Читать книгу Social Network. Die Bibliothek des Schicksals - Chris M. Wagner - Страница 9

KAPITEL 3 – NUR EIN UNFALL

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1

Irgendwo sang eine rauchige Stimme. „Azzurro, il pomeriggio …“

Das Bewusstsein schob die endlose Dunkelheit beiseite, so wie eine Nebelbank den Blick auf eine verborgene Insel freigibt.

Die Sinne meldeten sich.

„Räumt ihn weg.“ Es klang achtlos – wie die Stimme eines Polizeihauptmeisters, der den Kadaver eines verlausten Hundes in die nächste Mülltonne werfen lässt.

Daniel wollte die Augen öffnen. Das Licht stach in seine Pupillen. Es schmerzte. Und es stank nach Eisen. Er würgte.

Er wusste nicht, wo er war. Das Blut in seinem Kopf pulsierte. Im selben Takt schmerzte es in den Schläfen, so als wollte man ihm das Gesicht von den Knochen ziehen.

Nein, ich lebe noch. Hört mich denn niemand?, wollte er schreien, konnte es aber nicht. Jetzt wurde sein Körper herumgewirbelt. Die Schmerzen waren zu groß. Er versank erneut in der Dunkelheit.

Immer wieder hörte er sich selbst kreischen:

„Sein Kopf war zerfetzt. Ich hab ihn gesehen … nur noch Fetzen und Blut.“

Und er spürte, wie Arme und Beine gegen Schränke, Stühle und Tische schlugen. Es tat weh, aber so konnte er das Chaos in seinem Kopf ertragen.

Auf einmal waren die Gliedmaßen starr.

„Ich hab ihn“, sprach ein Mann.

Und es fühlte sich an, als würden Riemen um die Gelenke gelegt. In seinem Bauch explodierte die Wut. Er würde den Verstand verlieren, wenn er ihn überhaupt noch hatte. Wo war er? Was passierte? War das die Hölle?

„Kannst loslassen.“

Etwas stach in seinen Arm, es brannte. Wieder dieser Nebel. Und die Melodie unendlicher Gemütlichkeit. Und blaue Finsternis – azzurro heißt blau.

2

„Herr Lang, hören Sie mich?“ Jemand schlug ihm gegen die Wange. Daniel erschrak und hielt sich beide Arme vor das Gesicht. Er öffnete die Augen.

Ein riesiger Kopf, oben kahl, mit hängendem Doppelkinn, beugte sich über seinen Körper. Der Atem dieses Mannes schien aus einem außergewöhnlich großen Brustkorb zu kommen. Er raubte ihm den Sauerstoff. Daniel hustete.

Der Mann lehnte sich zurück und setzte eine dünne Nickelbrille auf die Nase. „Herr Lang, da sind Sie ja … wieder bei uns.“ Er lächelte. „Das freut mich.“

Wo war er? Daniel drehte den Kopf. Sofort stachen Schmerzen in sein Genick. Regungslos konzentrierte er sich darauf, zu atmen. Er war nicht tot.

„Wird schon wieder“, sagte die überfreundliche Stimme, die, obwohl sie besonders tief war, einen ungewöhnlich warmen und angenehmen Klang besaß.

Jetzt trafen erste Erinnerungen wieder ein: das Taxi, die Waffe. Daniel griff mit beiden Händen in die Matratze und richtete sich auf. Er saß in einem Krankenbett – kein gewöhnliches Krankenbett: Schnallgurte warteten darauf, ihn zu fixieren.

„Der Mann war tot“, rief er aufgeregt. Doch der Arzt blieb seelenruhig. Er lächelte noch immer. Jetzt kam Daniel der Gedanke, dass dieses Lächeln eine Schutzfunktion war, um ihn bei Laune zu halten. Diese schreckliche Gelassenheit machte ihn fast wahnsinnig.

„Verdammt hören Sie. Erschossen!“

„Ruhen Sie sich aus, Herr Lang. Jetzt ist alles in Ordnung. Und Sie – Sie sind in Sicherheit.“

Das klang ermutigend. Offenbar war Zeit vergangen. Und mit Sicherheit ermittelte die Polizei schon längst. Vermutlich brauchten sie Daniels Aussage.

„Wissen Sie, wer es war? Ich habe ihn gesehen.“

„Das sagten Sie bereits. Und es ist alles in bester Ordnung. Jetzt lassen Sie uns doch mal ganz von vorne anfangen.“

Sein Pulsschlag ließ etwas nach und er wollte den Worten des Arztes gehorchen.

„Doktor Fleischmann ist mein Name. Ich bin Ihr behandelnder Arzt.“ Er lachte, wie ein Kinderarzt lacht, wenn er nach einer langen Tortur einem Fünfjährigen endlich die Spritze verpasst hatte. „Sie haben uns ja schön auf Trapp gehalten.“

Daniel fand an seiner Situation nichts amüsant. Offenbar war er Zeuge einer Hinrichtung gewesen. Schon der bloße Gedanke daran trieb seinen Puls zurück in luftige Höhen.

Dr. Fleischmann fuhr fort: „Wir beide werden viel zu bereden haben. Wie fühlen Sie sich?“

Wie ich mich fühle?, dachte er. Wie fühlt man sich, wenn man um ein Haar ermordet wurde?

„Blendend“, war seine sarkastische Antwort.

„Es hilft uns beiden, wenn wir die Geschehnisse verarbeiten. Glauben Sie mir, Herr Lang.“

Dieses nüchterne HERR LANG ging ihm langsam auf die Nerven.

„Ich sag Ihnen, was ich gesehen habe. Ich hab’ gesehen, wie ein Taxifahrer erschossen wurde. Die Verrückte aus meinem Wohnhaus hatte recht. Da war ein schwarzer Mann. Er war ganz hinten. Und er hat gelächelt.“

Der Arzt regte keine Wimper. Nur das Ist-ja-schon-gut-Grinsen in seinem Gesicht wurde eher noch breiter.

Jetzt war’s genug. Daniel brüllte: „Was zur Hölle ist hier eigentlich los?“

„Beruhigen Sie sich … Herr Lang. Legen Sie sich hin. Und dann werden wir beide über die Tatsachen sprechen. Bitte … legen Sie sich hin.“

Der glaubt mir kein Wort, dachte Daniel und ließ den Kopf ins Kopfkissen fallen. Keine gute Idee, denn tausend kleine Nadeln stachen wahllos in seinen Nacken. Er verzog das Gesicht. Der Doktor machte eine Verschnaufpause.

Dann seufzte er und Daniel hatte den Eindruck, jetzt kommt die Wahrheit ans Licht.

„Herr Lang. Wir können nicht genau sagen, was vorgefallen ist. Soviel wissen wir: Man hat Sie schreiend in einem Straßengraben gefunden. Sie waren verstört.“

Daniel schwieg. Natürlich hatte er geschrien. Wer verarbeitet so was schon folgenlos? Aber da musste noch mehr sein. Er gab dem Arzt die Zeit weiterzusprechen.

„Sie wurden in unsere Klinik eingeliefert und zu ihrem eigenen Schutz …“

Jetzt unterbrach er: „Stopp. Was ist mit dem Taxifahrer?“

Wieder eine unheilschwangere Atempause.

Dann die Tatsache: „Kein Taxifahrer. Sie waren allein.“

Seine Gedanken wirbelten durcheinander: Nein. Unmöglich. Ich hab’s gesehen. Sein Hirn spritzte durch die Luft.

Er stotterte aufgeregt: „Es ist … es muss … ist an dem Tag ein Taxiunfall passiert? In der Nähe?“

„Herr Lang …“

Noch einmal dieses HERR LANG und ich geb’ ihm eins in die Fresse.

„Wir wissen nichts von einem Unfall.“

„Aber … die Polizei …?“

„Wir haben mit der Polizei gesprochen. Es gab keinen Unfall.“

„Jemand muss vermisst …“

„Nein, Herr Lang. Jetzt hören Sie mir genau zu. Ich kann nicht sagen, was Ihnen zugestoßen ist. Aber es hat Sie ziemlich … nennen wir es AUS DER BAHN GEWORFEN. Sie brauchen Ruhe. Verstehen Sie das?“

So sahen also die Tatsachen aus. Man hielt ihn für verrückt.

„Könnten Sie mich bitte allein …“

„Es ist jetzt wichtig – für Sie –, dass Sie sich im Klaren darüber werden, was real ist und was nicht. Nur so können Sie in ein Leben ohne Ihre … Rosemarie … zurückfinden. Verstehen Sie das?“

Daniel hielt den Atem an.

„Herr Lang. Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will?“

Es war nur ein Wort – aber es genügte, um die Zeit anzuhalten und Daniel eines klar zu machen: Alles, was hier soeben passierte, war nur ein riesiger Haufen gequirlter Scheiße. Was sollte das Gerede von einem Leben ohne Rose? Er spürte ein Brennen in seiner Brust – Wut.

„Wer hat Ihnen von ihr erzählt?“

„Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will, Herr …“

Er brüllte: „Wer hat Ihnen von Rosemarie erzählt?“

„Es ist … Herr Lang.“

„WER?“ Daniel knallte die Faust auf den Beistelltisch.

Tatsächlich verlor der Arzt – wenn auch nur kurz – die Fassung, und verteidigte sich: „Unser Computersystem weiß so was. Es steht in den Akten.“

Einen Augenblick später schon fiel der Arzt in sein altes Schema zurück.

„Herr Lang“, sagte er, die Wangen gerötet, „Sie müssen versuchen zu verstehen.“

Grace Owen hatte von einem schwarzen Mann gesprochen. Daniel hielt sie für verrückt. Aber ebenso hielt man ihn jetzt für verrückt. Vielleicht steckte mehr Wahrheit hinter ihren Worten, als er vermutet hatte?

„Sie können mich nicht festhalten.“

Der Arzt klang aufgebracht. „Zu Ihrer eigenen Sicherheit sollten Sie hier bleiben, Herr Lang.“

Doch jetzt wusste Daniel, was er zu tun hatte.

„Ich kenne meine Rechte. Ich habe ein Grundrecht auf Freiheit. Und das können Sie mir nicht nehmen.“

„Bitte verstehen Sie mich doch.“ Seine Stimme wirkte ernsthaft besorgt.

Doch Daniel sprach einfach weiter: „Ich will hier raus. Und halten Sie mich nicht auf. Ich stelle für niemanden eine Gefahr da. Und darum gehe ich – jetzt.“

So sehr seine Glieder schmerzten, so sehr sein Kopf pochte, er schob sich aus dem Bett und stellte sich auf die Beine. Im ersten Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Er nahm all seine Kräfte zusammen.

Der Arzt baute sich vor ihm auf.

„Wenn ich wirklich verrückt bin, dann komm ich wieder“, rief er und schob den Doktor beiseite.

3

„4512 bitte kommen.“ Rauschen.

„4512 bitte.“ Rauschen.

„Hier 4512.“ Rauschen.

„Ich habe eine verdächtige Person im Sanddornweg. Schaut euch den mal an. Ende.“ Rauschen.

„Sind unterwegs. 4512 Ende.“

Der Streifenwagen rollte schleppend im Verkehrsfluss dahin. Robert Seidl, Polizeioberkommissar, lenkte den A6 in das nächste Drive-in und bestellte sich einen Cheeseburger und ein Milchshake.

„Und für dich?“, fragte er seinen jungen Kollegen. Der schaute verdutzt drein, angesichts der Tatsache, dass sie sich in einem laufenden Einsatz befanden.

„Musst ja nicht, wenn du nicht willst“, drängte der Kommissar seinen Kollegen zu einer Entscheidung.

Christian Freitag war noch in Ausbildung, tat aber so, als wäre er schon ein richtiger Streifenpolizist. Er spürte noch das Abenteuer in der Luft – ein Gefühl, das sich spätestens nach dem tausendsten Einsatz in lähmenden Alltagsfrust verwandeln würde.

Pflichtbewusst antwortete er: „Nein danke.“

Natürlich ärgerte es ihn: Nichts zu essen bis Feierabend. Außer der Seidl bekommt noch mal Hunger, dachte er. Gute Karten. So wie ich seinen Ranzen kenne, knurrt der schon, wenn Seidl nur mal kurz den dicken Hintern aus dem Auto hebt.

„Das wäre dann alles“, schloss der Streifenführer seine Bestellung und drückte dem jungen Beamten einen Milchshake in die Hand. „Halt mal.“

„Vielleicht sollten wir uns nicht so viel Zeit lassen“, traute sich Freitag zu sagen.

„Vergiss es“, pflaumte ihn der Kommissar an, „Verdächtige Person: entweder irgendeine Nachbarstreitsache oder ein Wohnungsmakler, der sich umschaut. Wetten wir?“

Als der Wagen in den Sanddornweg bog, durfte der junge Beamte endlich auch mal funken: „4512 am Einsatzort.“

Die Hälfte des Cheeseburgers hing dem Kommissar noch in den Mundwinkeln. Er spülte mit dem Shake nach. Keine Menschenseele war zu sehen. Natürlich. Die Einsatzmeldung war ja schon 20 Minuten her.

„Na siehst du – nichts“, sagte Kommissar Seidl.

Trottel, dachte sich der junge Beamte.

„Freitag ist ein überaus bescheuerter Name“, sagte Seidl und wollte damit vermutlich seinen übereifrigen Helfer provozieren.

„Fahr mal da rein“, sagte Freitag.

„Woher kommt der Name?“, fragte Seidl.

„Der da hinten.“

Auf dem Gehweg lief ein Mann. Seine Kleidung wirkte ramponiert und verdreckt.

Die Sirene heulte einmal kurz auf. Seidl grinste.

Die verdächtige Person drehte sich um und blieb stehen.

„Alles in Ordnung?“, rief Seidl, den linken Ellenbogen lässig durchs Fenster gelehnt. Seidl ist echt peinlich. Gibt sich wie das Abziehbild einer Polizei-Satire. Fehlt nur noch, dass er sich mit dem Streifenwagen quer über den Bürgersteig stellt und das Blaulicht einschaltet.

„Alles in Ordnung“, sagte der junge Mann, offenbar in der Hoffnung, die Beamten würden verschwinden. Seidl stellte sich mit dem Streifenwagen quer über den Bürgersteig und schaltete das Blaulicht ein. Peinlich.

Dann setzte er seine Porsche-Sonnenbrille auf die Nase, zog die Kappe in die Stirn und hob seinen Körper übertrieben sportlich aus dem Wagen. Noch mal peinlich. Freitag schüttelte den Kopf.

„Personalausweis.“

„Ich … ich hab ihn nicht … nicht dabei“, stotterte der junge Mann.

„Aber Ihren Namen haben Sie doch dabei“, sagte Seidl.

Wow – der zeigt ihm aber wo der Hammer hängt.

„Ähm … ja … Daniel Lang.“

„Freitag“, befahl Seidl, „lass ihn hinten rein.“

Dann flüsterte er belustigt: „Er heißt Freitag – wie bei Robinson.“ Freitag schüttelte den Kopf.

4

Daniel saß hinten rechts im Wagen, Freitag links von ihm, Seidl auf dem Fahrersitz.

„Dann erklären Sie mir mal ganz langsam – so dass auch ich verstehe, wovon Sie reden: Was ist Ihnen zugestoßen, dass Sie aussehen, als wären Sie nur knapp der Notschlachtung entkommen?“

Kommissar Seidl sprach in einem seltsam bedrückenden Tonfall. Vermutlich wollte er Daniel klarmachen:

Wir haben alle Zeit der Welt, um uns deine Geschichte anzuhören. Aber wenn auch nur im Geringsten die Vermutung aufkommt, dass irgendetwas an deiner Story faul ist, kannst du dich schon mal drauf einstellen, die nächste Nacht in Untersuchungshaft zu verbringen.

Daniel hatte durchaus verstanden. Aber eins war klar: Er konnte ihnen unmöglich die Wahrheit sagen.

Das Funkgerät knackste. „An alle. Ich komme mit einer Fahndung. Gesucht wegen Mordes – Herr Daniel Lang. Er ist 26 Jahre alt, dunkelbraunes, längeres Haar, Mittelscheitel. Vorsicht Eigensicherung. Der Gesuchte ist bewaffnet.“

Daniels Herz setzte einen Schlag aus. Er fühlte sich, als wäre er als Hauptdarsteller in einen Actionthriller geschubst worden. Keine Zeit nachzudenken. Raus hier.

Die Fahrzeugtür knallte gegen einen Blumenkasten. Daniel stolperte aus dem Streifenwagen und stürzte auf den Boden. Schnell rappelte er sich auf, dann rannte er los.

„FREITAG LAUF“, brüllte der Kommissar. Der junge Polizeibeamte brauchte etwas Zeit, um zu verstehen, was passiert war.

Er hörte Seidls Stimme: „Schnapp ihn dir.“

Daniels Schienbein war aufgeschlagen. Der Schmerz trieb ihn an. Er schlug einen Haken in die nächste Gasse, zwischen Wohnblöcken hindurch und über ein Müllhäuschen. Er blickte zurück – keine Verfolger. Dann sprintete er weiter, als wären Windhunde hinter ihm her.

Irgendwo heulte eine Sirene auf. Daniel kam neben einem Mauervorsprung zum Stehen. Er schnaufte schwer, seine Lungenflügel brannten. Er war unbewusst zu seiner Wohnung gelaufen. Er ließ sich auf den Boden rutschen. Was passiert nur mit mir? Sein Herz pochte hart und schnell. Er lauschte. Konnte er seine Wohnung betreten? Er musste sich beruhigen. Sein Hirn spielte verrückt. Darum blieb er sitzen und versuchte, einen klaren Gedanken zu finden.

5

Seit einer halben Stunde war keine Polizeisirene mehr zu hören. Er hatte zwar die Wohnung gemietet, gemeldet war er jedoch noch nicht. Also sollte sein Zuhause fürs Erste ein sicherer Ort sein. Er musste die Klamotten loswerden und sich waschen. Dann musste er weg. Irgendwohin.

Er sah sich mehrmals um. Er spähte die Wohnungstür so lange aus, bis ihm die Stille nicht mehr unheimlich war. Schließlich huschte er ins Treppenhaus.

Im dritten Stock blieb er stehen. Hier wohnt die Verrückte, die vom schwarzen Mann redet. Beim Gedanken an den grinsenden Schaulustigen lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken.

Dann hielt er inne. Es war kein Namensschild mehr an der Wohnung angebracht. Er prüfte das Stockwerk, lief noch einmal ins Erdgeschoss und zurück in den dritten Stock. Das Mädchen hatte hier gewohnt; jetzt war sie weg. Oder drehte er wirklich durch?

In seiner Wohnung ließ er sich in den Lehnsessel fallen. Alles war still. Zu still. Er schaltete den PC ein. Der Lüfter summte – besser. Er war hungrig; aber vor allem war er müde. Er legte die Füße hoch und schloss die Augen.

Daniel sah sich, damals, als er zum Klassentreffen fuhr. Natürlich wollte er niemals das Restaurant betreten. Einfach nur durch die Scheibe schauen, Gesichter beobachten und vielleicht auch Lippen lesen; sprach man von ihm? Doch mehr nicht. Mit Sicherheit würde er nicht da reingehen. Und schon gar nicht würde er „Hallo, ich bin’s, Daniel“ sagen. Das brächte er niemals über die Lippen.

Er sah goldene Verzierungen, viel Glas, rote Teppiche und Menschen, die lachten. Manche Gesichter kamen ihm bekannt vor. Da war Uwe – Üf hatten sie ihn genannt. Meine Fresse, war der fett geworden. Und Alex Arm in Arm mit Hussi. Die beiden waren schon damals ein Paar gewesen. Wie war noch ihr richtiger Name?

„Kann ich Ihnen helfen?“ Eine weibliche, sehr angenehme, irgendwie runde Stimme. Und Daniel roch ein Parfüm, das ihm die Sinne vernebelte, noch bevor er in ihre Augen sah.

Sie stellte sich vor – „Rosemarie von Wards“ – und mit ihr ging er in das Restaurant. Obwohl er nur zwei Tische von seiner ehemaligen Schulklasse entfernt saß, erkannte ihn niemand. Sein Leben war schon immer ein Leben neben der Welt gewesen – neben dem System. Niemand merkte, wenn er nicht da war.

„Das ist deine Bude?“, lachte Rose. „Du kannst nicht immer nur vor der Kiste hocken.“

Und so verstummte der Rechner für eine Weile. Das Summen des Lüfters blieb aus.

Heute war er froh, den Lüfter hören zu können. Ein heller klang signalisierte eine neue E-Mail. Er wischte sich die Tränen aus den Augen, setzte sich an den PC und las:

Hallo Herr Lang,

wir hatten Sie am Montag zum Vorstellungstermin erwartet.

Sicher hatten Sie einen triftigen Grund, weshalb Sie nicht kommen konnten. Aufgrund einer persönlichen Empfehlung möchten wir es noch einmal probieren. Sollte Interesse an einer Anstellung bei uns bestehen, dann melden Sie sich bitte umgehend.

Viele Grüße,

FaTec GmbH

Was war mit seinem Leben passiert? Es war völlig aus den Fugen geraten. Und er spürte ein außergewöhnliches Gefühl, als wollte man ihn aus dem angestammten Gleis stoßen und den Geschehnissen eine neue Richtung geben. So, als klatschte man ihm ein überdimensionales Stoppschild gegen die Stirn, in der Hoffnung, er würde gehorsam stehen bleiben.

Aber so leicht würde er es dem Schicksal nicht machen.

Ich gehe dahin, sagte er sich entschlossen, und wenn es das Letzte ist, was ich mache.

6

Wie ein überdimensionaler Amboss nahm das Gebäude den Raum zwischen der Hanauer- und der Poccistraße ein. Obwohl es rundum verglast war, hatte man den Eindruck, eine Boing 747 würde daran zerschellen. Alle Fenster waren verspiegelt. Daniel schaute ehrfürchtig auf das übergroße Fassadenschild, das über die belebte Kreuzung wachte: FaTec.

Hier ist es also. Daniel war beeindruckt. Er hatte eine Kellerfirma oder ein paar Büroräume über einem x-beliebigen Internetcafé erwartet; abgedrehte Computerfreaks, die versuchen, mit einer rätselhaften Geschäftsidee Fuß zu fassen. Inhaltlich gab die Internetseite nicht viel her. Elegant – aber nichts, was nicht jeder IT-Fachmann mit ein paar Klicks hinbekommen würde. Doch nun sah es so aus, als stünde er vor dem Hauptsitz der Deutschen Bundesbank. Hätte er sich seine alte Krawatte um den Hals wickeln sollen?

Eine Hupe riss ihn aus den Gedanken.

„Weg da“, rief der Fahrer einer schwarzen Limousine mit verdunkelten Scheiben. Daniel trat zur Seite und beobachtete, wie das Fahrzeug direkt vor den Eingang fuhr. Der Chauffeur stieg aus und zündete sich eine Zigarette an.

„’S erste Mal hier?“, nuschelte er und schnippte das Streichholz in einen Gulli. Daniel war sich nicht sicher, ob er gemeint war. Nervös schlurfte er an dem Mann vorbei.

„Ein Tipp: Pass auf dich auf, da drin“, sagte der Mann, ohne Daniel dabei anzusehen. Was will der Typ?

Daniel war aufgeregt. Er musste sich vorstellen – präsentieren. In seiner perfekten Welt verkroch er sich immerzu hinter seinem Monitor, wo ihn niemand sehen – prüfen, bewerten – konnte.

„Meinen Sie mich?“

„Führ’ ich Selbstgespräche?“

Der Mann schaute Daniel in die Augen.

„Natürlich du. Wärst nicht der Erste, der als anderer Mensch da wieder rauskommt. Und ich meine nicht NEUER MENSCH, ich meine ANDERER MENSCH. Ich bring’ sie alle hin und hol’ sie wieder ab … und irgendwas passiert dazwischen – das kannst du mir glauben.“

Daniel war völlig durcheinander. Sein ganzes Leben war aus den Fugen geraten. Er hatte gehofft den Faden

– Garn –

hier und heute wieder aufnehmen zu können. Interessante Aufgaben würden ihn ablenken und einen neuen Rhythmus in sein Leben bringen. Nun hatte er die Firma noch nicht einmal betreten, da kam so ein schräger Vogel daher und bequatschte ihn mit verrücktem Zeug. Seine Brauen zogen sich tiefer ins Gesicht und ohne ein Wort zu sagen, schob er die Schwingtür auf und betrat FaTec.

Vor ihm breitete sich eine sterile Empfangshalle aus. Jeder Schritt seiner Schuhe auf dem Marmorboden hallte noch lange an den Wänden nach. In der Mitte befand sich ein Tresen, der mehr an ein Rednerpult als an einen Schreibtisch erinnerte. Dahinter stand eine wasserstoffblonde Dame – einstudiertes Lächeln, eng anliegender Pferdeschwanz, strenger Hosenanzug.

„Hallo, Herr …“ Sie tapste mit den Fingern auf der Fläche des Rednerpults herum; die Fingernägel klackerten auf Glas.

„Herr Lang, nehme ich an?“

Sie bediente einen Touchscreen-Monitor.

Daniel nickte.

„Kommen Sie, Herr Lang, kommen Sie her.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Noch bevor er ein Wort sagen konnte, schüttelte sie eifrig seinen Arm und bot ihm an: „Fühlen Sie sich wie zu Hause.“

Daniel war menschenscheu. Hätte Rose ihn nicht aus seinem Kämmerchen geholt – er würde heute noch dort hocken und verstauben. Zu viel übertriebene Freundlichkeit schreckte ihn ab. Außerdem, was sollte das? Zu Hause fühlen? Wohne ich im Reinraum eines Computerchipherstellers?

Die Dame klimperte mit den Wimpern, schwang ihr Hinterteil hin und her und führte Daniel in eine Art Besprechungsraum. Der Raum war noch viel größer als die Empfangshalle. Filzboden dämpfte den Klang der Schuhe und verlieh dem großflächigen Zimmer eine chemische Duftnote. Außerdem lüftete sich das Geheimnis um die durchsichtlosen Fenster: Vorhänge aus Spiegellamellen.

Zwischen all den leeren Stühlen – um U-förmig gestellte Tische gereiht – kam er sich verloren vor. Er stellte sich vor ein Touchscreen-Rednerpult – auch hier gab es eins – und wischte den Bildschirmschoner beiseite, der einen FaTec-Schriftzug im Sekundentakt über den schwarzen Hintergrund hopsen ließ.

Der Schriftzug löste sich in tausend kleine Pixel auf; dahinter erschien Daniels Gesicht; darunter eine Tabelle mit seinen persönlichen Angaben:

Name: Daniel Lang

Alter: 26

Familienstand: ledig

In fettroter Schrift war zu lesen:

Vorkenntnisse in der Programmierung mikroelektronischer neuronaler Netze

Daniel war baff. Woher wussten sie das?

Er erinnerte sich an eine Phase in seiner Jugend, die er der künstlichen Intelligenz gewidmet hatte. Damals war er überzeugt, er hätte den Durchbruch zur KI in einer simplen Methode gefunden, synthetische Neuronen zu verbinden. Nächtelang fütterte er den Algorithmus mit Fragen und Antworten. Als er das fertige Computerprogramm endlich in Betrieb nahm, tippte er ein paar einfache Worte hinein.

„Hallo Muthur.“

Er hatte sein Programm nach dem Bordcomputer des Raumschiffes Nostromo benannt. Es errechnete eine Reaktion.

„Hallo Daniel.“

Spitze. Es funktionierte.

„Wie geht es dir?“ Eine einfache Frage.

Sofort folgte die Antwort: „Gut.“

Das hört man gerne. Wenn es der Software gut geht, können wir jetzt richtig zur Sache gehen.

„Was ist Schicksal?“

Von diesem Augenblick an reagierte das Programm nicht mehr. Es rechnete tagelang; ein Fortschrittsbalken zeigte an, dass es noch beschäftigt war. Bis eines Morgens eine Antwort auf dem Monitor geschrieben stand:

BUFFER OVERFLOW ERROR AT ADDRESS #FCE2

Das Ende des Projektes.

„Schönes Spielzeug, diese Dinger.“

Erschrocken riss es ihn aus den Gedanken. Wie ein kleiner Schuljunge, der Papas Waffe in der Hand hält, obwohl ihm das strengstens verboten ist, sprang er vom Rednerpult weg und schaute mit großen Augen zur Tür.

Der nächste Schock schlug ihm wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Vor ihm stand ein hochgewachsener Mann, vollständig in Schwarz gekleidet, wie ein Priester; jedoch war das Kollar totenschwarz wie sein Hemd. Ein Schauer fuhr durch Daniels Körper.

Der Mann versteckte seine Hände hinter dem Rücken und trat mit würdevollen Schritten ein. Daniel wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Freund oder Feind, das Grauen oder der neue Arbeitgeber? Herrgott, sag mir, was passiert hier?

„Sie haben für großen Wirbel gesorgt, Herr Daniel Lang“, sagte der Mann mit ruhiger, aber kräftiger Stimme.

Daniel überkam ein Gefühl, das er vom Beichtstuhl her kannte, wenn der Priester seine ersten Worte an den Sünder richtet. Er musste endlich die Zähne auseinanderbringen. Der Personalchef sah wie ein Priester aus – na und? Die Firma hatte Informationen über ihn eingeholt? – Auch das ist normal. Sie boten ihm eine Menge Kies. Und er wollte den Job. Also weg mit den Bedenken. Mit gestrecktem Rücken und Brust raus ging er auf den schwarzen Mann zu.

„Stopp.“

Der Mann hob die flache Hand; holte damit aber auch das Misstrauen zurück.

„Ich erzähle Ihnen etwas über FaTec. Deshalb bin ich hier, Herr Daniel Lang.“

Aus dem Mund dieses Mannes klang Daniels Name wie etwas Verwerfliches, das man nur aussprechen darf, wenn man hinter geschlossenen Türen mit engsten Freunden beisammen ist. Er drehte Daniel den Rücken zu und wandelte um die Besprechungstische herum in den hinteren Teil des Raumes. Daniel sah die dünnen Finger. Die Fingernägel waren teils gelb, teils braun und brüchig.

„Ich hätte ein paar Fragen …“

„Es …“, zischte der Priester und zog den letzten Laut so lange hinaus, bis klar war, dass er der Einzige in diesem Raum war, der sprechen durfte. „… ist das Schicksal, was uns alle begleitet, Herr Daniel Lang.“

Da waren sie wieder, die drei Worte. Jetzt jagten sie ihm Angst ein. „Haben Sie sich schon einmal mit dem Schicksal auseinandergesetzt?“

Daniel wusste nicht, was er antworten sollte. Jedoch – er hatte diese Frage schon einmal gehört … in ähnlicher Form. Rose.

– Ein Stich ins Herz. –

Sie sprach vom Schicksal, an einem ihrer letzten Tage. Seitdem war viel Zeit vergangen – tausende Jahre.

„Ich sehe es Ihnen an, Herr Daniel Lang. Sie haben.“

Jetzt bekam es Daniel mit der Angst zu tun. Aus dem Rachen dieses Mannes klang sein Name abfällig, als spräche er von einem blutigen Rotzfleck an der Wand einer Bahnhofstoilette. Der Priester drehte sich um, sodass Daniel sein Gesicht sehen konnte, und zog eine Grimasse, einem Lächeln ähnlich. Die Zähne waren in alle Richtungen gewachsen; sie traten gelb und braun zwischen den brüchigen Lippen hervor. Daniel hatte das Bild der Fingernägel vor Augen, als der Priester weitersprach:

„Ursache und Wirkung, Herr Daniel Lang, Ursache und Wirkung. Das sollten Sie sich künftig immer vor Augen halten. Sogar das allerkleinste Ereignis hat eine Ursache und eine Wirkung. Darauf können Sie vertrauen, Herr Daniel Lang.“

Er hätte heulen können, als der Priester seinen Namen erneut ausspuckte, wie einen Haufen eitrigen Schleim. Eine Sekte, dachte Daniel, er war an eine Sekte geraten. Herrje, der Umzug hierher, das alles nur wegen einer beschissenen Sekte. Wie konnte er nur so blöd sein? Er wollte aus dem Raum rennen und FaTec hinter sich lassen. Er prüfte den Weg zum Ausgang, als …

… die Klinke gedrückt wurde, die Tür aufsprang und ein runder Mann mit den quakenden Worten „Guten Tag Herr Lang“ hereinwatschelte und Daniel die Hand zum Gruß streckte.

Wie vom Blitz getroffen drehte er sich um.

Der Priester war weg.

Er suchte nach allen Richtungen. Ihm wurde schwindelig. Doch außer ihm und dem Mann mit der runden Hornbrille unter der Glatze war der Besprechungsraum leer.

7

Daniel saß im großen Lehnsessel und lauschte dem surrenden Geräusch des PC-Lüfters. Draußen verschwand ein anstrengender Tag. Zuletzt hatte er sich ein ganzes Brathuhn einverleibt, geduscht und so seinen Körper auf Vordermann gebracht. Jetzt brauchte er Zeit und Ruhe, musste sich konzentrieren, um sich über seine Situation klar zu werden. Nur schwer brachte er die Geschehnisse in Einklang. Und einen Sinn hinter alldem fand er schon gar nicht.

Der PC-Lüfter surrte.

Seine ersten Tage in München waren gut verlaufen – so weit man ein Leben neben der Gesellschaft als gut empfinden kann. Dann aber passierte diese Sache mit dem Taxifahrer. Er hätte an seinem Verstand gezweifelt, wäre da nicht dieses blutverschmierte Hemd; wie eine zerlauste Hyäne spähte es aus dem Wäschehaufen, um sich im richtigen Moment auf Daniel zu stürzen.

Er hörte seinen Atem.

In der Klinik hatte man ihm kein Wort geglaubt. Passte Daniels Erinnerung nicht mit den Tatsachen zusammen? Und auch für seine groteske Unterhaltung mit dem Priester heute Morgen gab es keine Erklärung. Nur ein Schwachsinniger würde daran festhalten. Und ein Spinner wusste möglicherweise auch nicht mehr, was er getan hatte, um zum gesuchten Verbrecher zu werden. Denn das war er, ein Verbrecher. Früher oder später würde er sich der Polizei stellen müssen. Doch zuvor wollte er noch die Wahrheit erfahren.

Stimmen im Treppenhaus. Eine Tür schloss sich. Dann hörte man nur noch den Lüfter.

Er hatte den Job. Am Montag konnte er bei FaTec anfangen. Nachdem der Priester verschwunden war, lief alles so, wie Daniel es sich vorgestellt hatte: ein nettes und informatives Gespräch über Daniels Fachkompetenz, über Geld und natürlich auch über das Projekt. Allerdings, Details verriet man ihm nicht. Nur so viel: FaTec ist Betreiber eines eigenen sozialen Netzwerks. Seine Arbeit würde in das Herz dieses Netzes einfließen.

Er wollte die Rätsel lösen: der Unfall, die Priester und Rose, seine geliebte Rose …

– es schmerzte –

Warum musste sie sterben?

Hinterher würde er entweder vor Lachen zusammenbrechen und auf die versteckte Kamera deuten – hoffentlich, oh Gott, wie sehr ich das hoffe! – oder er würde den Rest seines erbärmlichen Lebens auf den Müll werfen.

Schritte im Treppenhaus.

Daniel war viel zu müde, um weiter über die Zukunft nachzudenken. Genug für heute. Morgen mehr. Er lehnte den Kopf nach hinten und schloss die Augen.

Der Lüfter surrte beruhigend.

Dann klingelte es.

Die Polizei. Verdammt. Daniel kochte innerlich. Die Vorstellung, er wäre in Sicherheit, war Mist. Oder war es doch jemand anderes? Er schlich zur Wohnungstür. Sein Herz klopfte aufgeregt. Wenn es die Polizei war, würde die Tür im nächsten Augenblick, mit einem Rammbock aufgesprengt, in den Raum fliegen. Eine Sekunde später würde Daniel auf dem Bauch liegen – tot oder lebendig.

Konnte man von außen erkennen, wenn er den Türspion öffnete? Er wusste es nicht. Aber er musste es riskieren. Er wollte lauschen, hörte jedoch nur den Puls hinter seinen Ohren.

Ein Blick nach draußen: Richard von Wards – Roses Bruder.

Der hier?

Erleichtert öffnete er die Tür.

„Richard“, sagte er, den Schweiß noch auf der Stirn.

„Daniel Lang.“ Richard ließ sich jedes Wort auf der Zunge zergehen, als hätte der Name eine tiefere Bedeutung. „Darf ich reinkommen?“

„Natürlich.“ Obwohl Daniel kein gutes Gefühl dabei hatte, sehnte er sich ebenso nach einem Gespräch mit einem Mitglied der Familie. Warum also nicht Richard? „Komm rein und setz dich.“

Er führte ihn durch den Flur in sein provisorisches Wohnzimmer. Richard lief voraus und setze sich in Daniels Ledersessel.

„Was kann ich für dich tun?“ Daniel gab sich große Mühe, die Frage offen und ehrlich wirken zu lassen.

„Ich möchte von dir hören, warum du es getan hast?“

Jetzt war Daniel vor den Kopf gestoßen. Er wurde verlegen.

„Was habe ich getan?“

„Rosemarie.“ Der Name sollte scheinbar als Antwort genügen.

„Ich habe sie geliebt. Und ich liebe sie noch …“

Richard sprang auf, zeigte mit dem Finger auf Daniel, und schrie: „DU!“ Seine Zähne mahlten aufeinander. „… hast sie getötet.“

Fast hätte Daniel laut losgelacht, hätten Richards Augen ihn nicht gewarnt: Er würde in einen Blutrausch verfallen.

Daniel war entsetzt. „Ich habe was?“

Richard warf einen Zeitungsartikel durch die Luft. Das Papier fiel zu Boden. Daniel konnte die Schlagzeile lesen:

TODESFALLE KRANKENHAUS

Daniels Gedanken überschlugen sich: Was ist nur in ihn gefahren? Wie kann er nur denken, ICH wäre für ihren Tod verantwortlich?

„Was soll das? Ich liebe sie.“ Tränen liefen über seine Wangen. Ein Vorwurf war in seiner Stimme zu hören. „Ich konnte mich nicht von ihr verabschieden. Ihr habt sie ohne mich begraben.“

Er brach zusammen, fiel auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht.

„Der Letzte, der sie lebend gesehen hat – warst DU. Streite es nicht ab. Die Krankenschwester hat es mir gesagt. Und Vater … er sagte, du warst da. Ich möchte nur eins von dir wissen – WARUM?“

Daniel hörte nur noch einen Teil von Richards Worten. Es war ein Albtraum und Daniel hoffte, er würde jäh zu Ende sein. Er würde schweißgebadet auf seinem Lehnsessel aufwachen und das Surren des Lüfters hören.

Richards Stimme nahm einen verschlagenen Tonfall an. „Ich habe der Polizei mitgeteilt, sie würden in deiner Wohnung die Leiche eines Mörders finden, Daniel.“

Entsetzt schaute er in Richards Augen; die Augen eines Wahnsinnigen, Augen, die nach Blutrache gierten. Und mit einem Mal hielt Richard eine Waffe auf Daniels Kopf gerichtet.

„Tritt vor deinen Richter, du Schwein.“

Daniel schloss die Augen und hielt die Luft an.

Der Lüfter summte.

Hol mich hier raus. Bitte. Ich will nicht mehr. Mach dem ein Ende.

Da hörte er einen dumpfen Schlag. Die Waffe knallte neben ihm auf den Boden. Richard stürzte. Bewusstlos.

„Komm mit“, rief eine Frauenstimme. Und schon zerrte jemand an seiner Hand … Grace Owen.

Und er rannte. Sie zog an seinem Arm. Seine Augen tränten. Sein Fuß blieb hängen. Etwas krachte. Verschwommen sah er Schirme durch den Flur fallen. Aus dem Erdgeschoss hörte man das Geräusch von splitterndem Holz.

„Schnell“, rief sie. „Sie sind unten.“

Warum laufen wir dann nach unten?, rief sein Verstand. Das Herz pochte. Sein Handrücken schleifte am Putz. Er riss sich die Haut auf. Sie zerrte ihn weiter.

„Hier rein“, flüsterte sie und zog ihn in ihre ehemalige Wohnung. Die Tür schnappte zu. Beide lehnten mit dem Rücken am Türblatt und lauschten.

Sie hörten ihren eigenen Atem. Und sie hörten Schritte im Treppenhaus. Mehrere Personen. Grace formte mit den Lippen ein Wort: POLIZEI. Daniel nickte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

Im Stockwerk darüber ging es zur Sache. Füße trampelten, Menschen brüllten. Mehrfach hörten sie das Wort GESICHERT und eine Menschenhorde lief im Treppenhaus auf und ab.

„Wasch dich. Dann riskieren wir’s“, sagte Grace.

Daniel konnte ihre Gedanken lesen. Früher oder später würde Richard zu sich kommen. Spätestens dann wüssten die Beamten, dass sie den Falschen haben. Bis dahin mussten die beiden weg sein. Er lief ins Bad und wusch sich die Spuren der Aufregung aus dem Gesicht. Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen.

„Jetzt oder nie.“

Grace nickte und öffnete die Wohnungstür.

Wir sind verrückt, total verrückt, dachte Daniel und bot Grace den Arm an. Sie lächelte – beinahe ein wenig zu freudig – und hakte sich liebevoll bei Daniel ein.

Total verrückt, ja das sind wir.

Dann spazierten die beiden auffällig die Stufen hinab.

Der Einsatztrupp des Sondereinsatzkommandos empfing sie. Zwei Männer knieten rechts und links der Tür, zwei standen draußen und spähten ins Wohnhaus. Die Männer waren uniformiert – ganz in Schwarz mit der Aufschrift SEK. Grace und Daniel taten verstört – was ihnen nicht allzu schwerfiel.

Sie fragte mit zittriger Stimme: „Was ist denn los?“

Wir sind total verrückt.

„Gehen Sie zur Seite. Weg da … raus … schnell … das ist ein Polizeieinsatz“, rief einer der Beamten und fuchtelte mit den Armen herum. Er war offenkundig besorgt um den Erfolg der Operation. Die beiden Zivilisten mussten raus aus seinem Schlachtfeld.

Daniel fühlte sich, als würde er während der Dreharbeiten durch eine Filmszene laufen. Sie zeigten sich kooperativ und waren zügig aus der Kameraperspektive verschwunden.

Draußen duckte er sich und versteckte sein Gesicht hinter Grace’ Kopf. Er deutete auf einen Streifenwagen.

„Ich kenn die beiden.“

Polizeioberkommissar Seidl und sein Streifenpartner Christian Freitag sicherten den Verkehrsfluss vor dem Einsatzort. Seidl schob sich einen Cheeseburger in den Schlund.

„Bitteschön“, bot Daniel seinen Arm an.

Grace hakte ein. Und gemeinsam spazierten sie davon.

Social Network. Die Bibliothek des Schicksals

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