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Die osmanische Gesellschaft

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Die osmanische Gesellschaft unterteilte sich grob in zwei Klassen. Die Staatsklasse, askeri, wörtlich das Militär, sowie die Klasse der Untertanen, reaya.

Die Staatsklasse (askeri) umfasste all jene Personen, die durch den Sultan mit exekutiver oder religiöser Macht betraut wurden. Die askeri unterteilte sich wiederum in drei unterschiedliche Gruppen, die nach ihren staatlichen Funktionen unterschieden wurden: Die Vertreter der hohen Verwaltung (kalimiye), die militärische Spitze (seyfiye) und die hohe Geistlichkeit (ulema). Während die Verwaltung mit administrativen Aufgaben betraut war, sprach die ulema (die hohe Geistlichkeit) Recht und überwachte rechtliche und finanzielle Angelegenheiten. Beide dieser Arme des Staatsapparates unterstanden der Zentralgewalt, waren aber unabhängig voneinander. So konnte ein vom Sultan ernannter Vali (Gouverneur) z. B. dem lokalen Kadi (Richter) keine Anweisungen geben. (Vgl. Inalcik, 1995: 124) Die ulema wiederum wurde in drei Gruppen von Funktionen unterteilt: Die Kadis (die Rechtsverwalter), die muftis (die Gelehrten und Interpreten des Rechts) und die imame (die Prediger). (Vgl. Ubicini, 1853: 82)

Die osmanische Staatselite hob sich von der breiten Masse der Bevölkerung durch Sprache, Kleidung, Speisen sowie eine osmanische höfische Kultur ab. All diese Eigenschaften der Elite konnten durch Bildung erworben werden. Der Umstand, dass es im Reich keine erbliche Aristokratie gab, förderte eine gewisse soziale Mobilität. Der Aufstieg in die Staatsklasse war nicht abhängig von familiärer, regionaler oder ethnischer Herkunft, sondern beruhte vielmehr auf persönlichem Ehrgeiz, Tüchtigkeit, Verdienste um den Staat und die Gunst des Sultans. Dies ermöglichte es auch Angehörigen unterer sozialer Schichten sowie Vertretern nicht-türkischer Volksgruppen, in hohe Staatsämter aufzusteigen. Ein wichtiges Kriterium war dabei die Angehörigkeit zur islamischen Religion. Wenn auch historisch belegt ist, dass es durchaus auch Beispiele von Nicht-Muslimen gab, die in die Staatsklasse aufgestiegen waren, waren es meist Konvertiten, die im Staatsdienst standen. Der Islam fungierte als eine Art Förderband an die Spitze. (Vgl. Rodrigue, 1996)

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In der klassischen Periode setzte sich die osmanische Herrschaftselite sogar zum Großteil aus christlichen Konvertiten, die aus den Balkanländern stammten, zusammen. Die herrschende Klasse verdankte ihren Status, ihre politische Macht und ihren wirtschaftlichen Wohlstand zur Gänze dem Staat. Dies schuf ein besonderes Loyalitätsverhältnis zu diesem. Die zentrale Stellung von Hof und Staat und die Abhängigkeit der Staatsklasse von den Zuwendungen, wie z. B. Landvergabe, durch den Sultan bedingten eine gewisse Distanz zur Bevölkerung. Der Staat als Wahrer des Rechtes, der Ordnung und nicht zuletzt der Religion galt als das wichtigste Gut, das es zu schützen, bewahren und, wenn notwendig, zu verteidigen galt.

Traditionell hegten die türkischen Staatseliten gegenüber individuellen und sozialen Bewegungen Misstrauen, da sie darin eine Gefahr für die Stabilität und Einheit des Staates sahen.

Die Staatselite fühlte sich einer über den regionalen und ethnischen Unterschieden stehenden osmanischen Hochkultur verpflichtet, die sich aus einem bestimmten Verhaltenscode, Werten, Bildung, Geschmack und dem Bewusstsein der Verantwortung gegenüber dem Staat und seinem Wesen zusammensetzte. Die Elite übte demnach nicht nur Macht aus, sondern sie war auch die Bewahrerin einer klassischen Zivilisation, einer großen Tradition, die einerseits auf den schriftlichen Quellen des Islams und andererseits auf adab, einem angemessenen Verhalten basierte. Während ersteres durch die ulema, die Gelehrten des Islams in den religiösen Schulen, den medresse weitergegeben wurde, wurde adab informell durch Ausbildung und Training den osmanischen Eliten weitergegeben. Die Hochkultur der osmanischen Staatseliten bildete ein wichtiges integratives Element in einem Reich, das durch so viele unterschiedliche ethnische Gruppen geprägt war. (Vgl. Zürcher, 2004)

Der Staatsklasse stand die Gruppe der Untertanen (reaya) gegenüber. Diese Klasse umfasste alle Subjekte des Sultans, die auf osmanischem Terri­torium lebten, Steuern zahlten und nicht Teil der herrschenden Klasse (askeri) waren. In der großen Gruppe der Untertanen (reaya) wurde zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, Stadtbewohnern, Bauern, sowie Sesshaften und Nomaden unterschieden. Je nach Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Kategorie unterschieden sich Status und die daraus resultierenden Steuerpflichten. (Inalcik, 1995: 124ff.)

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Das Osmanische Reich war wie weiter oben erwähnt agrarisch geprägt. Der Großteil der Bevölkerung lebte in ländlichen Gebieten. Die einzelnen konfessionellen und ethnischen Gruppen lebten meist isoliert voneinander in getrennten Dörfern. Die relativ wenigen Städte des Reiches hingegen, vor allem jene, die in den levantinischen Küstengebieten lagen, waren meist kosmopolitisch geprägt. Allerdings waren auch hier die Wohnorte von Griechen, Armeniern, Juden und Muslimen getrennt. Vor allem zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen herrschte nur eingeschränkt Austausch. Während Nicht-Muslime über eine gewisse Autonomie verfügten, hierzu weiter unten, galten Muslime allein aufgrund des islamischen Charakters des Reiches als den Nicht-Muslimen übergeordnet.

Der Historiker Aron Rodrigue meint in diesem Zusammenhang, dass es völlig falsch ist, in der vormodernen Periode des Osmanischen Reiches in diesem Zusammenhang Begriffe wie Mehrheit und Minderheit anzuwenden. Diese Kategorien hatten in der damaligen Epoche nicht dasselbe Gewicht in politischen Beziehungen wie heute. Zwar bildeten bestimmte Gruppen oder Bevölkerungsgruppen in manchen Regionen des Reiches eine Mehrheit, und auch die Osmanen waren sich laut ­Rodrigue durchaus der Bevölkerungsverteilung in den einzelnen Regionen des Reiches bewusst. Zu diesem Zweck benutzten sie auch das Mittel der Verbannung, bei dem einzelne Gruppen von einem Ort im Reich an einen anderen ins Exil gehen mussten; allerdings spielte Mehrheit dahingehend keine Rolle, als die Osmanen ihre Herrschaft nicht durch eine demographische Mehrheit legitimierten. (Vgl. Rodrigue, 1996)

Rodrigue weist zudem darauf hin, dass fälschlicherweise Historiker immer wieder über das Osmanische Reich so schreiben, als ob es sich um einen Nationalstaat, in dem eine Mehrheit von Türken über Minderheiten herrschte, handelte. Stattdessen umfasste das System eine Vielfalt unterschiedlicher Gruppen, die alle als „unterschiedlich“ anerkannt wurden. Unterschiede wurden nicht horizontal aufgehoben, sondern vertikal in das politische System integriert. Zwar hatten dadurch manche Gruppen leichteren Zugang zur Macht als andere, aber auch die übrigen Gruppen waren nicht zur Gänze aus dem System ausgeschlossen. Auf diese oder jene Weise verfügten die unterschiedlichen Gruppen im Reich über Verbindungen zur politischen Hierarchie des Systems, entweder

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indirekt über Vermittler bei Hofe oder aufgrund ihrer wirtschaftlichen Position direkt, wie z. B. die griechischen Phanarioten. Dabei handelte es sich nicht um Gleichheit, ein Konzept, das laut Rodrigue in dieser Organisationsform irrelevant war, vielmehr war der Unterschied etwas Vorbestimmtes und Normatives. Dies war allerdings auch kein Pluralismus, so Rodrigue, da Unterschiede nämlich nicht auf der Basis von Rechten artikuliert wurden. (Vgl. Rodrigue, 1996)

Während dieses sozio-politische System in der vormodernen Epoche Gültigkeit hatte, sollte mit der Modernisierungsbewegung zusehends das Konzept eines von der westlichen Aufklärung inspirierten wertneutralen universalistischen öffentlichen Raumes Anwendung finden, das in Opposition zur „Unterschiedlichkeit“ stand und darauf abzielte, die bestehenden Unterschiede weitgehend auszulöschen. (ebda)

Der Großteil der muslimischen Bevölkerung der Städte setzte sich entweder aus Angehörigen des Haushalts des Sultans zusammen oder gehörte dem Haushalt eines seiner Beauftragten, wie z. B. Valis an, oder es handelte sich um Gewerbetreibende wie Handwerker oder Kleinproduzenten. Traditionell gewährten die Osmanen Vertretern des Gewerbes einen besonderen Status. Handwerker und Gewerbetreibende waren meist in Handwerksgilden (ahi) organisiert, die nicht nur den Zugang zu bestimmten Berufsgruppen regelten, sondern ihren Mitgliedern auch einen gewissen Schutz boten. Die Gilden vertraten die Anliegen ihrer Vertreter gegenüber den Behörden. Diese Netzwerke stellten angesichts eines mächtigen Staates, der den Einwohnern gegenüberstand, eine frühe Form einer Interessensvertretung bzw. Zivilgesellschaft dar.

Nicht-muslimische Einwohner wie Griechen, Juden oder Armenier betätigten sich vornehmlich als Händler. Diese Gruppe der nicht-muslimischen Kaufleute sollte im Laufe des 19. Jahrhunderts die einzige soziale Schicht darstellen, die in Ansätzen einem städtischen Bürgertum nahe kam. Allerdings waren die armenischen, jüdischen und griechischen Kaufmannsfamilien aufgrund ihrer konfessionellen Zugehörigkeit Muslimen in Rechten und Pflichten nicht gleichgestellt und kulturell weitgehend von diesen isoliert.

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