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Dämonen und Engel

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J A R E D

Tausende von Szenarien spielen sich in meinem Bewusstsein ab. Tausende Szenarien, wie ich sie ermorde. Und keine erscheint mir auch nur im Ansatz als machbar. Ihr warmer Körper an meiner Brust und ihre weichen Lippen an meiner Handfläche, dann das Geräusch ihres Herzens. Ein schnelles, lautes Pochen. Das rauschen ihres Bluts und der Geruch nach … ihr. Immer dieser Geruch.

„Hmm!“, stöhnt sie an meiner Hand, windet sich unter meinem Griff. Ihr Haar kitzelt mein Kinn und ich verspüre den Drang meine Lippen auf ihren Scheitel zu pressen und ihren Geruch noch tiefer einzuatmen. Noch mehr von ihr aufzunehmen. Ihre Aura ist einfach unglaublich. Ihre Präsenz mächtig. Kaum zu vergleichen mit der der Herzogin. Die Herzogin hat eine prachtvolle Aura, das war es auch, was ich einst anziehend an ihr gefunden habe. Doch verglichen mit der des Mädchens ist sie nichts … In dem Moment keimt eine Vermutung in mir auf, was der wahre Grund für die Angst der Herzogin vor Geneviève sein könnte, doch bevor ich die Idee auf mich wirken lassen kann, hat sie mir in die Hand gebissen und sich aus meinem Griff befreit.

„Wirklich geschickt“, murmle ich und sehe gelassen zu, wie sie zur Tür hastet. In dem Bruchteil einer Sekunde stehe ich neben ihr und packe ihr Kinn mit einer Hand. Sie schlägt um sich, krallt sich an meinem Arm fest und sieht mir stur in die Augen, wie ein kleines Kind. Nun, mehr ist sie auch nicht. Ein Kind.

„Lasst mich los!“, faucht sie mit purer Abscheu.

Sie will mich hassen? Gut, dann spiele ich mit. „Wisst Ihr denn nicht, dass man einem Wesen der Nacht nur schwer entkommen kann?“, raune ich und lasse etwas Magie in ihren Körper fließen, was sie zum schaudern bringt.

„Wisst Ihr denn nicht, dass Ihr scheinbar nicht ernst zu nehmen seid, wenn Ihr schon nicht den Mumm habt, mich gleich zu töten?!“

Ich verziehe meine Lippen zu einem bitteren Lächeln. „Ja, Ihr scheint wahrlich mutiger zu sein als ich, Geneviève“, erwidere ich sarkastisch.

„Spart Euch Eure Kommentare und lasst mich zufrieden. Ihr wollt mich nicht umbringen, sonst hättet Ihr es längst getan.“ Sie entspannt sich in meinem Griff und lässt meinen Arm los.

„Ich werde Euch nicht töten. Ich nehme Euch mit.“ Mir bleibt nichts anderes übrig. Jetzt, wo ich es versäumt habe sie auszuschalten, weiß sie von meiner Existenz und von dem Interesse der Herzogin an ihr und das ist nicht gut.

„Ach, und wohin? Wenn Ihr mich zur Herzogin bringen wollt, tötet mich lieber!“ Das kommt so ernst und so kalt, dass ich fast zusammenzucke.

„Meint Ihr das wirklich so?“

„Sehe ich etwa aus, als wäre mir nach Späßen zumute?“ Sie schnaubt verächtlich, wieder wie ein kleines trotziges Kind. Da ist sie, die Enttäuschung. Geneviève ist keine Göttin. Sie ist kein Engel. Sie ist tatsächlich bloß ein Kind.

Ich schlucke hart. „Das ist wirklich alles andere, aber kein Spaß. Der gesamte Hof der Herzogin wird auf der Suche nach Euch sein, wenn sie bemerkt dass ich versagt habe.“ Und mich wird sie gleich mit hinrichten lassen. Ich habe versagt, sie unbemerkt zu observieren und ich habe versagt, sie auf eigene Faust auszuschalten. Ob die Herzogin mir gedankt hätte, hätte ich das Mädchen tatsächlich getötet, oder ob sie mich nur noch mehr dafür bestraft hätte spielt jetzt auch keine Rolle mehr.

„Ich verstehe nicht … Was habe ich getan? Nur weil ich ihr nicht dienen wollte? Ich bin verwirrt.“ Nun wirkt sie nichts weiter als verletzlich und klein. Ihr schlankes Gesicht in meiner großen Hand. Warme weiche Haut an kalter, glatter. Vorsichtig lasse ich sie los und sie macht keine Anstalten auf einen weiteren Fluchtversuch, sondern fängt an zu blinzeln und flach zu atmen. Das tut sie immer, wenn sie sich aufregt.

„Niemand weiß genau, was Ihr an Euch habt. Aber eins ist klar, die Herzogin ist voller Furcht vor Euch“, erkläre ich.

„Vor mir?“, sie lacht laut auf, nur um danach noch einmal nervös zu blinzeln. „Warum sollte sie sich vor mir fürchten? Ich tue doch niemandem etwas. Ich bin doch bloß ...“

„Ein gewöhnlicher Mensch“, vollende ich den Satz.

Erzürnt schnappt sie nach Luft. „Das ist nicht das, was ich sagen wollte!“

„Nicht?“ Ich bin wirklich verwundert.

„Schon einmal daran gedacht, dass Mut und Stärke nicht darüber zu definieren sind, welcher Abstammung man ist?“ Nun wirkt sie eingeschnappt. Ihre Angst vor mir und die Nervosität scheinen wie verflogen. Ihre Stimmungen sind eine Berg- und Talfahrt und überfordern mich, mir fällt es immer schwerer, sie zu durchschauen.

„Hm, nein. Ehrlich gesagt nicht“, erwidere ich schließlich. Ich habe tatsächlich nie darüber nachgedacht. Es ist für mich ganz offensichtlich, dass jede erdenkliche Eigenschaft mit der Abstammung zusammenhängt. „Doch darüber können wir uns jetzt nicht streiten, wir müssen aufbrechen.“

„Wir?“

„Ich werde Euch mitnehmen, sagte ich doch bereits.“

„Und was, wenn ich nicht will? Ich kann gut alleine auf mich aufpassen.“

„Ja? Mit den zwei Spielzeugmessern dort?“, ich deute auf die kleinen Klingen.

„Wollt Ihr mich etwa infrage stellen?“ Ihre Miene verdüstert sich und schon wieder springt ihre Stimmung um.

„Geneviève“, stöhne ich.

„Ich komme mit, aber dann müsst Ihr mir alles erzählen, was Ihr wisst.“

„Gut.“

„W- was?“, stammelt sie verblüfft. Damit hat sie nicht gerechnet. Aber da ich nach diesem schwerwiegenden Fehler heute Nacht ohnehin wegen Hochverrats zum Tode verurteilt werde, macht es auch keinen Unterschied mehr, wenn ich all die dreckigen Geheimnisse der Herzogin ausplaudere.

„Ich werde Euch alles erzählen, was Ihr wissen wollt.“

„Und Ihr werdet nicht mehr versuchen, mich zu töten?“

„Nein.“

„Und keine Magie mehr. Wie ich das hasse ...“

„Keine Magie mehr gegen Euch“, versichere ich nachdrücklich. Ungeduldig schaue ich aus dem Fenster in die tiefe Nacht. Die Herzogin wird bereits wissen, was ich getan habe. „Und ich möchte ein eigenes Pferd“, wirft sie ein, doch ich höre kaum zu. Jade weiß immer, wo ich mich aufhalte und vor allem mit wem. Wir müssen als erstes ihre Spitzel los werden … Ein Funken Panik steigt in mir auf. War es das Leben der Kleinen wert? War es das wert, mein Dasein als erster Krieger der Herzogin Jade aufzugeben und für immer auf der Flucht zu leben? Mit einem Zittern wird mir bewusst, was ich bei den Monden nochmal für einen Fehler begangen habe. „Und ich will, dass Ihr freundlich zu mir seid. Ich bin kein Vieh oder keine Gefangene, ich will wie ein Mensch behandelt werden. Obwohl, das sollte ich vielleicht nicht sagen, denn Ihr behandelt Menschen ja offensichtlich wie Vieh ...“

„Es reicht!“, entfährt es mir. „Das wird kein Spaziergang!“ Mit einem Schritt baue ich mich vor ihr auf, mit geballten Fäusten und zitternden Muskeln. „Ihr seid nicht in der Position, Forderungen zu stellen. Wenn Ihr mich nicht begleitet, seid Ihr tot!“

„Nun, Ihr aber auch, nicht wahr?“, giftet sie zurück und macht sich so groß, wie es eben möglich ist. „Euch werden sie wohl als erstes umbringen, habe ich recht? Ein Krieger der zu feige zum Töten ist, das ist eine Schande.“

Die Wut wird heiß, kalt, dann wieder heiß. „Könnt Ihr mir nicht einfach danken?“, seufze ich schließlich und versuche, tief durch zu atmen.

„Wofür denn? Ich wäre lieber tot, als auf der Flucht“, jedes ihrer Worte trifft mich direkt ins Herz.

„Das kann nicht Euer Ernst sein.“ Ich schüttele den Kopf. „Lieber tot, als am Hofe der Herzogin. Lieber tot, als auf der Flucht. Gebt Ihr immer so schnell auf?“

Sie sieht zu Boden und ihre Schultern sacken nach vorn. Schon wieder ein Umschwung ihrer Emotionen.

„Ich werde Euch beschützen Geneviève, das verspreche ich. Ihr seid bei mir sicher.“

„Sagt mir nur eins“, setzt sie an, „wieso habt Ihr mich verschont. Wieso nehmt Ihr all das auf Euch?“

Etwas in mir wird weich, bei dem Klang, den ihre Stimme nun angenommen hat. Sanft, vorsichtig. Lieblich, wieder zu ihrer Gestalt passend und nicht mehr schnippisch und trotzig. „Ich kann Euch darauf keine Antwort geben.“

„Findet Ihr nicht, Ihr seid mir eine schuldig?“

„Doch“, murmle ich, „hebt Euch die Frage für später auf, wir sollten nun wirklich fort von hier.“

Sie schaut mich von unten durch ihre langen Wimpern hinweg an, direkt in die Augen und mir fällt es schwer den Ausdruck in ihnen zu deuten. „Ich vertraue Euch nicht, aber ich habe keine andere Wahl.“

„Glaubt mir, ich vertraue mir selbst nicht mehr ...“

Sie lächelt müde. „Gute Voraussetzungen für jemanden, der mir eben noch Sicherheit versprochen hat.“

„Es gibt auch Dinge, die für mich sprechen“, erwidere ich und mein rechter Mundwinkel zuckt wie von selbst nach oben. Etwas in ihren Augen verändert sich und sie hält für einen kurzen Moment die Luft an. „Und die wären?“ Herausfordernd stütz sie die Hände in die Hüften.

„Nun ja, ich kann kämpfen. Ich bin der erste Krieger der Herzogin.“

„Wart“, verbessert sie und zeigt mit ihrem Finger auf mich, „Ihr wart es.“ Ich will ihre ausgestreckte Hand nehmen und …

Schluss jetzt.

Ich habe das ungute Gefühl, dass sich draußen jemand herumtreibt. Sofort spanne ich mich an und höre angestrengt nach einem verräterischen Geräusch. „Wir müssen umgehend hier weg“, zische ich und wende mich der Tür zu, der ich bis eben noch den Rücken zugewandt hatte. Ich schließe die Augen und versuche mein Gehör zu sensibilisieren. Genevièves Atem ist das erste, was ich höre. Dann ihr Herzschlag, das Blut in ihren Adern. Mein Herzschlag, mein Blut … Eine Maus unter den Dielen - „Was ist?“, sie flüstert zwar, doch ihre Stimme wirkt so laut, dass meine Ohren klingeln. Mit einer ruckartigen Geste bringe ich sie zum Schweigen. „Wir sind nicht länger allein“, raune ich. - Also, die Maus unter den Dielen. Irgendwo tropft etwas. Wasser. Vor der Tür. Vermutlich in die Regentonne. Weiter weg das Rascheln von Gefieder, eine Eule. Das Surren von Insekten – Glühwürmchen?

Und dann – ein weiterer Herzschlag, langsam. Der, eines Menschen. Oder jemand meinesgleichen. Etwa fünf Riesenlängen weit weg.

Ich öffne die Augen. „Hat das Haus einen weiteren Eingang?“, ich spreche so leise ich kann.

Sie runzelt die Stirn. „Nein.“

Verdammt. „Hör mir jetzt genau zu, Kleines. Du hast keine Zeit irgendetwas von hier mit zu nehmen. Du wirst nie wieder an diesen Ort zurück kehren. Alles, was Teil deines alten Lebens war wirst du hinter dir lassen und wenn du mit mir kommst, wirst du mir vertrauen müssen. Du wirst mir keine Vorwürfe machen wenn ich Entscheidungen treffe, die dir nicht gefallen und du wirst nichts von dem Anzweifeln oder infrage stellen, was ich tue.“ Sie kneift die Augen zusammen und versucht meine Worte zu verarbeiten. Dann beginnt sie langsam mit dem Kopf zu schütteln und ihr entfährt ein leiser Schluchzer. „Schht“, mache ich und lege einen Finger auf ihre Lippen, sie zuckt zusammen und eine Träne blitzt an ihrem Augeninnenwinkel auf. „Dafür werde ich dich mit meinem Leben beschützen Geneviève.“

„Wieso ...“

„Lass mich dein Krieger sein.“ Ich nehme ihre Hand und in dem Moment als die Haustür mit einem Scheppern in Kleinholz geschlagen wird, hülle ich uns beide in dunkle Schatten und fange ihren schlanken Körper auf, als meine Magie sie in einen tiefen Schlaf versetzt.

G E N E V I È V E

Da ist ein Korridor, endlos lang. An den Seiten sind Schränke aus Metall in kühlem Blau und das Licht von oben blendet meine Sicht. Akustisch nehme ich nichts weiter als ein Gewirr aus Stimmen wahr. Laut und durchdringend. Dann ein Quietschen, das sich zwischen das Gemurmel mischt. Immer wieder abgehackt, kurz, dann wieder abklingend.

Ich blinzele verwirrt. Das ist ein Traum, oder? Wo bin ich?

Ich versuche mich krampfhaft an etwas zu erinnern. - Der Krieger, der mich töten wollte und mir dann seine Treue geschworen hat. Dunkelheit. Ich erinnere mich an die Kälte und an ein lautes Krachen. An den Geschmack von Salz. Tränen. Meine Tränen.

-Ich schaue mich um. Neben mir sind Mädchen in merkwürdigen Gewändern. Sie lachen und sprechen in einer mir unbekannten Sprache. Sie haben merkwürdige Taschen über ihren Schultern hängen und sind auffällig stark angemalt in ihren Gesichtern, die fremdartig verzerrt wirken. Der Raum dehnt sich, zieht sich in die Länge und mir ist schwindelig. Ich schwanke, halte mich an der Schulter des Mädchens rechts neben mir fest. Sie schaut mich an, scheinbar besorgt – ich kann es nicht genau erkennen – und redet auf mich ein. Es hört sich an, als hätte sie mir eine Frage gestellt, doch ich verstehe sie nicht.

„Was sagst du?“, stöhne ich. Mein Kopf schmerzt so sehr, als würde meine Schädeldecke zersplittern. Ich sinke zu Boden, halte mir die Ohren zu. Das Quietschen wird lauter und viele, viele schemenhafte Gestalten in bunter Kleidung betreten den Korridor. Ich kann so schlecht sehen, dass sie mir wie eine einzige, wabernde Masse vorkommen. Die Menge läuft einfach an mir vorbei, wie Wassermassen die den Gang fluten. Sie fließen um mich herum, engen mich ein, ich bekomme keine Luft mehr und - …

„Das habe ich! Aber es war ein Notfall, verdammt!“ Jereds zornige Stimme donnert über mich hinweg. Worte, die mir wie aus der Luft gegriffen entgegen geworfen werden, einfach zusammenhangslos. „W- was ...“, völlig außer mir reiße ich die Augen auf. Die Kopfschmerzen sind weg, der Korridor, die Menschenmasse und meine verklärte Sicht ebenfalls. Ich sitze auf einem Pferd. Oder besser gesagt – einem Pferd, welches vom Körperbau eher einem Esel gleicht.

„Das ist immer noch ein Maultier, Geneviève.“ Liest er Gedanken?! Doch dann scheint seine Wut verflogen, die er scheinbar vorher gegen mich gehegt hat und er blickt mich besorgt an. „Moment, ist alles in Ordnung? Ihr schaut so verblüfft.“ Der Krieger sitzt auf einem schwarzen, wunderschönen Rappen und reitet neben mir her. Ich betrachte die Landschaft um mich herum. Den atemberaubenden Gebirgskamm, der vor uns aus dem Horizont sprießt und das Licht des Feuerballs bricht. In den Bergen spukt es, sagte meine Großmutter immer. Sie ist als junges Mädchen oft dort gewesen und hat nach einer verwunschenen Quelle gesucht, die in einer alten Sage Badenden ewige Jugend verspricht. Ich sehe auch die Erde, wie sie mit dem Feuerball vor uns aufgeht. - Ich bin ganz klar wieder im Hier und Jetzt.

„Muss ich mich sorgen? Warum seid Ihr so teilnahmslos?“, fragt der Krieger nachdrücklich und beide Tiere bleiben ruckartig stehen. „Geneviève, sprecht mit mir!“

„Ich … das ist unmöglich“, stammele ich und versuche angestrengt, nicht in Panik auszubrechen. Was ist mir da passiert? „Gerade war ich noch in meinem Haus, es war Nacht und ich bin bewusstlos geworden, als jemand uns angegriffen hat!“

Jared zieht die dichten Augenbrauen zusammen. „Richtig, das ist ein paar Stunden her.“

„Ein paar Stunden?!“ Eher ein paar Minuten, wenn überhaupt!

„Was ist los mit Euch?“, er wird wieder lauter und sein Blick ist bohrend.

„Ich war im Haus, bin ohnmächtig geworden und bin an einem merkwürdigen Ort wieder aufgewacht ...“

„Ich habe Euch in Schatten verhüllt und in Sicherheit gebracht, das Gespräch hatten wir doch bereits“, er klingt verzweifelt und rauft sich das schwarze Haar. „Es tut mir leid, dass ich Magie gegen euch angewandt habe, obwohl ich versprach, es nicht mehr zutun. Doch sagte ich auch bereits dreimal, dass es ein absoluter Notfall gewesen ist und ich Euer und mein Leben gerettet habe ...“

„Lasst mich sprechen!“, bitte ich. „Ich bin an einem fremden Ort gewesen! Bis vor ein paar Sekunden, war ich nicht hier! Jedenfalls nicht bewusst ...“

„Wie bitte? Nicht hier?“

„Ich erinnere mich, wie ich bewusstlos wurde. Danach ist alles weg. Na ja, jedenfalls alles aus dem Hier und Jetzt.“

„Ihr meint … Ihr hattet einen Blackout?“ Er steigt vom Pferd und ich tue es ihm nach. Meine Knie sind weich und ich wäre zusammen gesackt, hätte er mich nicht an den Schultern gehalten.

„Ja … nein. Nicht direkt. Ich habe eine andere Erinnerung … Da war ein Korridor, helles Licht und merkwürdig gekleidete Menschen, die in fremder Sprache gesprochen haben ...“

„Eine Vision?“

Ich runzele die Stirn. „Ich kann es Euch nicht sagen! Ich… Bei den Monden ...“

„Beruhigt Euch“, raunt er und streicht mit den Daumen über meine Haut. Ich trage noch immer mein Nachthemd und seine Hände liegen auf meinen nackten Oberarmen. „Was ist mit mir passiert, Jared?“, hauche ich verzweifelt und halte mir eine Hand vor die Stirn.

„Von so etwas habe ich noch nie gehört“, gibt er zu. „Ihr könnt Euch wirklich an nichts erinnern? Daran, wie Ihr mich angepöbelt habt wie ein Bauer und Euch wegen jeder Kleinigkeit beklagt habt und ...“

„Nein“, jammere ich und löse mich aus seinem Griff. „Ich habe gepöbelt?“, hake ich nach und kann mir ein Kichern nicht unterdrücken.

„Und ob.“

„Tut mir leid.“

Er grinst schief. „Da war also ein Korridor, ja?“

„Ich werde Euch erst mehr davon erzählen, wenn Ihr mir erzählt, was ich in der Realität verpasst habe.“ Seufzend streiche ich über das dunkelbraune Fell des Maultiers. „Das ist wirklich frustrierend und unheimlich.“

„Nicht viel“, beginnt er tonlos, „ich bin mit Euch vor einem Spion geflohen, der mich im Auftrag der Herzogin beschatten sollte und habe Euch weit weg von Eurem Heimatdorf bis zum Morgengrauen schlafen lassen. Als Ihr dann aufgewacht seid, habt Ihr mich beschimpft und mir vorgeworfen, ich hätte mein Versprechen gebrochen. Die Gespräche waren einfältig und es ging ständig um Dinge, mit denen Ihr nicht einverstanden wart … Seid.“

„Wow“, entgegne ich, „Ihr könnt ja richtig sarkastisch sein.“

„Ist dem so?“ Lachend schüttelt er den Kopf. „Ich dachte eher, das ist Euer Fachgebiet.“

„Ihr glaubt mir kein Wort, oder?“

„Ich bin misstrauisch.“

„Dann war ich wirklich so schlimm?“

„Ihr wart wirklich schlimm.“ Er atmet laut aus, nimmt die Zügel seines Pferdes fest in die Hände und macht Anstalten, wieder aufzusteigen.

„Wartet!“, rufe ich viel zu laut aus. Er sieht mich an, seine Augen wirken im hellen Morgenlicht noch blauer. „Ihr müsst mir glauben, bitte. Was hätte ich davon, Euch zu belügen?“

„Ich weiß es nicht, Geneviève. Vielleicht eine weitere Gehässigkeit.“ Ich muss wirklich gemein gewesen sein.

„Ich weiß nicht mehr, wie unhöflich ich zu Euch gewesen bin. Aber es tut mir aufrichtig leid. Was auch immer ich alles gesagt habe, ich … Es ist einfach zu viel.“ Ein Schluchzer verrät meine Unsicherheit und ich weiß, dass ich nicht in der Lage bin, jetzt weiter zu reiten.

„Hört auf zu weinen. Bitte“, flehend sieht er mich an, lässt die Zügel wieder los und presst seine fein definierten Lippen zusammen.

„Dann glaubt mir ...“

„Ich glaube Euch.“

„Danke“, schluchze ich. Eine leichte Böe weht unter mein Nachtgewand und ich beginne zu frösteln. Je näher man den Bergen kommt, desto kühler wird es.

„Wir müssen Euch etwas Warmes zum Anziehen besorgen. Um den Gebirgskamm herum zu reiten, würde viel zu lange dauern“, wirft Jared ein und streicht mit seinem Zeigefinger über die Gänsehaut an meinem Arm. „Und Ihr erzählt mir mehr von diesem unbekannten Ort Eures Unterbewusstseins.“

„Ja. Damit bin ich einverstanden.“

Er lächelt. „Was Ihr nicht sagt, dass ich das noch aus Eurem Munde hören darf.“

Ich verdrehe die Augen. „Vergesst einfach alles, was während meines … Blackouts geschehen ist. Scheinbar war ich nicht ich selbst.“ Bedauernd zucke ich die Schultern.

„Da habt Ihr wohl recht.“ Er greift in seine Satteltasche und reicht mir einen schwarzen Umhang aus dünnem Stoff. „Der muss fürs erste reichen.“

Ich nehme das Kleidungsstück entgegen und hülle mich hinein. Es riecht herb, nach Kiefernharz und etwas anderem, was ich nicht deuten kann. „Ich danke Euch.“

„Ihr habt Euren Anstand zurück“, murmelt er.

„Bitte, was?“

„Steigt auf, wir reiten weiter.“ Ich tue, was er sagt und frage kein weiteres Mal nach meinem fragwürdigen Verhalten, welches ich anscheinend während der Abwesenheit meines Bewusstseins an den Tag gelegt habe.

J A R E D

Ein dürrer Krieger mit blassgrüner Haut und Augen, in denen buchstäblich das Feuer brennt, steht in den zerschlagenen Trümmern der Holztür. Er scheint von innen zu glühen, sein magisches Blut pulsiert laut und heiß in den geschwollenen Venen an seinem Hals. Er ist im vollen Jagdmodus, nur darauf ausgerichtet zu töten. Der Blick aus den reptilienartigen Augen gleitet ruckartig durch den Raum, doch ich bin vollkommen in Schatten gehüllt, das bewusstlose Mädchen eng an meine Brust gepresst. Er könnte sie nicht einmal atmen hören, wenn er direkt vor uns stünde. Wabernde Dunkelheit umgibt uns und schirmt uns vor dem unheimlichen Wesen ab.

Ich kenne seinen Namen nicht. Doch die Brosche am Stoff über der Stelle seines Herzens, beweist seine Herkunft aus dem Herzogtum. Keine Überraschung. Das bestätigt nur meine Befürchtungen. Die Herzogin wird rasend vor Wut sein. Nie hat sie meine Treue und Loyalität angezweifelt. Nicht im übelsten Traum würde sie damit rechnen, dass ich sie verrate. Davon gehe ich jedenfalls aus.

Ob ich Reue empfinde?

Ich schaue auf den zierlichen, schlafenden Körper in meinen Armen herab. So leicht und so weich. Ihr Haar hängt in langen Wellen herunter und die Tränen, die sie vor wenigen Sekunden vergossen hat, sind noch nicht getrocknet und glitzern auf ihrer porzellanweißen Haut.

Nein. Ich empfinde keine Reue. Nicht im geringsten. Nie könnte ich einem Geschöpf, welches so unschuldig und lieblich ist auch nur das kleinste antun.

„Du bist ein grandioser Kämpfer, ein gnadenloser Mörder und ein Krieger der Schatten und der Finsternis. Du bist stark und du bist mächtig. Du bist würdig, an erster Stelle meiner Garde zu stehen und mich mit deinem Leben zu beschützen“, hatte Jade vor vielen Jahren gesagt, als ich ihr meine Treue schwor. „Du bist dämonisch, ein Wesen der Nacht und der Unterwelt.“ Sie hatte mich berührt, ihre kalte Hand auf meine Wange gelegt und mich mit ihrem jadegrünen Blick gefesselt. „Dennoch, du hast ein weiches Herz. Ein Herz voller Flammen und Leidenschaft. Heiße Poesie, strahlendes Leben. Wenn ich in deine Seele blicke, sehe ich ein Wesen voller Hingabe zur Liebe und zur Lust.“ Sie hatte ihren nackten Körper an mich geschmiegt und wir hatten uns geliebt. Nein, falsch. Ich hatte sie geliebt. „Wenn diese Schwäche deines närrischen Herzens dich jemals dazu verleiten wird, mich zu hintergehen, mich zu betrügen, Jared … Dann werde ich dir dieses mit meiner eigenen Hand aus dem Leibe reißen und du wirst spüren, worin meine Leidenschaft liegt.“

Kalte Worte von einer noch kälteren Person. Das Leben ist schon seit Jahrhunderten aus ihr gewichen und doch lebt sie weiter. Eine Hülle, eine Gestalt. Böse und voller Hass. So schön sie auch augenscheinlich ist, so hässlich ist ihre Seele.

„Krieger, ich kann dich riechen“, knurrt das warmblütige Etwas, deren Anwesenheit ich schon beinahe vergessen hatte. Es hat keine Nase, sondern Kiemen an den Seiten seines Halses. Eine Halbnixe? Etwas seinesgleichen habe ich noch nie zuvor gesehen.

Ich ziehe jede Magie aus der Umgebung, die ich finden kann und teleportiere mich und das Mädchen mit letzter Kraft so weit weg, wie es mir noch möglich ist. Ein dunkler Ort, am Fuß eines Hügels. Der Boden ist moosbedeckt und trocken, also bette ich Geneviève in eine kleine Kuhle und decke sie mit meinem Mantel zu. Die Nacht ist beinahe vorüber und bald schon wird die Erde, zusammen mit dem Feuerball aufgehen und auch der hellste aller Monde wird hinter dem Horizont verschwinden.

Nur Geneviève wird bleiben. An meiner Seite. Endlich.

***

Das Quellwasser ist frisch und kalt, genau wie die Morgenluft und ich fülle zwei Flaschen für mich und das Mädchen ab, als ein hoher Schrei mich zusammenzucken lässt.

„Was bildet Ihr Euch ein?“, kreischt sie und kommt wie eine Furie auf mich zu gerannt.

„Ihr seid wach, wie ich sehe“, entgegne ich trocken und will ihr das Wasser reichen, doch sie verschränkt ihre Arme vor der Brust und presst beleidigt die rosa Lippen aufeinander. Jetzt, in der Helligkeit des Morgenlichtes, wird mir bewusst, dass ihr Nachthemd beinahe durchsichtig ist und ich zwinge mich, ihr ausschließlich ins Gesicht zu sehen.

„Wo bin ich?“, zischt sie.

„Ihr seid in Sicherheit.“

„Ach, tatsächlich?“ Sie schüttelt den Kopf und das mit Moos verklebte Haar fällt ihr in die Stirn. „Und wie kam es dazu? Ja, richtig! Ihr habt mich mit Eurer Magie bewusstlos gehext! Weil ich ja nicht in der Lage gewesen wäre, mich selbst zu verteidigen und weil wir ja keine Abmachung hatten!“

„Geneviève ...“, setze ich an, doch das Mädchen unterbricht mich.

„Keine Magie mehr, Jared! Das war das einzige, was Ihr mir versprechen musstet.“

Ich kann nicht anders, mir entfährt ein amüsiertes Lachen. „Das einzige? Neben dem Pferd, das ihr unbedingt wolltet und einer Reihe von Benimmregeln, die ich Euch gegenüber wahren muss.“

„Warum traut Ihr mir nichts zu?“

„Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.“

„Nicht?“

Ich verdrehe die Augen. „Das ist schon die zweite Diskussion in kürzester Zeit. Euretwegen werden sie uns einen Speer von hinten ins Herz rammen, während wir fröhlich vor uns hin streiten und wir werden es nicht einmal mitbekommen.“

„Und was ist das?“, sie geht gar nicht auf mich ein, sondern zeigt auf das Maultier, welches neben meinem Rappen an einem Baum festgebunden bei unserem Lager steht.

„Das ...“, sage ich grinsend, „das ist Greg.“

„Nicht wirklich, oder?“

„Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich vertraue Euch nicht. Wieso sollte ich euch ein schnelles Pferd überlassen, auf dem Ihr fliehen könntet?“ Ich packe die Flaschen in meine Satteltasche und löse die Zügel beider Tiere vom Baum.

Fassungslos fällt ihr die Kinnlade herunter. „Damit ich nicht fliehen kann? Im Ernst? Ihr haltet es als erster Krieger der Herzogin für nötig einen Gaul zu verhexen, damit das gewöhnliche Menschenmädchen, welches Ihr entführt, auch ja nicht fliehen kann? Darüber macht Ihr Euch also Sorgen?“

„Ich entführe Euch nicht ...“, ich zögere. „Moment, macht Ihr Euch etwa über mich lustig?“

„Nein!“, erwidert sie gedehnt. „Schwer von Begriff seid Ihr aber schon ein bisschen ...“

„Sehr freundlich. Ach so, und Greg ist nicht verhext, er ist von Natur aus so gebaut.“

„Oooh, na dann. Tut mir leid, Greg, ich wollte deine Gefühle nicht verletzen.“ Sie tätschelt dem Maultier den Hals und es grunzt zufrieden.

„Wenigstens bei ihm zeigt Ihr Mitgefühl“, murmele ich und ignoriere ihren unangebrachten Tonfall.

„Bitte?“ Sie zieht eine Augenbraue hoch.

„Nichts. Steigt auf, wir brechen auf.“ Sie tut tatsächlich, was ich sage. Doch kaum ist sie aufgesessen kommen die nächsten bohrenden Fragen. Ich wünschte langsam, ich hätte sie einfach umgebracht, sie macht mich unglaublich wütend! Stopp. Nein. Wie kann ich nur so abtrünnige Gedanken haben?

„Was war das für ein Ding, das in mein Haus eingebrochen ist? Also, ich meine nicht Euch. Sondern das, das später dazu kam.“

„Komisch seid Ihr auch noch ...“, grummele ich. Wie kann eine so engelsgleiche Gestalt so dermaßen sarkastisch sein? „Ich habe etwas wie ihn noch nie gesehen, aber er kam ganz sicher im Auftrag der Herzogin.“

„Sah er unheimlich aus?“, sie starrt mich von der Seite an, als wir den Hügel hinauf reiten, Richtung Gebirge.

„In der Tat.“

„Unheimlicher, als Ihr?“ Ich sehe sie nicht an doch ich kann fast hören, wie sie grinst.

„Oh ja, viel unheimlicher. Jedoch nicht gefährlicher“, versichere ich und muss ebenfalls lächeln.

„Aber so gefährlich, dass Ihr es nicht geschafft hättet mit Eurem körperlichen Geschick gegen Ihn zu kämpfen“, beginnt sie, zögert kurz und setzt dann dazu: „Sondern Euch lieber mit Magie aus der Situation geschummelt habt.“

Die Bilder von ihrem toten Körper tauchen unwillkürlich vor meinem inneren Auge auf, zusammen mit einer unfassbaren Wut, die immer stärker und mächtiger wird. Es bildet sich eine geballte Ladung an … schlechten und unheilvollen Gefühlen und ich kann meinen Ton nicht länger zügeln. „Das habe ich! Aber es war ein Notfall, verdammt!“ Ich erwarte das Schlimmste. Dass sie absteigt, versucht wegzurennen. Dass sie mich angreift, dass sie anfängt zu weinen. Götter, wie ich es hasse, wenn sie weint. Mein Innerstes löst sich bei dem Anblick ihrer Tränen in ein jämmerliches Nichts auf und mein Hirn ist wie Butter. Ich fühle eine tiefe Depression, als hätte jemand das wenige Glück, das ein Wesen wie ich je empfinden könnte, gänzlich davon gewischt.

Doch mit dem, was kommt, hätte ich allerdings am wenigsten gerechnet. „W- was ...“, stöhnt sie und als ich sie von der Seite ansehe sinkt mir kurz das Herz in die Hose. Sie zittert am ganzen Körper und kleine Schweißperlen benetzen ihre Stirn. Fragend sieht sie das Maultier unter sich an. Soll das jetzt wieder ein Hindeuten darüber sein, dass ich das Pferd „verhext“ habe? „Das ist immer noch ein Maultier Geneviève“, verkünde ich ein weiteres Mal, doch sie sieht mich nur verständnislos an, die Augen zusammen gekniffen und die kleinen Hände verkrampft um die Zügel. Irgendetwas stimmt nicht. „Moment, ist alles in Ordnung? Ihr schaut so verblüfft.“ Teilnahmslos lässt das Mädchen den Blick über die Ebene vor uns gleiten. Sie sieht aus, als habe sie ein Gespenst gesehen. In ihrem Blick steht Entsetzen und ich vernehme eine Kälte, die ich zuvor noch nie an ihrer Aura wahrgenommen habe.

Etwas in mir weiß ganz genau, was hier vor sich geht. Ich versuche nach diesem Gedanken zu kramen aber bin wie blockiert.


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