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1. Die Dogmatik der Reformatoren und des Altprotestantismus a) Die Dogmatik der Reformatoren

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Martin Luther

Von einer theologischen Dogmatik im eigentlichen Sinne kann bei Martin Luther noch nicht die Rede sein. Als eigenständige theologische Disziplin hat sich die Dogmatik erst später herausgebildet. Für Luther, der in Wittenberg von 1513 bis zu seinem Lebensende 1546 die ‚lectura in biblica‘ innehatte, sind Dogmatik und biblische Theologie noch weitgehend synonym. Gleichwohl kommt es bei Luther gegenüber dem überkommenen mittelalterlichen Theologieverständnis zu Umorientierungen, die sich nicht zuletzt darin niederschlagen, dass er Theologie in erster Linie als Auslegung der Heiligen Schrift versteht. Dieses Verständnis von Theologie hat sich Luther im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit der überlieferten scholastischen Theologie einerseits und der mittelalterlichen Kirche andererseits erarbeitet. Sieht man von den beiden Katechismen (1529) und den Schmalkaldischen Artikeln (1537) ab, dann hat Luther sein Verständnis von Theologie nicht in zusammenhängender systematischer Form dargestellt. Luther entfaltet sein neues Verständnis von Theologie ausschließlich in Gelegenheitsschriften, die auf konkrete Anlässe und Streitfragen Bezug nehmen, sowie in seiner akademischen Lehrtätigkeit als Ausleger der Bibel.

Durch seine theologische Ausbildung in Erfurt und Wittenberg war Luther mit der spätmittelalterlichen Theologie sowie ihrem überkommenen scholastischen Lehrbetrieb vertraut. Dieser bestand im Wesentlichen in der Kommentierung mittelalterlicher theologischer Kompendien, allen voran des Sentenzenbuchs von Petrus Lombardus (1100–1160). Als junger Sententiarus hatte Luther selbst Vorlesungen über Petrus Lombardus zu halten. Allerdings treten in der Entwicklung Luthers bald andere Intentionen hervor, die sich zunehmend kritischer gegen die überlieferte scholastische Theologie und ihren Lehrbetrieb wenden. An der Wittenberger Universität, an der er 1512 promoviert wurde und an der er 1513 als Nachfolger seines Ordensoberen Johannes von Staupitz (1469–1524) die lectura in biblica übernahm, fand Luther ein kollegiales Umfeld vor, das Reformen des überlieferten theologischen Studienbetriebs aufgeschlossen war. Die Wittenberger Universität, die erst 1502 gegründet wurde, besaß eine klare humanistische Orientierung. Dem frühneuzeitlichen Humanismus ging es um eine Neubelebung der sprachlichen Wissenschaften. Das Losungswort des frühneuzeitlichen Humanismus, ad fontes, meint den Rückgang hinter die mittelalterlichen Entstellungen der Antike zu den Quellen. Dies ist nur durch Kenntnis der alten Sprachen möglich. In diesem dem Humanismus aufgeschlossenen Wittenberger Kontext und Wirkungskreis Luthers gewinnt sein neues Verständnis der Theologie Gestalt, welches in der Konsequenz nicht nur zum Bruch mit der scholastischen Theologie, sondern auch mit der spätmittelalterlichen Kirche führt.

Luthers Auslegung klassischer Texte

Luthers Auslegung der biblischen Schriften, zu der er durch die Übernahme der Wittenberger Professur verpflichtet war, ist verbunden mit einer wachsenden Kritik an der scholastischen Theologie seiner Zeit. In seinen Vorlesungen geht er zunehmend hinter die mittelalterlichen Kommentatoren auf den Urtext der Bibel sowie die Kirchenväter zurück. Bereits in seiner ersten Auslegung des Psalters in den Dictata super Psalterium von 1513 bis 1515 greift er auf die neuesten exegetischen Hilfsmittel zurück. Aber auch die Kirchenväter, allen voran Augustin, wurden von Luther nicht mehr durch die Brille der mittelalterlichen Kommentatoren gelesen, sondern im Original. Der Abstand zwischen Bibel und Kirchenvätern auf der einen Seite und der mittelalterlichen Theologie auf der anderen tritt immer stärker in sein Blickfeld. Mit dem Bewusstsein des Abstands dieser Theologie von der Bibel wird ihm aber auch die Notwendigkeit einer Umgestaltung der Theologie in Form einer Ersetzung der scholastischen Theologie durch eine an der Bibel und den Kirchenvätern orientierte Theologie zunehmend deutlicher. Die Bibel und Augustin sollen in der Theologie den Rang einnehmen, den in der scholastischen Theologie der mittelalterlich verstandene Aristoteles und seine Kommentatoren einnahmen.

Mit dieser Akzentverschiebung sind weitreichende Folgen für das Verständnis der Theologie und ihres Studiums verbunden. Im Kern zielen sie auf eine Abschaffung des philosophischen Grundstudiums, welches durchgängig an der aristotelischen Philosophie orientiert war. Luther hat seine Kritik an der scholastischen Theologie und seine Vorschläge zur Reorganisation des Theologiestudiums nicht nur in seinen exegetischen Vorlesungen vorgetragen, sondern auch in akademischen Disputationen. In der Disputatio contra scholasticam theologicam vom September 1517 unterzieht er die scholastische Theologie und ihre philosophischen Grundlagen einer fulminanten Radikalkritik und skizziert ein neues, an der Bibel orientiertes Verständnis von Theologie. Der mittelalterlichen Aristotelesdeutung bestreitet er rundweg ihr Daseinsrecht in der Theologie. Es sei, wie Luther ausführt, „ein Irrtum zu sagen, ohne Aristoteles wird man kein Theologe“. Vielmehr gelte, dass man nur „ein Theologe“ wird, „wenn man es ohne Aristoteles wird“ ([25], Bd. 1, S. 25). Die spätere Heidelberger Disputation vom April 1518 nimmt diese Kritik auf und führt auf der Grundlage der Unterscheidung von Handeln Gottes und Handeln des Menschen das Programm einer dialektischen Offenbarungstheologie aus.

Neuverständnis der Theologie

Infolge seiner Kritik an der scholastischen Theologie arbeitet Luther ein an der Bibel orientiertes Verständnis von Theologie aus, welches auf die Erkenntnis Gottes im Glauben zielt. Dabei versteht Luther die Erkenntnis Gottes zugleich als Erkenntnis des Menschen. „Cognitio dei et hominis est sapientia divina et proprie theologica“ ([22], Bd. 40 II, S. 327). In der Theologie geht es um die Erkenntnis Gottes im Glauben und dies setzt die Unterscheidung von Handeln Gottes und Handeln des Menschen voraus. Die Theologie wird bei Luther zu einer an der Bibel orientierten Unterscheidungslehre. Das Vornehmen von Unterscheidungen, sei es der von Gott und Mensch oder Gesetz und Evangelium, macht den Theologen aus. Dieses Neuverständnis der Theologie als Unterscheidungslehre hat eine durchaus existentielle Zuspitzung. Die Theologie beschreibt die Gotteserkenntnis im Glauben und diese ist mit der wahren Selbsterkenntnis des Menschen untrennbar verbunden. Gotteserkenntnis und wahre Selbsterkenntnis fallen für Luther zusammen, so dass das Gottesbild Ausdruck des mit dem Glauben verbundenen neuen Selbstverständnisses des Menschen ist. Dadurch kommt es bei Luther im Unterschied zur mittelalterlichen Theologie zu einer Verinnerlichung der christlichen Religion. Die überlieferten theologischen Gehalte werden von Luther auf das Gewissen bezogen, welches von ihm von vornherein mit der Gottesbeziehung verbunden wird. Coram Deo und Gewissen im Sinne von conscientia sind für Luther geradezu identisch. Luther bezieht die Theologie auf die innere Selbsterkenntnis des Menschen. Der Glaubende erkennt sich als Sünder und vertraut nicht auf sich, sondern auf das göttliche Verheißungswort. Dieses Geschehen des Glaubens als einem inneren, existentiellen Geschehen hat die Theologie in den Augen Luthers zu explizieren.

Luther ersetzte das mittelalterliche Verständnis der Theologie, ihre diffizilen Zuordnungen und Unterscheidungen von Natur und Gnade, natürlicher und geoffenbarter Theologie, durch eine auf die Selbsterkenntnis des Menschen im Gottesverhältnis zielende Theologie. Das grundlegende Paradigma dieser Form von Theologie ist für Luther die Bibel.

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