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Staat und Religion

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Das Osmanische Reich galt als dar-ül Islam, das Haus des Islam. Damit galt das Reich als islamisches Reich, in dem der Islam den kulturellen, formellen und legalen Rahmen bildete und islamisches Recht galt. Damit waren sämtliche Bereiche des politischen und sozialen Lebens den Regeln des Islams unterworfen. Die Idee des dar-ül Islam verlieh dem Herrscher und seinen Untertanen die Aufgabe, die islamische Gemeinschaft nach außen hin zu verteidigen und innerhalb der Gemeinschaft für Recht und Ordnung zu sorgen. Die Übernahme der Funktion des Kalifats durch die Osmanen im Jahr 1517 hatte eine weitere Aufwertung des islamischen Charakters des Reiches bedeutet. Der Sultan bekleidete in Personalunion das Amt des Kalifats. Er war damit nicht nur Herrscher über das Reich, sondern auch Führer der umma, der islamischen Gemeinschaft.1 Damit stand er an der Spitze der weltlichen sowie der geistlichen Hierarchie. Während für weltliche Belange ihm der Großwesir unterstand, folgte in der geistlichen Hierarchie des Staates dem Kalifen der Seyh ül-islam. Der Seyh ül-islam war damit der oberste Würdenträger der religiösen Verwaltung und war verantwortlich für das Religions-, Rechts- und Erziehungswesen.

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Die Aufrechterhaltung von Gerechtigkeit und Ordnung waren zentrale Elemente des osmanischen Staatsverständnisses. Die ulema, die Geistlichkeit, spielte dabei eine wichtige Rolle. Sie war ein integrierter Teil des Systems. Die ulema interpretierte die Scharia – das islamische Recht. Trotz der theoretischen Vorherrschaft der Religion verfügte die Geistlichkeit aber über keinen eigenständigen organisatorischen Körper, vielmehr war sie in Bezug auf Ernennungen, Beförderungen und Bezahlungen vom Staat abhängig. Man kann sogar feststellen, dass die ulema als Diener des islamischen Staates galt. Obwohl die ulema theoretisch damit befasst war, das islamische Recht zu interpretieren und anzuwenden, war sie damit in ihrem Handeln weitgehend den weltlichen Interessen des Staates unterworfen. Die enge Verknüpfung der religiösen Autoritäten mit der weltlichen Macht hatte sich unweigerlich zu Ungunsten religiöser und spiritueller Anliegen und zu Gunsten der Vorherrschaft weltlicher, politischer Interessen ausgewirkt. Die Integration der Geistlichkeit in den Staatsapparat bewirkte langfristig, dass die ulema religiöse und juristische Entscheidungen oft den politischen Bedürfnissen der staatlichen Autorität unterordnete.

Auch wenn in der Theorie ausschließlich die Scharia galt, so hatte sich doch früh gezeigt, dass die Scharia keinesfalls sämtliche Aspekte des politischen und sozialen Lebens abdecken konnte. Das öffentliche Recht und vor allem aber die Fragen des Kriminalrechts wurden durch säkulare Verordnungen, die auf der weltlichen Macht des Sultans beruhten, die sogenannten Örf und Kanun, geregelt. Um die Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen näher festzulegen, sowie um Kleidungsvorschriften, Pflichten und Verpflichtungen festzuschreiben, konnte der Sultan sogenannte Fermans (Verordnungen) erlassen. Diese wurden dann in Rechtskodizes, den sogenannten Kanun, gesammelt. Die Kanun stellten eine Art säkularer und administrativer Gesetze dar, zu deren Erlass der Herrscher aufgrund seiner Berechtigung, im Namen der Gemeinschaft Recht zu sprechen, befähigt war. (Vgl. Lapidus, 1999: 260ff.) Das muslimische Rechtssystem des Reiches war damit ein kompliziertes Netzwerk, bestehend aus der Scharia, ihrer Interpretation und einer Reihe säkularer Gesetze, die in das islamische Rahmenwerk integriert wurden. (Vgl. Rodrigue, 1996) Die Gesetze, die durch die weltliche Macht erlassen

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wurden, mussten durch den Seyh ül-islam auf ihre Übereinstimmung mit der Scharia überprüft werden.

Sami Zubaida stellt fest, dass, auch wenn die Religion im osmanischen Staat eine besondere Rolle spielte, das Reich aufgrund der Einschränkungen der geistlichen Vormacht durch Verordnungen des Sultans und die Unterordnung des Islams unter die Interessen des Staates dennoch so islamisch war, wie die europäischen Pendants des Osmanischen Reiches zu jener Zeit christlich waren. (Vgl. Zubaida, 1989: 42) Der Fortbestand des Staates und die Aufrechterhaltung von Ordnung und Recht waren Güter, denen es die Religion unterzuordnen galt bzw. denen die Religion diente. Es herrschte die Überzeugung, dass ohne den Staat auch der Islam nicht leben könne.

Während die ulema vornehmlich mit Fragen der Rechtsprechung, der Interpretation der heiligen Schrift, der Überprüfung von Gesetzen auf deren Übereinstimmung mit der Scharia und ähnlichen Fragestellungen des staatlichen und rechtlichen islamischen Systems beschäftigt war, sozusagen den staatlichen Islam vertrat, wurden Riten, Zeremonien, individuelle Zugänge zu Gott sowie Regeln und Gebote im Bereich der Ernährung, Reinlichkeit und der Lebensweise wesentlich durch reli­giöse Scheichs, Orden und Bruderschaften des mystischen Islams – des Sufismus – geprägt.

Schon zu Zeiten des Propheten versuchten Mystiker eine direkte und persönliche Erfahrung von Gottes Existenz zu machen. Der Sufismus spielte in Anatolien seit Beginn der Islamisierung eine Rolle. Sufis hatten türkische Stämme auf deren Wanderung oft angeführt und auch eine wesentliche Rolle in der Sesshaftwerdung gespielt. Sie bauten Hospize und Mühlen, unterhielten Schulen und vermittelten zwischen verschiedenen Stämmen. Sufis im ländlichen Bereich entwickelten oft eine tolerante Haltung gegenüber Christen und erleichterten so deren Übertritt zum Islam. (Vgl. Lapidus, 2002: 249) Viele Praktiken des mystischen Islams spiegeln teilweise lokale vor-islamische Riten wider, enthalten aber oft auch Rituale, Ansätze und Muster, die dem Schamanismus oder Buddhis­mus entlehnt sind. Der Sufismus als eine Bewegung im Islam bietet dem Einzelnen verschiedene Möglichkeiten, in direkte Verbindung mit Gott zu treten. Dabei stehen manche dieser Praktiken in Gegensatz

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zu einer orthodoxen Auslegung des von der höheren ulema vertretenen sunnitischen Islams.

Die Entstehung von Orden fiel in dieselbe Zeit mit der Entstehung verschiedener islamischer Rechtsschulen. Die mystischen Praktiken und die metaphysischen Ansätze sufistischer Orden wurden zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert entwickelt. Die meisten sufistischen Orden in der heutigen Türkei fanden Eingang über den Iran. Mystische Orden und Bruderschaften bildeten sich meist um die Lehre eines religiösen Führers, eines Scheichs. Einzelne Orden und Bruderschaften wie z. B. die Naksibendi blieben nicht nur lokal auf eine Region oder Stadt begrenzt, sondern konnten sich über das gesamte Territorium des Reiches ausbreiten. Es bildeten sich in einzelnen Städten und Regionen Logen, die oft auch mit den dort vorhandenen Handwerksgilden verschmolzen. Während die Naksibendi vor allem unter städtischen Kaufläuten und Handwerkern Zulauf fanden, waren die alevitischen Orden vielmehr im ländlichen Bereich verbreitet.

Die Bektasis hingegen, die ihren Namen von Haci Bektas (verstorben 1297) (Lapidus, 2002: 249) ableiteten und sich auf seine Lehren bezogen, konnten enge Beziehungen zu dem unter Sultan Murat II. ins Leben gerufenen Janitscharenkorps, den Elitetruppen des Reiches, die sich mehrheitlich aus Söhnen christlicher Familien zusammensetzte, aufbauen. Oft setzen sich diese meist undurchsichtigen religiösen Netzwerke, die durchaus auch in Rivalität zueinander standen, über soziale Klassen, ethnische und regionale Unterschiede hinweg. Aufgrund der relativen sozialen Durchlässigkeit des osmanischen Systems gibt es auch Beispiele von Bruderschaften, die ihren Einfluss bis in die höchsten Kreise innerhalb des Hofes ausweiten konnten.

Die große nicht-muslimische Bevölkerung des Reiches hatte den Status der sogenannten dhimmi (Schutzbefohlenen). Demnach galten die Angehörigen der Religionen des Buches, also Christen und Juden, als Schutzbefohlene des islamischen Staates. Im Allgemeinen wurden Christen und Juden nicht zum Konvertieren zum Islam gezwungen, stattdessen erhielten sie, im Gegenzug für die Entrichtung einer Kopfsteuer, das Recht, innerhalb der Grenzen des osmanischen Staates zu leben. Sie waren damit auch vom Militärdienst ausgeschlossen. Die Nicht-Muslime

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waren demnach in der vormodernen Epoche nicht gleichberechtigte Bürger des Staates, sondern geduldete Einwohner in einem Staat, der sich explizit als islamisch definierte. Dies sollte sich allerdings mit den Reformen im 19. Jahrhundert ändern.

Christen und Juden waren nach Konfessionen in sogenannten Millets organisiert. Innerhalb dieser Millets genossen sie eine gewisse Autonomie, die es ihnen erlaubte, ihre rechtlichen Angelegenheiten selbst zu lösen. So waren die religiösen Würdenträger auch für die Gerichtsbarkeit innerhalb der religiösen Gemeinschaft verantwortlich. Ehe- und Erbrechte wurden z. B. von Priestern oder Rabbis abgehandelt. Ebenso repräsentierten die Geistlichen auch die Gemeinschaft nach außen hin gegenüber dem osmanischen Staat.

Erik Zürcher stellt fest, dass lange Zeit die Funktionen des Millet-­Systems fehlinterpretiert wurden. Während man in Anlehnung an offizielle osmanische Dokumente gedacht hatte, dass sich das Millet-­System aus autonomen Körperschaften nach konfessioneller Angehörigkeit zusammensetzte, die für das gesamte staatliche Territorium galten und an deren Spitze das religiöse Oberhaupt der jeweiligen Kirche in Istanbul stand, legten Forschungen im lokalen Bereich dar, dass diese Autonomie vielmehr als eine der lokalen christlichen oder jüdischen Gemeinschaften gegenüber den lokalen staatlichen Autoritäten zu verstehen ist. (Vgl. Zürcher, 2004: 10)

Aron Rodrigue weist darauf hin, dass all diese beschriebenen Bestandteile des vormodernen osmanischen Systems fließend waren, das heißt, dass es einerseits eine Vielzahl von Übergängen zwischen den einzelnen Institutionen gab und zum anderen sich auch das System selbst stetig veränderte. So konnte es durchaus passieren, dass Christen und Juden sich, falls sie es für ihren Vorteil hielten, an muslimische Gerichte wandten. Der muslimische Kadi urteilte dann entweder nach allgemein anerkanntem islamischem Recht oder interpretierte das christliche oder jüdische Recht. Dass umgekehrt ein Muslim sich an ein christliches oder jüdisches Gericht wandte, war allerdings nicht möglich, schließlich bildete der Islam das hegemoniale System. (Vgl. Rodrigue, 1996)

Dadurch, dass sich der rechtliche Status eines Individuums von der Religionszugehörigkeit ableitete und auch als primäre Quelle der Identität

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diente, kam es kaum zu Vermischungen unter den unterschiedlichen konfessionellen Gruppen. Dhimmis wurden durch das islamische Recht nicht gezwungen, in Ghettos zu leben, ebenso wenig gab es explizite Berufsverbote für Nicht-Muslime. Dennoch kam es zu einer weitgehenden räumlichen Trennung. Nicht-Muslime tendierten dazu, sich in bestimmten Stadteilen anzusiedeln und betätigten sich in Berufen, die von Muslimen kaum ausgeübt wurden und nach denen großer Bedarf bestand; dazu zählte unter anderem der Handel mit „Ungläubigen“. (Vgl. Lewis, 1981: 28)

In Bezug auf dhimmis galten allerdings lange Zeit Kleidungs- und Verhaltensregeln, die dazu dienen sollten, sie von den Muslimen zu unterscheiden. So durften Nicht-Muslime Kleidungen, Stoffe und Farben, die Muslimen vorbehalten waren, nicht tragen. Juden und Christen sowie ihr gesamter Haushalt waren dazu angehalten, bestimmte Kopfbedeckungen zu tragen und Stoffe in bestimmten Farben an ihren Oberröcken anzubringen. Diese Praxis, die eine früh-islamische war, war von den Osmanen aus Sicherheitsüberlegungen übernommen worden und sollte dazu dienen, dass sich Muslime, die sich seit der rasanten territorialen Expansion des Reiches zahlenmäßig in der Minderheit befanden, gegenseitig erkennen konnten. Bestimmungen, die dhimmis vorschrieben, auf Eseln zu reiten, das Verbot in Städten zu reiten bzw. seitlich, im Frauensitz, im Sattel zu sitzen, das Verbot Waffen zu tragen und ähnliches dienten dazu, sichtbar zu machen, dass dhimmis nicht der Klasse der Waffenträger angehörten. (Vgl. Lewis, 1981: 36) Die spezifischen Verhaltens- und Kleidungsregeln wurden in verschiedenen Epochen unterschiedlich strikt geahndet. Durch wachsenden westlichen kulturellen Einfluss und das Eindringen der westlichen Moderne hatten sie sich bis ins 19. Jahrhundert fast vollständig aufgelöst.

Dennoch hatte die dhimmi-Tradition bzw. die politische Organisation in millets dazu geführt, dass Nicht-Muslime zwar ihre Traditionen, Sprachen und vor allem religiösen Praktiken trotz jahrhundertelanger isla­mischer Oberherrschaft erhalten konnten, aber im Gegenzug dazu isoliert von der muslimischen Bevölkerung blieben. Daraus ist auch zu erklären, dass sogar mehr als 500 Jahre nach der Eroberung Konstan­tinopels durch die Osmanen, viele Nicht-Muslime in der Stadt der türkischen Sprache kaum oder nur bescheiden mächtig waren, bzw. das Türkische mit einem starken Akzent sprachen.

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1 Das Kalifat als Funktion des Nachfolgers des Propheten und Führers und Herrschers der Gemeinschaft der Muslime verband von Beginn an religiöse und weltliche Funktionen im selben Amt. Der Herrscher über die Gemeinschaft der Muslime und über das islamische Reich bekleidete damit auch eine religiöse Funktion als Führer der Glaubensgemeinschaft. Schon bald war allerdings die spirituelle Bedeutung des Amtes zugunsten der weltlichen Herrschaft in den Hintergrund getreten. Der Titel wurde vermehrt als ein Herrschaftstitel betrachtet und geriet mit dem Niedergang des Abbasidischen Großreiches beinahe zur Gänze in Vergessenheit.

Die Osmanen begannen nach der Übernahme des Kalifats ihre Abstammung zwar auf den Propheten zurückzuführen, aber auch sie machten kaum Gebrauch vom Titel des Kalifen. Vielmehr wurden die osmanischen Sultane als Padischah, als König der Könige, bzw. Kaiser verehrt. Im 19. Jahrhundert sollte Sultan Abdülhamit das Kalifatals ein Mittel zur Mobilisierung der muslimischen Massen für den Kampf gegen den westlichen Imperialismussehen. Hierzu weiter unten.

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