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2. Dogmenkritik und Protestantismus

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Adolf von Harnack

In der protestantischen Theologie ist es strittig, ob man den Begriff Dogma zur Beschreibung der normativen Dimension des Glaubensverständnisses heranziehen soll oder nicht. Nicht nur das römisch-katholische Verständnis des Dogmas zeichnet hierfür verantwortlich, sondern auch die historiographische Entdeckung der historisch-kontingenten Entstehungsbedingungen etwa der altkirchlichen ‚Dogmen‘ der Zwei-Naturen-Lehre oder der Trinität sowie die übergeordnete Stellung der Schrift für die Lehrbildung innerhalb der protestantischen Theologie. Adolf von Harnack hatte in seinem Lehrbuch der Dogmengeschichte die Entstehung des altkirchlichen Dogmas als Hellenisierung des Christentums verstanden. Das dogmatische Christentum und das von ihm ausgebildete Dogma sei, so Harnacks berühmte Formulierung, „in seiner Conception und in seinem Aufbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums“ ([4], S. 20). Das dogmatische Christentum, wie es sich in der Antike herausgebildet hat, wertet Harnack als eine Entstellung des wahren Wesens des Christentums. Dieses erblicke er, wie er in seiner im Wintersemester 1899/1900 in Berlin gehaltenen Vorlesung Das Wesen des Christentums darlegte, in dem schlichten Evangelium Jesu ([4]). Die Überwindung des dogmatischen Christentums setzt für Harnack bereits mit der Reformation ein. Allerdings sei die Reformation in ihrer Kritik am dogmatischen Christentum auf halbem Wege stehen geblieben. Luther hat zwar mit dem Glauben die Innerlichkeit der Religion entdeckt, aber diese Entdeckung wurde durch die von ihm beibehaltenen altkirchlichen Dogmen der Christologie und Trinitätslehre wieder verdeckt. Ihr Ziel, nämlich die völlige Befreiung des Christentums von den dogmatischen Bestimmungen, erreicht die Reformation erst im modernen Protestantismus. In ihm tritt das dogmatische Christentum zurück und die Religion wird als eine praktische Angelegenheit des Lebens verstanden. Die Dogmengeschichte, welche diesen Entwicklungsprozess der dogmatischen Lehrform des Christentums methodisch rekonstruiert, ist damit im Kern Dogmenkritik.

Nun ist, wie die Diskussion um Harnacks Dogmengeschichte und die von ihm vorgeschlagene Wesensbestimmung des Christentums zeigt, weder seine historiographische Deutung des Wesens des Christentums noch eine andere Deutung der Geschichte frei von normativen Gegenwartsinteressen, welche nicht nur die Konstruktion der Geschichte und ihres Verlaufs steuern, sondern in diese auch immer mit einfließen. Bei Harnacks Deutung der Entstehung des dogmatischen Christentums fiel es denn auch nicht schwer zu zeigen, dass in seine Wesensbestimmung des Christentums grundlegende Überzeugungen der Theologie Albrecht Ritschls eingeflossen sind. Dessen ungeachtet legt sich freilich auf dem Hintergrund von Harnacks Überlegungen die Frage nahe, ob man die Offenbarung und den dieser korrespondierenden Glauben in seinem Kern mit Sätzen beschreiben kann, wie es ebenso das altprotestantische Verständnis der Glaubensartikel wie das römischkatholische Verständnis des Dogmas voraussetzt.

Karl Barth: Dogma und Offenbarung

Wo in der gegenwärtigen protestantischen Theologie an dem Begriff des Dogmas als zusammenfassendem Inbegriff der normativen Dimension des christlichen Glaubens festgehalten wird, da wird dieses nicht im Sinne eines Aussagegehalts oder eines fixierbaren Satzes verstanden. Geradezu klassisch für eine derartige Sicht des Dogmas in der neueren protestantischen Theologie ist Karl Barths Bestimmung des Dogmas in der Kirchlichen Dogmatik als eines eschatologischen Begriffs. Barth bestimmt das Dogma auf der Grundlage seiner offenbarungstheologischen Fassung der Theologie als „die Übereinstimmung der kirchlichen Verkündigung mit der in der Heiligen Schrift bezeugten Offenbarung“ ([43], Bd. I/1 S. 280). Aufgabe der Dogmatik ist es dieser Bestimmung zufolge nicht, inhaltlich fixierte Dogmen zu bestimmen, sondern nach der Übereinstimmung zwischen kirchlicher Verkündigung und der in der Bibel bezeugten Offenbarung zu fragen. Das Dogma ist dann nichts anderes als die Übereinstimmung dieser beiden Aspekte. Was Barth mit der Bestimmung des Dogmas im Blick hat, wird deutlich, wenn man seine offenbarungstheologische Grundlegung der theologischen Dogmatik berücksichtigt. Diese zielt auf das an die kirchliche Verkündigung gebundene, aber aus dieser unableitbare Geschehen des kontingenten Sich-Verstehens des Menschen im aktualen Glaubensvollzug. Barth löst den Offenbarungs- und den Glaubensbegriff in das aktuale Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen auf. Darin werden die konkreten Bestimmungen des Selbstverhältnisses zu Ausdrucksformen dieses freilich immer schon geschichtlich und kulturell eingebundenen Sich-Verstehens des Menschen. Da nun Barth die von der Bibel bezeugte Offenbarung als das gelungene Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen versteht, beinhaltet der Begriff des Dogmas nichts anderes als dieses an den aktualen und konkreten Selbstvollzug des Menschen gebundene Sich-Verstehen des Menschen. Damit wird das Dogma von Barth nicht als eine Aussage verstanden, sondern als ein gleichsam übergeordneter Ausdruck für die mit dem Glaubensvollzug verbundene reflexive Erkenntnis im Selbstverhältnis des Menschen.

Reflexivität des Glaubensvollzugs

Auch in der gegenwärtigen evangelischen Dogmatik wird das Dogma als ein reflexiver zusammenfassender Ausdruck und Inbegriff des Glaubensgeschehens in seiner geschichtlichen Einbindung verstanden. Selbstverständlich differieren die einzelnen Bestimmungen dessen, wie der Glaubensvollzug und seine Aufbaumomente genauer beschrieben werden. Bei grundsätzlicher Betonung der Erfahrungsbezogenheit des Glaubens, der seinen zusammenfassenden Ausdruck im Dogma findet, stellen Eilert Herms, Wilfried Härle, Christoph Schwöbel oder Konrad Stock die inhaltsbezogenen Momente des Glaubensvollzugs in den Vordergrund. Mit der christlichen Daseinsgewissheit, die sich im Glauben erschließt, wird dann ein christliches Wirklichkeitsverständnis verbunden ([50]; [73]; [98], S. 221). Das Dogma wird auch hier nicht als ein fixierbarer Satz verstanden, sondern „als Regel öffentlicher Kommunikation“ ([98], S. 219). In den Begriff des Dogmas ist die reformatorische Unterscheidung und Zuordnung von Geist und Wort bzw. innerer und äußerer Klarheit der Schrift aufgenommen, so dass es als eine zusammenfassende theologische Beschreibung des Glaubensvollzugs und seiner inneren Struktur sowie seiner Aufbaumomente verstanden wird. Diese übergeordnete Perspektive des Glaubensvollzugs als dem Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen in seiner inneren Struktur, das freilich immer schon konkret inhaltlich bestimmt ist, rückt auf diese Weise in den Rang eines Kriteriums, an dem die einzelnen Aussagen der Dogmatik zu messen sind. In diesem Sinne, also als Ausdruck der Reflexivität und Durchsichtigkeit des Glaubensvollzugs, kommt dem Dogma selbst eine dogmenkritische Funktion zu. Um die mit dem Glaubensvollzug verbundene dogmenkritische Funktion zu unterstreichen, kann freilich auch ganz auf den Begriff Dogma verzichtet werden ([55], Bd. 1, S. 82–87). Dies hat wiederum Folgen für das Verständnis der theologischen Dogmatik. Sie wird dann als Glaubenslehre verstanden, der natürlich ebenso eine normative Funktion zukommt. Auch die Glaubenslehre bezieht sich auf die gelebte Religion in einer regulativen Weise.

Der Begriff Dogma ist innerhalb der protestantischen Theologie aufgrund seiner Entstehungsbedingungen einerseits und seiner römisch-katholischen Verwendung andererseits umstritten. Will man an dem Begriff festhalten, so wird dies nur so möglich sein, dass man ihn als einen zusammenfassenden Inbegriff des aktualen Glaubensvollzugs und der mit diesem verbundenen Reflexivität versteht ([86], S. 149). Der Begriff ist dann nichts anderes als ein reflexiver Ausdruck für den Glaubensvollzug in seiner geschichtlichen Einbindung. Er verknüpft also die beiden für das protestantische Glaubensverständnis konstitutiven Momente der inneren Unbedingtheit und der geschichtlichen Bedingtheit zu einem für die Dogmatik übergeordneten Gesichtspunkt. Die Dogmatik wird auf diese Weise zu einer reflexiven Beschreibung des Glaubensvollzugs und seiner Selbstdarstellung.

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