das alte Gig mit Bessie sei einer Beerdigung nicht angemessen. Sarah überlegte gerade, was sie bis dahin tun sollte – in der Bibel lesen, vielleicht? Das wäre wohl das Richtige, nur hatte sie eigentlich keine Lust dazu, als der Türklopfer kräftig betätigt wurde.

Der Wagen, jetzt schon?

Sie eilte zur Tür und stand einer gut gekleideten Frau in den Vierzigern gegenüber, die ihr vage bekannt vorkam.

Sie fragte höflich, was sie für die Dame tun könne, und erntete ein breites Lächeln.

„Sarah, nicht wahr? Ich bin deine Tante Letty. Komm her, mein Kind!“

Sarah fand sich an einen warmen, weichen Körper gedrückt und herzhaft umarmt, was sie merkwürdigerweise als tröstlich empfand, obwohl ihr die Besucherin doch ganz fremd war.

„Komm doch herein“, bat sie, sobald Tante Letty sie wieder freigegeben hatte, und führte sie ins Wohnzimmer.

Tante Letty sah sich dort um, atmete sichtlich entsetzt ein und fröstelte sodann.

„Ich weiß, es ist recht einfach, aber wir waren hier immer zufrieden“, bemerkte Sarah etwas steif. „Möchtest du eine Tasse Tee?“

Tante Letty wehrte ab. „Ich war schon in der Hall drüben, um mein Gepäck abzustellen. Dort hatte ich auch schon Tee. Sarah, mein liebes Mädchen, warum ist es hier so leer? Und vor allem so kalt?“

„Das Feuerholz ist knapp, ich verwende es nur in der Küche, um Tee oder Suppe zu kochen. Und – leer? Wir haben Bücher, oben in den Schlafzimmern auch durchaus Kleider und Bettzeug. Was fehlt deiner Ansicht nach hier?“

„Eigentlich alles, was ein Zimmer gemütlich macht. Teppiche, Vorhänge, Bilder, Erinnerungsstücke… aber schließlich kenne – kannte ich meine Schwester Anne ja. Sie war immer schon etwas asketisch veranlagt.“ Sie seufzte. „Woran genau ist sie eigentlich gestorben?“

„Dr. Sheramy meinte, es sei eine Mischung aus Erschöpfung, einer schweren Erkältung und Trauer wegen Papa gewesen. Seinen Tod hat sie nie verwunden.“ Sarah wischte sich verlegen eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Und du wohl auch nicht?“

„Nun ja… ehrlich gesagt schon. Papa und Mama waren so eng miteinander verbunden, sie forschten auf den gleichen Gebieten, sie taten alles gemeinsam… ich hatte da durchaus die Freiheit, zu tun, wie mir beliebte, solange der Haushalt funktionierte. Dafür“ – sie lächelte flüchtig – „hatten sie beide nicht allzu viel Sinn.“

„Du hast diesen Sinn sehr wohl, wie ich sehe. Alles ist blitzblank.“

„Danke schön. Aber, Tante Letty – ich darf doch Tante Letty sagen? – ich verstehe nicht ganz: Wer hat dich von Mamas Tod benachrichtigt? Ich hätte es ja getan, aber ich wusste weder, wie dein voller Name lautet, noch, wo du genau wohnst. Ein Brief an Tante Letty, irgendwo in Kent wäre wohl nicht rechtzeitig zur dir gelangt.“

„Natürlich sollst du mich Tante Letty nennen, mein liebes Kind! Oder wolltest du mich als Mrs. Granger anreden? Und zu deiner zweiten Frage: Der hiesige Arzt – ein Dr. Sheramy? – hat mir geschrieben und auch gesagt, du wüsstest jetzt nicht, wohin.“

„Das ist nicht wahr!“, empörte sich Sarah. „Mir stehen verschiedene Wege offen.“

„Aber doch wohl nichts Erfreuliches?“

„Onkel Victor hat mir angeboten, in der Hall zu wohnen – hier kann ich ja alleine schlecht bleiben. Ich könnte die Gesellschafterin meiner Cousinen sein. Sie sind nette Mädchen.“

Mrs. Granger lehnte sich gemütlich zurück, soweit die eher unbequeme Stuhllehne es zuließ. „Nette Mädchen heiraten eines Tages – und dann? Deine Tante hat deinen Onkel, sie braucht keine Gesellschafterin… du würdest schnell zur Flickschneiderin der Familie herabsinken – oder eine Haushälterin ersparen.“

„Warum nicht? In der Hall sind sie auch nicht mit Reichtümern gesegnet. Wenn ich ihnen helfen kann, Kosten zu sparen, nachdem sie immer recht freundlich zu mir waren?“

„Das ist sicher sehr lieb von dir gedacht, aber ich hoffe doch, dass ich dir etwas Besseres anbieten kann. Zunächst aber: Welcher Weg stünde dir denn noch offen?“

„Ich könnte mich als Stubenmädchen verdingen. Nicht hier in der Gegend, natürlich, das wäre Onkel Victor zu Recht sehr peinlich. Vielleicht im Norden oder gar in Schottland, hatte ich überlegt.“

„Nun, derlei Überlegungen lässt du bitte ganz schnell wieder fallen, mein Kind!“

Sarah lächelte wehmütig. „Jetzt hast du eben wie Mama geklungen… ihr habt die gleiche Stimme, weißt du das?“

„Sicher, das war ja schon in unsrer Kindheit so. Pass auf, Sarah, ich werde dich morgen mitnehmen.“

„Mitnehmen – du meinst, zu dir nach Hause?“

„Gewiss, wohin denn sonst?“

„Aber – dein Gemahl? Deine Kinder?“

Mrs. Grangers Gesicht verdüsterte sich einen Moment lang. „Kinder waren uns leider nicht vergönnt. Und mein Gemahl, mein lieber Thomas, freut sich schon sehr auf dich. Wir hätten gerne etwas junges Leben im Haus.“

Sarah blinzelte. „Das klingt ganz reizend. Was könnte ich bei dir – bei euch denn tun?“

„Tun? Was du möchtest. Lesen, Spazierengehen, die Dorfbewohner kennenlernen, den Neffen meines Mannes kennenlernen, der uns häufig besucht, aber nicht bei uns lebt, weil er sein eigenes Gut versorgen muss, ab und zu auf Tanzveranstaltungen gehen, die freilich recht – nun ja – ländlich sind.“

Sarah musste kichern. „Weil die Vergnügungen hier so großstädtisch sind? Hier gibt es keine Tanzereien, weil hier so gut wie keine jungen Leute leben. Tante Barbara weiß gar nicht, wie sie meine Cousinen jemals präsentieren soll, damit sie geeignete Partien kennenlernen.“

„Sie könnten uns ja einmal besuchen, wenn du dich eingelebt hast“, bot Mrs. Granger an.

„Das wäre ausgesprochen großzügig, Tante Letty! Aber eigentlich hatte ich eben fragen wollen, wie ich mich bei euch nützlich machen könnte, um eure Freundlichkeit zu vergelten.“

„Nicht doch, meine Liebe! Du sollst unsere liebe Nichte sein, sonst nichts. Meinst du, du kannst morgen abreisefertig sein? Hier hält dich doch nichts, oder?“

Sarah seufzte. „Ich schätze den Viscount und seine Familie – aber ich wäre für sie wohl doch eine Belastung. Und du bist sehr nett zu mir… ja, ich kann bis dahin bestimmt reisefertig sein. Viel mitzunehmen gibt es ja nicht.“ Dies unterstrich sie mit einer weit ausholenden Geste, die einmal rund um das Wohnzimmer wies.

„Da hast du freilich Recht – aber die Bücher deiner Eltern?“

„Einige werde ich zur Erinnerung mitnehmen, aber doch nicht alle! Eine so leidenschaftliche Liebhaberin der antiken Sprachen bin ich nun auch wieder nicht. Ich werde sie zusammenpacken und Onkel Victor fragen, ob er ihnen Asyl in seiner Bibliothek gewähren möchte.“

„Gute Idee. Ich denke, wir werden dir bei der Modistin in Tunbridge eine neue Garderobe machen lassen.“

Der Blick, den sie über das abgetragene schwarze Kleid gleiten ließ, machte Sarah verlegen; sie strich fahrig über den glatten Stoff und murmelte: „Ich habe es schon seit Papas Tod. Und hier brauchte ich doch auch nicht viel an Garderobe, es sah mich doch auch niemand.“

„Was hast du nur den ganzen Tag unternommen, wenn du hier gesellschaftlich so isoliert warst?“

„Ich sagte doch schon – der Haushalt… manchmal ging ich auch spazieren oder besuchte meine Cousinen… ich lese auch gerne, aber im Gegensatz zu meinen Eltern lieber englische Romane als lateinische und griechische Epen.“

„Wir haben eine recht ansehnliche Bibliothek“, lockte Tante Letty. Bevor Sarah mit mehr als einem Lächeln reagieren konnte, klopfte es aber wieder – und dieses Mal war es der Kutscher Seiner Lordschaft. Beide Wagen fuhren zur Hall, wo die Pferde und die Kutscher ordentlich versorgt werden konnten, und dann brach der kleine Zug schwarzgekleideter Gestalten zur Familiengruft auf, wo der Pfarrer die üblichen Worte sprach, nachdem zwei kräftige Knechte des Onkels den Sarg an der richtigen Stelle in der Gruft – direkt neben Papa – platziert hatten.

Sarah starrte blick- und tränenlos vor sich hin, Tante Barbara, die etwas zur Sentimentalität neigte, schluchzte leise, Lavvy gab kleine unglückliche Laute von sich, der Viscount räusperte sich gelegentlich verlegen und Tante Letty hielt Sarahs Hand fest und tröstlich umschlossen. Paul und Selly blieben so stumm wie Sarah selbst.

Schließlich schloss Mr. Wenderby nachdrücklich die Bibel und schlug das Kreuz über dem Sarg, dann reichte er allen die Hand, Sarah zuerst. „Was wirst du jetzt tun, liebes Kind?“

„Sie wird mit mir kommen“, antwortete Tante Letty mit fester Stimme. Tante Barbara wirkte leicht verdutzt, Paul schien sichtlich aufzuatmen.

Ein bedrückender Moment der Stille trat ein, bis der Viscount sich schließlich aufmunternd räusperte. „Nun, ich denke, wir sollten jetzt eine Kleinigkeit essen, nicht wahr? Und deiner lieben Mutter gedenken, Sarah…“

„Gewiss, mein Kind“, sagte nun auch Tante Barbara, „es ist auch schon etwas vorbereitet.“

Sie zogen genauso feierlich wieder zurück in die Hall, wo im Speisezimmer gedeckt war – mit schwarzem Tafelschmuck, bei dem Sarah unwillkürlich überlegte, ob das nun pietätvoll oder eher albern war. Sofort schalt sie sich selbst für diese Überlegung; sie sollte doch vor Trauer um Mama gar nichts anderes mehr wahrnehmen!

Wenigstens legte sie sehr gedämpften Appetit an den Tag, ohne dass sie sich dafür besonders anstrengen musste; auch die anderen stocherten in den eher bescheidenen Gerichten herum und aßen nur ab und zu einen Bissen. Nur Tante Lettys Erinnerungen an ihre Schwester als kleines Mädchen sorgten für einige schwächliche Ansätze zu Amüsement.

Schließlich wurde auch das fast unberührte Dessert abgetragen und alle sahen sich etwas unentschlossen an. Tante Letty führte schließlich die Entscheidung herbei, indem sie verkündete, zum einen sei sie müde und zum anderen müsse Sarah beginnen, ihre Sachen zu packen. Ob man ihr wohl eine geeignete Truhe zur Verfügung stellen könne?

Die Bereitschaft, mit der Onkel Victor sofort anordnete, eine solche Truhe und für den Fall der Fälle einen großen Mantelsack herbeizuschaffen, kränkte Sarah direkt ein bisschen. Wieder sorgte Tante Letty für Ablenkung, indem sie Lavinia und Selina zu sich einlud, „sobald Sarah sich ein wenig eingelebt hat. Wir leben zwar nicht in London, aber in Great Abbington gibt es doch häufiger Lustbarkeiten und recht nette Unternehmungen, die jungen Mädchen wohl gefallen könnten.“ Die Cousinen bedankten sich erfreut und hofften wortreich, Sarah möge sich doch bitte so schnell wie möglich einleben!

Sarah schwankte zwischen Betrübnis und Erheiterung – aber die vorübergehende Heiterkeit siegte, denn dass die beiden Mädchen sich aus der Langeweile von Glanby Hall fortsehnten, war nur zu verständlich. Schließlich wollten sie beide unbedingt einen Ehemann finden.

Endlich verabschiedete sich Tante Letty von den Lintons und begleitete Sarah ins Dower House, damit sie packen konnte. Während ihre Tante bei einer Tasse Tee in dem kahlen, kalten Wohnzimmer saß, spähte Sarah ratlos in ihren Schrank: Was sollte sie mitnehmen? Das schwarze Kleid trug sie schon, das dunkelgraue war ein wenig abgewetzt, aber es stand ihr recht gut, also packte sie es doch ein, ebenso das dunkelblaue mit den schmalen weißen Spitzenkanten am hohen Kragen und den engen Manschetten. Etwas gouvernantenhaft vielleicht, aber recht nett. Ein blassbraunes Kleid gab es auch noch, das am Saum kleine rostfarbene Stickereien aufwies. Ach ja, das hatte sie zu ihrem zwanzigsten Geburtstag bekommen!

Sie packte ihre Wäsche und zwei Nachthemden (weißer Batist, oft gewaschen, aber eine gute Qualität) dazu, einige ihrer liebsten Bücher, den Briefwechsel ihrer Eltern, ihr Medaillon mit den Portraits von Mama und Papa, außerdem ihre zweite Haube, die graue mit der Spitzenkante. Oh, die Knöpfstiefelchen – und die Halbschuhe mit dem kleinen Absatz! Sie wickelte sie in ein Tuch und schob sie unter die Kleidung.

Die Truhe war erst halb voll, der Mantelsack noch ganz leer – aber was sollte sie denn noch mitnehmen? Sie packte ihre eigene Briefmappe noch dazu, obwohl sie fast nichts enthielt, inspizierte alle Schrankfächer und Schubladen ihres kleinen Sekretärs – und fand nichts mehr.

Sie schleppte alles hinunter und sah dort ihre entspannt dasitzende Tante etwas kläglich an: „Mehr habe ich nicht.“

Tante Letty erhob sich. „Das macht doch nichts, mein Kind. Lass den Mantelsack später einfach in der Hall. Ich sagte doch, wir statten dich in Great Abbington neu aus. Oh, wie wird mir das Freude machen, ein junges Ding mit allem Nötigen zu versehen!“

„Aber liebe Tante, das ist doch bestimmt sehr teuer? Und dann bin ich ja auch in Trauer…“

„Ach, nur einige Wochen, mein Kind. Du bist doch schließlich keine Witwe! Und ich denke, du hast dir jetzt etwas Amüsement verdient.“

Sarah sah zweifelnd drein – ob sie sich wirklich amüsieren konnte, wie Tante Letty es nannte, wenn sie doch immer noch an Mama denken musste?

„Ich werde es versuchen, mich gut zu unterhalten“, versprach sie etwas unsicher. „Aber du wirst leider feststellen, dass ich auf diesem Gebiet recht ungewandt bin. Hier gab es ja keine Bälle oder andere Lustbarkeiten. Ich glaube, außer meinen Cousinen und mir wohnt hier weit und breit niemand im passenden Alter.“

Ihre Hand wurde wohlwollend getätschelt. „Da mach dir mal keine Sorgen, mein Kind – das lernt sich schnell. Bei uns gibt es einige junge Leute von angenehmer Art und unsere Veranstaltungen sind im Allgemeinen eher zwanglos. Du wirst staunen, wie schnell du dich hineinfinden wirst! Und jetzt komm, wir wollen in der Hall Abschied nehmen und dann aufbrechen.“

Während Sarah sich von Bessie verabschiedete, die dabei gleichmütig weiterkaute, verstaute der Kutscher die kleine Truhe hinten auf dem Wagen und hielt seiner Herrin und ihrer jungen Begleitung dann den Wagenschlag auf.

Sie rollten einige Minuten dahin und hielten dann vor dem Portal der Hall.

„Mit Bessie habe ich gut doppelt so lange gebraucht, um hierher zu kommen. Ich hoffe, Onkel Victor gibt ihr das Gnadenbrot…“

„Da bin ich ganz sicher. Er ist doch ein recht freundlicher Mann, nicht wahr?“

„Das gewiss – aber seine finanzielle Lage ist wohl auch nicht die beste – nun, ein Stück Weide dürfte kein Problem sein.“

Grimes öffnete die Tür und dienerte formvollendet. Die ganze Familie hatte sich bereits in der Hall versammelt, Tante Barbara leicht betrübt, Onkel Victor mit neutraler Miene und die Cousinen aufgeregt, weil sich Sarahs Leben so verändern sollte – gerade, dass sie nicht herumhüpften.

„Nun, meine liebe Sarah, ich hoffe doch, dass du bei Mrs. Granger ein angenehmes Leben haben wirst. Zumindest abwechslungsreicher als hier in unserer Abgeschiedenheit.“

„Dafür werde ich sorgen, Mylord“, entgegnete Tante Letty entschlossen. Sarah schluckte, jetzt, wo der Abschied da war, bedankte sich für alles, erklärte mit leicht schwankender Stimme, was sie aus dem Dower House mitgenommen hatte und was sich noch dort befand, und gab den überflüssigen Mantelsack zurück. Tante Barbara musterte ihn etwas betreten. „Aber liebe Sarah, hast du denn nicht mehr persönlichen Besitz?“

„Die Truhe war geräumig genug, vielen Dank, liebe Tante. Ach, Onkel Victor – Bessie steht noch vor dem Dower House. Du bist doch bitte so lieb und lässt sie ihre restliche Lebenszeit auf einer deiner Weiden verbringen? Sie ist ein freundliches Tier, nur schon recht betagt.“

Er versprach das alles und nahm seine Nichte in den Arm. Seine Gemahlin und seine Töchter taten es ihm gleich und es war sogar vereinzeltes Schniefen zu hören.

Sarah tupfte sich noch die Tränen aus den Augenwinkeln, als die Kutsche ihrer Tante bereits anfuhr. Hastig winkte sie noch einige Male, bis die Kurve in der Auffahrt die Familie ihren Blicken entzog.

Mrs. Granger verhielt sich ganz still, während der Wagen zügig dahinrollte; Sarah sollte sich erst einmal beruhigen und ihren Abschiedsschmerz auskosten können.

Ihre Schwester hatte an diesem Kind arg gesündigt, fand sie. Dieses karge Leben! Ja, Anne und der Verrückte, den sie geheiratet hatte, waren glücklich gewesen, wenn sie über einem unbekannten oder noch nicht ausgedeuteten antiken Text brüten konnten. Solange das Kind ab und zu etwas Brot und genügend Tee ins Arbeitszimmer brachte und solange wenigstens das Arbeitszimmer geheizt war, war ihnen nicht aufgefallen, dass im Lintonschen Dower House einiges im Argen lag.

Ob die beiden als Forscher einen Ruf genossen hatten, wusste Letitia Granger nicht, aber um ihr Kind hatten sie sich eindeutig zu wenig gekümmert. Das Mädchen hatte ihnen offenbar schon den Haushalt geführt, als es kaum auf die Tischplatten schauen konnte.

Und das Ergebnis? Sarah war ein recht hübsches Mädchen mit reichem hellbraunem Haar, das sich allerdings leider nicht lockte, großen dunklen Augen und einer hübschen Figur – aber sie war gesellschaftlich völlig ungeübt und mit zweiundzwanzig schon an der Grenze zur alten Jungfer. Wie hätte sie sich denn ihren Lebensunterhalt verdienen können, wenn sie, die Tante, nicht gekommen wäre? Als Köchin, wenn sie dafür gut genug war? Oder als Küchenhilfe – die Nichte eines Viscounts?

Das lenkte ihre Gedanken auf den Viscount und seine Familie. Reizende Leute, gewiss, aber doch auch gedankenlos. Hatte jemals jemand nach dem Mädchen gesehen, gerade nach Annes Tod? Hatte der Viscount gewusst, dass Sarah so gut wie nicht mehr zu essen im Hause gehabt hatte? War der Viscountess denn nie aufgefallen, wie mager das Mädchen war? Genau genommen hätten sie ihre eigene Nichte verhungern lassen, wenn sie selbst nicht gekommen wäre, um Sarah in ein schöneres Leben zu holen.

Sarah schien nicht nachzudenken oder zu trauern, sondern zu schlafen. Das arme Kind war wohl völlig erschöpft – erst die Pflege der todkranken Mutter, dann die Auflösung des Haushalts, soweit möglich, das Begräbnis, der Abschied von ihrer Familie und die Reise ins Unbekannte…

Erst nach über einer Stunde Fahrt regte sich Sarah wieder, schlug die Augen auf, wirkte einen Moment lang etwas desorientiert und lächelte dann.

Ganz reizend, fand ihre Tante und erwiderte das Lächeln. Daraus ließe sich sicherlich etwas machen…

Rätselhafte Nachbarschaft

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