Читать книгу Social Network. Die Bibliothek des Schicksals - Chris M. Wagner - Страница 5

VORSPIEL

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1

„Taxi.“

„Hallo, ist da jemand?“

„Si, Taxi.“

„Ich bräuchte ein Fahrzeug zur Amalien …“

„Si, Taxi.“

„Taxi?“, quakte die Stimme unsicher aus dem Hörer des Mobiltelefons.

„Si, Taxi. Taxi wohin?“

„Mein – Na – me – ist – Lang.“

„Si, Lang, wohin Taxi? … Straße?“

„Am – ma –li – en – stra – ße – Num – mer – Drei. Hören Sie? Bitte kommen Sie schnell.“

„Taxi kommen.“ Der Taxifahrer drückte eine Taste seines Handys und zuckelte gemütlich zum Fahrzeug.

Antonio Betani beförderte erst seit fünf Monaten Gäste mit dem Taxi durch die Stadt. Er kämpfte mit dem Zündschlüssel, dem Schlüsselloch und seinen grobgelenkigen Fingern – Zeugen eines Lebens am Bau. Nach 40 Jahren Alltagstrott hatte die Baufirma den Sechser im Lotto für jeden Beschäftigten versprochen. Mit hohen Prämien sollte man die karge Wintersaison künftig im sonnigen Süden verleben können: Ein Großauftrag war im Anmarsch.

Endlich sprang der Wagen an. Amalienstraße – wo war die bloß? Antonio zog den Stadtplan aus der Türablage. Sein Fahrzeug hustete Ruß aus dem Auspuffrohr. Ein Tag wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen: Als er morgens stolz mit seinem funkelnagelneuen Nokia in der Brusttasche zur Arbeit fuhr – die erste Prämie konnte jeden Tag eintrudeln. Bereits zu Mittag musste er mit dem Gerät seine Frau anrufen – ob sie ihn abholen könnte; er war arbeitslos. Die Firma hatte viel investiert, doch der Auftrag war geplatzt.

„Betani, sind Sie frei?“, kreischte eine Stimme aus dem Fahrzeugfunk. Er drückte irgendeine Taste und sprach: „No. Amalie Straße fahren.“

„Richtig. Herr Daniel Lang wartet dort auf Sie. Wissen Sie wohin?“ Wegen des Rauschens und Knackens verstand er den Satz nur schwer. Hatte der Kerl noch mal in der Zentrale angerufen? Als ob er nicht längst unterwegs wäre.

„Sagte Amalie Straße, si.“

„Ja, das ist nördlich von Ihnen. Kreuzt die Ungererstraße.“

Achtlos warf er den Stadtplan auf den Beifahrersitz und drückte aufs Gaspedal. „Ich lang schon unterwegs. Ende.“

Er wollte nie Taxi fahren. Man muss viel mit Menschen reden, braucht gute Ortskenntnis und vor allem benötigt man dafür einen Personenbeförderungsschein. Doch irgendwie fügte sich eins ins andere, ohne dass er einen großen Einfluss darauf gehabt hätte.

Wie so oft war seine Ehefrau die treibende Kraft. Giulia hatte gelesen, dass Autofahren und Leichenbemalen Berufe mit Zukunft seien. Noch in derselben Woche brachte ihre Freundin einen Zeitungsausschnitt mit: TAXI-UNTERNEHMEN SUCHT MITARBEITER – AUSBILDUNG WIRD FINANZIERT. Nur ein Mensch hatte noch größeren Einfluss auf Giulia als ihre Freundin – Nonna Emma, ihre Mutter. Und die gab ihren Segen zu Antonios neuem Beruf, noch bevor er selbst davon wusste. (Erst neulich half ihr ein Taxifahrer, die Einkaufssachen in den Kofferraum zu laden – so ein netter Mann.)

Antonio bog in die Amalienstraße. Zwischen den Hausnummern 1 und 5 zwängte sich ein Mehrparteienhaus; der Putz bröckelte an mehreren Stellen von den Außenwänden. Davor winkte ein dunkelhaariger Mann nach dem Fahrzeug. Mit der anderen Hand schob er die langen Strähnen aus dem Gesicht. Das Hemd und die Krawatte passten um keinen Preis zu der verwaschenen Blue Jeans. Antonio verabscheute junge Leute, die ihre Hemden nicht ordentlich in die Hose stecken konnten. Wo soll das noch hinführen?, dachte er und rückte den Schlapphut zurecht – auch den hatte Giulia längst parat, als sie ihm die Stellenanzeige präsentierte. Und schon war aus ihm ein Taxifahrer geworden.

Er kam vor dem Fahrgast zum Stehen und versuchte es mit gestellter Höflichkeit: „Wohin Taxi?“

2

„Poccistraße 165. Aber schnell, bitte. Bin eh schon zu spät. Da müssen wir nicht auch noch rumtrödeln.“

Der Taxifahrer stoppte den Motor. Das Fahrzeug machte einen Satz nach vorne, sodass es Daniel den Türgriff aus der Hand riss. Erschrocken trat er einen Schritt zurück. Erst als er sicher war, dass der Pkw ruhig auf dem Asphalt stand, stieg er hinten zu. Es roch nach kaltem Rauch. Egal, jetzt aber los.

Auf dem Lenkrad lag ein Stadtplan. Der Taxifahrer kratzte sich mit der linken Hand die schwitzigen Locken unter der Mütze und fuhr mit dem Zeigefinger der rechten auf der Karte herum.

„Was machen Sie denn da?“, rief Daniel entgeistert.

„Poccistraße.“

„Weg mit der Karte. Ich sag wohin.“ Wütend schob Daniel sich auf den mittleren Sitzplatz, die Hände an den Kopfstützen. Warum fährt er nicht?

„Na los. Gas.“

„Anschnalle … bitteschön.“ Der Fahrer schaltete das Abblendlicht ein, obwohl es so spät am Vormittag längst nicht mehr nötig war.

„Ja, ist ja gut. Aber fahren Sie.“

Der Motor tuckerte. Daniel knipste den Beckengurt fest. „Erst mal geradeaus.“

„Geradeaus“, wiederholte der Taxifahrer und bewegte den Benz knapp unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Er drehte das Radio an – Schlagerwelle. Das wird ja eine heitere Fahrt.

Eine rauchige Stimme brummte „Azzurro“ aus den Lautsprechern.

„Jetzt nach rechts.“

„Rechts“, sagte der Fahrer. Er schob den Schlapphut aus der Stirn und begann mitzusingen: „…e lungo per me …“

„Hören Sie bitte auf.“

„Singen?“

„Noch mal rechts.“

„Is verliebte Mann … singt von Geld für Frau.“ Mit der flachen Hand betonte er den Satz. „Muss Leben machen für Frau, nicht für Geld.“ Tiefe Furchen zogen sich durch das Gesicht des Italieners – Zeugen eines gutmütigen aber abgearbeiteten Wesens. Und die zuvor nervenraubende Ruhe wirkte mit einem Mal beruhigend auf Daniel.

Ein paar Tage war er jetzt schon in der Stadt. Genug Zeit, um zu wissen, wo es Chips und Cola gab. Und genug um das nächste Fastfood Restaurant zu kennen. Er kam recht gut allein durch den Tag. Nur abends, wenn er im Bett lag und der Lüfter seines Rechners den Betrieb einstellte, wenn die Wände in der Dunkelheit unscharf wurden, dann roch er sie. Er war tausend Kilometer von dem Ort entfernt, wo er sie zum letzten Mal gerochen hatte. Und doch – es war ihr Parfüm. Er schluckte.

„Ich möchte nicht mit Ihnen reden. Und schon gar nicht über Frauen.“ Er deutete mit dem Finger durch die Windschutzscheibe. „Da, über die Brücke.“

Da krachte es.

Daniel spürte einen Schlag in den Rücken. Die linke Seite des Benz hob sich. Irgendwo wurde Blech zerdrückt; ein Geräusch, als ob sich eine Mülltonne durch eine Schrottpresse schiebt. Splitter spritzten in sein Gesicht und die Welt drehte sich.

Noch ein Stoß. Jetzt durch den ganzen Körper. Die Stimme des Fahrers formte einen unverständlichen Schrei. Daniels Gleichgewichtssinn setzte aus. Die Fahrzeugwände drückten von mehreren Seiten nach innen. Und das Chaos kam nicht zur Ruhe.

Krampfhaft wollte sich Daniels Bewusstsein von diesem Ereignis lösen. Ihr Duft … er konnte ihn riechen.

Er öffnete die Augen. Polster drückten gegen seine rechte Körperseite. An der Stirn spürte er Metall. Warme Flüssigkeit rann ihm aus der Nase ins Auge. Er hob die Schulter, wollte es abwischen. Schmerzen. Der Schädel des Taxifahrers klemmte bizarr zwischen Kopfstütze und Lenkrad; die Lider halb geöffnet.

Daniels Psyche weigerte sich, die Situation zu akzeptieren. Er drehte den Kopf.

Und Rose lächelte ihm zu.

Auf einmal war der Unfall nur noch eine wage Erinnerung; die Welt um ihn herum verschwamm und die Schmerzen zogen fort, wie Gewitterwolken im Sturmwind.

„Es liegt bei dir, was du tun möchtest“, neckte sie ihn.

So war es immer. Er sprach von einem Job und sie suchte sorgfältig die Zweideutigkeiten in seinen Worten und ärgerte ihn damit. Daniel schaute aus dem Fenster. Das Meerwasser schwappte kraftvoll gegen die Felsen.

„Du könntest deinen Urlaub hier verbringen. Und ich komme hin und wieder zu dir nach München“, sagte sie.

Das konnte sie doch niemals ernst meinen!

Die beiden hatten ihre Sturmzeit; daraus hatte sich ein sorgloser Alltag

entwickelt. Und Daniel lies sie in sich graben. Sie fand Liebe – seine Liebe zu ihr und zur Costa del Luz. Und jetzt stand der nächste Schritt an. Er genoss es, in ihre Augen einzutauchen.

„Deine Eltern wären froh, wenn ich verschwinde“, sagte er und setzte einen Kuss in ihr Haar. Es duftete wundervoll.

Daniel hörte eine Sirene. Aus dem Radio dröhnte: „… troppo azzurro …“ Sein Kopf pochte. Er konnte nur verschleiert sehen. Ein Auge war verklebt.

Der Taxifahrer stöhnte: „Helfer komme.“ Blutige Masse tropfte aus seinem Mund.

Beißender Qualm drängte sich in Daniels Nase. Doch so scharf der Geruch in seiner Nase ätzte, so schmerzhaft der Dampf in den Augen brannte, beides konnte nicht Rose’ süßen Duft verdrängen.

„Die Firma bietet dir einen Haufen Geld. Das ist deine Chance.“ „Geldsorgen haben wir ja nun wirklich nicht“, sagte er.

„Es wäre DEIN Geld. Und du würdest mal was Sinnvolles tun.“ „Möchtest mich loswerden, was?“ Er schmiegte sich an ihren warmen

Körper und knabberte am Ohrläppchen.

„Du nimmst mich nicht ernst. Diese Firma …“

„FaTec“, warf er ein.

„Ja. Du könntest groß rauskommen. Ein Mensch braucht Bestätigung.“ „Ich weiß, was ich brauche“, sagte er und schloss ihren Mund mit einem

Kuss. Er lauschte der Brandung …

… und hörte die letzten Worte der rauen Stimme singen „all’incontrario va“ bevor das Radio verstummte.

„Rose“, jammerte Daniel. Er wollte weinen, doch die Schmerzen hinderten seinen Körper selbst an dieser Bewegung.

„Hilfe da“, sagte der Taxifahrer.

Ein Mann trat an das Unfallfahrzeug heran, gekleidet in Rot und Weiß. Ein

Arzt. Er bewegte sich über Kopf. Jetzt erst begriff Daniel, dass das Fahrzeug auf dem Dach lag. Er tastete nach dem Beckengurt. Der Gurt muss weg, dachte er, unbedingt, sofort. Mit einem Mal durchzog ihn ein Gefühl der Panik. Wo ist der Verschluss? Er muss … auf. Dieser verdammte Gurt muss weg, jetzt! Er spürte das bewegliche Teil zwischen den Fingern. Dann einen Schlag auf den Kopf und Schmerzen.

Eine Glasscheibe zerplatzte. Als Daniel die Augen aufschlug, schaute er dem Mediziner ins Gesicht. Der Mann hielt eine Waffe auf den Kopf des Taxifahrers gerichtet und drückte ab. Flüssigkeit spritzte. Daniel brüllte und warf die Arme vors Gesicht. Er konnte nicht mehr denken. Sein Bewusstsein wollte ihn zurück in die Tiefe ziehen. Er hob die Lider. Der Kopf des Taxifahrers hing leblos und unkenntlich am Körper. Der Arzt war verschwunden.

Dann war alles dunkel.

Ein aufmerksamer Beobachter hätte unter den Schaulustigen eine dunkle Gestalt ausgemacht – sein Körper unterschied sich nur wenig von seinem Schatten, war er doch schwarz wie ein Priester gekleidet. Und er lächelte.

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