Читать книгу Clé de l'amour - Christel Siemen - Страница 4

1. Kapitel

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Eve lag in ihrem kleinen Zelt und lauschte den Geräuschen der Nacht. Durch die hochgeschlagene Zeltplane am Eingang konnte sie den Sternenhimmel beobachten. Weiße Waben schwebten vor dem funkelnden Meer am Firmament. Sie wurden dichter und dichter und die Lichtung auf der sie übernachtete, wurde zu einem riesigen, schwarzen Loch. In den Baumwipfeln rauschte es. Gerade noch rechtzeitig schloss Eve den Reißverschluss ihres Zeltes, bevor ein Regenguss einsetzte. Irgendwo raschelte es im hohen Gras. Genauso hatte sie sich das vorgestellt. Nur mit sich und der Natur im Einklang zu sein. Endlich einmal war genügend Zeit, um in Ruhe nachzudenken. Mit verschränkten Armen blickte Eve gegen das dunkle Zeltdach. Im Gleichklang der Regentropfen schweiften ihre Gedanken ab und wanderten zurück in ihre Jugend. Sie war noch ein junges Mädchen, als ein Jahrmarkt in ihr Dorf kam und seine Zelte aufschlug. Ganz genau konnte sie sich erinnern, dass sie mit ihren Freundinnen darum gewettet hatte, wer sich traute, von einer Wahrsagerin die Zukunft Voraussagen zu lassen. Das Los war auf sie gefallen. Ein mulmiges Gefühl hatte sie überkommen, als die Jugendlichen sie rigoros in den alten Wohnwagen schoben. Aber bevor Eve ihre Feigheit vor den Freunden zugegeben hätte, hatte sie sich ihrem Schicksal ergeben. Eine alte, runzlige Frau hatte sie gebeten, auf einem Schemel Platz zu nehmen. Lange, schillernde Ohrringe baumelten an ihren Ohren. Wenn Eve sich erinnerte, war sie mit einem langen bunten Kaftan bekleidet. Ihre Haare waren bereits schneeweiß. Es roch eigenartig nach irgendwelchen Räucherstäbchen. Da kaum Tageslicht in das kleine Refugium fiel, wirkte der Ort recht mystisch. Die Alte hatte Karten mit Engelsfiguren vor sich auf einem kleinen Tisch ausgebreitet und hatte Eves zitternde Hand in die ihre genommen. Mit leiser durchdringender Stimme sprach sie irgendetwas, was Eve nicht recht verstanden hatte. Dann sagte sie: „Du wirst ein langes Leben haben. Du wirst viel Geld verdienen. Aber pass auf, dass dich das nicht vereinnahmt. Hüte dich davor, dass dich dein Ehrgeiz auffrisst. Aber du kannst dich wieder erholen, denn du bist fleißig und klug. Pass gut auf deine Hände auf. Du brauchst sie für deine Arbeit.“ Nach einer kurzen Pause sprach sie: „Ich sehe verschiedene Männer in deinem Leben. Auch sehe ich Kinder. Ein Kind ist nicht dein Eigenes …“ So ungefähr waren die Worte der Alten. Doch erst heute, viele Jahre später, fielen ihr diese wieder ein. Ob es daran lag, dass ihre Beziehung zu François gerade in die Brüche gegangen war? Der Begriff Ehrgeiz war ihr nicht fremd. Davon hatte es in der letzten Zeit mehr als genügend gegeben. Eve bezog jedoch den Ehrgeiz mehr auf ihren Lebensgefährten, als auf sich selbst. François war es, der von Ehrgeiz besessen war. Ständig mussten neue Aufträge her, immer größer und anspruchsvoller sollten die Projekte sein. Die Arbeit in Frankreich reichte ihm schon lange nicht mehr aus. Er nahm Aufträge im Ausland an, die sie ständig an die Grenzen der Belastbarkeit trieben. Das Geld, das sie bisher verdient hatten, war ihm noch nicht genug. Immer neue Höhenflüge schossen ihm in den Kopf. Damit er sich diese leisten konnte, trieb er Eve ständig zu weiteren Höchstleistungen an. Denn zur Umsetzung seiner Projekte benötigte er sie. Sie zeichnete die Pläne, sie entwickelte die Konzepte und leitete die Baustellen vor Ort. Sie war die Praktikerin und er übernahm den kaufmännischen Teil und den Vertrieb.

Eve dachte an ihr schönes geerbtes Haus in Paris. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten François hatte sie es zu ihrem Lebensmittelpunkt umgestaltet. Unten im Haus befanden sich ihre Büros und darüber gab es eine wunderschöne Altbauwohnung. Eigentlich hatte sie gedacht, dass sie genau das Leben führte, was sie sich erträumt hatte. Wieso sah sie sich nicht mehr darin? Das Einzige was noch schwieriger war als zu bleiben, war zu gehen. Sie wollte keine heftigen Auseinandersetzungen und Streit. Es war nicht ihre Art, Porzellan zu zerschlagen. Sie wollte nur noch leise durch die Hintertür stehlen und nonstop im Dauerlauf davonrennen – vor der Enttäuschung ihres Lebens.

„Merde!“ Eve kniete sich in den Matsch und inspizierte ihren Fahrradreifen. „Da haben wir ja den Übeltäter!“ Ein kleines spitzes Stöckchen steckte im Reifen. Vorsichtig zog sie ihn heraus. Es zischte und die restliche Luft entwich nun auch noch. Jetzt war der Reifen endgültig platt. Eve fluchte leise vor sich hin und griff aus der Hocke heraus nach dem kleinen Reparaturtäschchen, welches hinter dem Sattel angebracht war. In Gedanken überlegte sie bereits, wie das Flicken eines Fahrradreifens noch mal ging. Es war lange her, dass sie als Kind ihrem Vater dabei zugeschaut hatte. Sie kratzte sich mit der Hand an den Hinterkopf. Sie hatte noch nie einen Fahrradreifen gewechselt. „Auch das noch!“ Bei dem Blick in das Täschchen entdeckte sie enttäuscht, dass dieses leer war. Da stand sie nun, mitten im Nirgendwo in der Aquitaine mit einem schwer bepackten Fahrrad und einem platten Reifen. Sie war in der Gegend von Bordeaux unterwegs, nur wenige Kilometer vom Atlantik entfernt. Nach Auskunft ihres Routenplaners wusste sie, dass sie sich in einem großen Weinanbaugebiet befand, fernab von irgendeiner Ortschaft. „Der Tag fängt ja gut an!“ Fluchte sie laut vor sich hin.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Erschrocken ruderte Eve mit ihren Armen. Sie wähnte sich alleine inmitten der Weinreben und hatte nicht damit gerechnet, hier überhaupt jemandem zu begegnen. „Hoppla!“ Der Mann griff ihr rasch unter die Arme als sie sich aufrichten wollte. Fast wäre sie hintenüber in den aufgeweichten Matsch gefallen. Aus der Überraschungssituation heraus streifte sie wütend die männlichen Arme von ihrem Oberkörper. „Was müssen Sie mich auch so erschrecken! Unverschämtheit! Was fällt Ihnen eigentlich ein?“ Es blitzte temperamentvoll aus ihren graublauen Augen. Sie war rot angelaufen und musste hochschauen als sie direkt vor dem Unbekannten stand. Er war einen Kopf größer als sie und trug ein grünes Regencape. Noch während sich ihre Gedanken überschlugen, drückte sich auf einmal etwas Weiches von hinten gegen ihre Kniekehlen. Eve wandte ihren Kopf zur Seite. „Nanu, wer bist du denn?“ Ein Golden Retriever stand dort und blickte sie aus treuherzigen Augen an. Eve war von einer Sekunde auf die andere besänftigt. Sie beugte sich zu dem Hund hinab und kraulte ihn. Ihre Tierliebe gewann die Oberhand. „Das ist Filou“ mischte sich der Mann ein. „Guten Morgen Filou, du bist ja ein ganz Braver.“ Eve beschäftigte sich weiter mit dem Tier, welches sie ausführlich beschnupperte. „Was ist denn nun? Ihr Fahrrad? Soll ich Ihnen helfen oder nicht?“ „Ach ja, Entschuldigung.“ Eve blickte erneut auf den Mann. Er wirkte leicht ungeduldig. „Tatsächlich könnte ich Hilfe gebrauchen. Ich kann mein Rad nicht reparieren. Leider habe ich kein Flickzeug dabei. Können Sie mir sagen, wo ich so etwas bekommen kann? Soweit ich weiß, ist es noch ein gutes Stück bis zur nächsten Ortschaft.“ „Ich zeige es Ihnen!“ Der Mann setzte sich in Bewegung. „Filou, hier bei Fuß!“, befahl er seinem Hund. Eve beeilte sich und versuchte ihr schwer beladenes Rad zu schieben, um dem Helfer zu folgen. Doch das ging mit dem platten Reifen nicht gut. Der Abstand zwischen ihr und dem Mann wurde rasch größer. „Hey, nicht so schnell!“ Rief sie. Der Mann blickte sich um und murmelte etwas was Eve nicht verstehen konnte. Mit Sicherheit waren es keine freundlichen Worte. Trotzdem kehrte er zu ihr zurück. Kurzerhand zog er mit einem Ruck die schweren Satteltaschen aus ihren Verankerungen, schulterte sie wie ein leichtes Kleidungsstück und stapfte erneut davon. „Nicht schlecht, Herr Specht.“ Eve staunte. Zweifellos, der Mann besaß Kraft und Ausdauer. Eve beeilte sich, ihm weiter zu folgen.

Schweigend setzten sie ihren Marsch fort. Nach gut zwanzig Minuten verließen sie den Weg, der sie durch die Weinberge geführt hatte. Vor ihnen eröffnete sich ein groß angelegter Park. In der Ferne fiel das helle Morgenlicht auf ein riesiges Anwesen. Ein Château! Die vielen Fenster blitzten in der Morgensonne. Einige Erker und Türme erhoben sich majestätisch über dem Gebäude und eine riesige Freitreppe bildete den Mittelpunkt vor dem imposanten Bauwerk. Eve rief begeistert aus: „Wie malerisch!“ Wo war sie denn hier gelandet? Die Begeisterung der Garten- und Landschaftsarchitektin war sofort geweckt. Ihre Augen schweiften umher und nahmen die Eindrücke der vielfältigen Bepflanzungen wahr. Sie liefen nun über die weitläufigen Rasenflächen und bogen nach rechts auf einen Weg ab. Hinter hohen Eichen lag ein ringförmig angelegter Wirtschaftshof. Etliche Gebäude reihten sich aneinander. In der Mitte öffnete sich ein Torbogen und gab den Blick frei auf das Schloss. „Was machen wir hier?“ Eve blieb stehen, als der Mann vor einer Remise hielt und die Tür öffnete. „Ihr Rad reparieren, was sonst?“ Kam es erstaunt zurück. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen und zuckten kaum merklich. „Was dachten Sie denn?“ „Wenn Sie mir bitte Flickzeug geben könnten. Mit dem Reifen komme ich dann schon alleine klar. Das wäre sehr freundlich“ beeilte sie sich noch anzufügen. „Ach was, geben Sie schon her.“ Rigoros griff er in ihren Lenker und zog das Fahrrad an sich heran. Überrumpelt ließ Eve rasch los. Wie eine Feder hob er das Fahrrad hoch und drehte es auf den Kopf, um es dann wieder auf einer Werkbank abzustellen. Er knipste die Deckenlampe an. „Da wollen wir doch mal sehen.“ Nachdem er eine Zeit lang in einigen Schubladen gesucht hatte, zog er triumphierend das Gesuchte heraus. „Da haben wir es ja!“ Eve blieb im geöffneten Türrahmen stehen und beobachtete stumm das Geschehen. Was sollte sie auch machen. Wenn der Vorgang die Rettung ihres Radausfluges bedeuten sollte, dann musste sie hoffen, dass der schöne Fremde wusste, was er tat. So ruppig er auch war. Scheinbar arbeitete er auf dem Gutshof. Er kannte sich hier gut aus. Sie gab sich ihren Mutmaßungen hin. Während sie wartete, schaute sie sich den Hof genauer an. In einer Ecke standen einige große Holzfässer und in einer offenen Scheune befand sich eine Weinpresse. Auf der gegenüberliegenden Seite verlief ein gepflasterter Weg sanft in die Tiefe. Ob es dort in einen Weinkeller hineinging? Vieles deutete darauf hin, dass sie sich auf einem Cave à vin, einem Weingut, befand.

„Et voilà. Halten Sie einmal fest.“ Er drückte ihr das Fahrrad in die Hand, schnappte sich eine Luftpumpe und pumpte den Reifen wieder auf. „Fahren Sie mal eine Runde“, forderte er sie auf. Eve schob ihr Rad wieder hinaus in die Sonne, schwang sich auf ihren Drahtesel und radelte zwei Runden über das Kopfsteinpflaster. Sie drückte die Bremse und blieb vor der Remise stehen. „Sie sind mein Retter! Merci beaucoup! Alles wieder in Ordnung“ strahlte sie ihn an. Vergessen waren ihre Vorbehalte. Vor lauter Freude, dass der Tag gerettet war, fragt sie ihn „Was bin ich Ihnen schuldig?“ Sie angelte in ihrer Tasche nach ihrem Portemonnaie. „Lassen Sie stecken“, winkte er lässig ab. „Aber ich möchte mich gerne erkenntlich zeigen. In dieser Einöde hätte ich alleine keine Hilfe gefunden.“ „Ist schon gut“, brummelte er. „Aber wenn ich es recht bedenke …“ Auf einmal grinste er schelmisch. Es entstand eine Pause. „Tatsächlich könnte ich helfende Hände gebrauchen.“ „Ja, klar, was kann ich tun?“ Eve war sofort einverstanden, sich zu revanchieren. „Sie können ihr Rad und ihr Gepäck hier hineinstellen. Dann kommen Sie mal mit.“

Ohne zu verraten, was er mit ihr vorhatte, trabte er bereits wieder voran. Das schien eine Masche von ihm zu sein, sich in Rätseln auszudrücken und davon zu marschieren. Er pfiff nach seinem Hund, der sofort wieder zu seinem Herrchen zurücklief, nachdem er auf dem Hof herumgetollt hatte. Eve hätte fast laut aufgelacht. „Meint er auch mich mit dem Pfiff? Oder nur seinen Hund?“ Sie beeilte sich, ihm zu folgen. Schließlich hatte sie ihm ihre Hilfe angeboten. Wenn Eve einmal etwas versprach, dann hielt sie es auch. Obwohl dieser Mann so ruppig und einsilbig zu ihr war, war da etwas, was sie an ihm faszinierte. Sie war sich sicher, dass sich unter dieser rauen Schale ein weicher Kern verbarg. Weshalb dies so war, konnte sie sich selbst nicht beantworten. Es war mehr ein Gefühl. Auf alle Fälle strahlte er ein unglaubliches Charisma aus. Sie gingen nun durch den Torbogen schnurstracks auf das Château zu. Unten an der Freitreppe zog sich der Mann seine dreckigen Stiefel aus. Eve tat es ihm nach und entledigte sich ihrer verschmutzten Turnschuhe und stieg die erhabene Treppe hinauf. Sie betraten das Gebäude durch eine uralte, mit Eisen beschlagene, reichlich verzierte Eichentür. Nur mit Mühe konnte sie die Tür hinter sich wieder schließen, so schwer war sie. Vor ihr lag eine riesige Eingangshalle. Der Fußboden war mit wunderschönen Terrazzo Fliesen ausgelegt. An der rechten Seite befand sich ein in dem Boden eingelassener Kamin. Davor standen einige Korbsessel, auf denen weiße Schaffelle lagen. Einige antike Truhen und Vitrinen säumten die Wände. Für Filou befand sich in der Ecke ein Hundekorb, ausgelegt mit einer Decke. Ihm wurde befohlen dort Platz zu nehmen. „Kommen Sie, hier entlang“ sagte der Mann und schritt eine breite Treppe hinauf in den ersten Stock. An den Wänden hingen Ölgemälde mit Porträtbildern, vermutlich die Ahnen, die in diesem alten Gemäuer gelebt hatten. Eve kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie war beeindruckt. Sie wunderte sich sehr darüber, dass der Mann sich hier gut auskannte. Dachte sie noch immer, er sei ein Angestellter vom Gut. Ihre Neugierde war geweckt. Was hatte er mit ihr vor? Der Mann blieb nun vor einer zweiflügeligen Tür stehen und drehte sich zu ihr um. „Trauen Sie es sich zu, der Comtesse beim Ankleiden zu helfen?“, sagte er auf einmal völlig unverblümt. „Ihre Pflegerin hat sich heute Morgen abgemeldet.“ „Wie …?“ Eve war perplex. Ihr Gegenüber verstand es aber auch, sie zu überrumpeln. „Der Comtesse? Ich kenne sie nicht! Ich kann doch nicht einer wildfremden Person …“ stotterte sie. „Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Allerdings will sie sich nicht von einem Mann beim Ankleiden helfen lassen. Da ist sie eigen. Sie müssen wissen, dass die Comtesse im Rollstuhl sitzt und bei einigen Handgriffen auf Hilfe angewiesen ist. Es ist keine große Sache. Kommen Sie, Sie würden mir wirklich einen Gefallen tun.“ Eve war es etwas mulmig zumute. Der Morgen hatte es aber auch in sich. So hatte sie sich ihren Fahrradurlaub nicht vorgestellt. Aber was konnte schon passieren? Mehr als hochkant wieder aus diesem schönen Märchenschloss hinausgeworfen zu werden, war nicht möglich. Außerdem war sie viel zu gut erzogen, als dass sie einer hilfsbedürftigen Person ihre Hilfe verwehren würde. „Auf Ihre Verantwortung!“, lenkte sie ein. „Verraten Sie mir Ihren Namen?“, fiel es ihrem Gegenüber noch schnell ein. „Eve.“ Und schon klopfte der Mann an die Tür. „Ja“, ertönte eine Stimme von innen. Er öffnete die Tür und trat ein.


Clé de l'amour

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