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Vorgeschichte

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Vor einiger Zeit hat eine Freundin von mir für ganz kleines Geld ein altes Haus gekauft, dessen ältere Besitzerin verstorben war, ohne irgendwelche Erben zu hinterlassen.

Bevor die Renovierungsarbeiten begonnen werden konnten, musste aber das ganze Gebäude erst einmal gründlichst entrümpelt werden, daher war es auch so günstig zu bekommen, sogar gering unter dem Verkehrswert, weil kein anderer die alte, winzige Hütte haben wollte.

Da unsere Kirche einmal im Jahr auf dem Trödelmarkt Sachen für einen guten Zweck verkauft, begab ich mich hochmotiviert auf den Dachboden, in der Hoffnung, dort ein paar brauchbare Spenden zu finden.

In einer Ecke fand ich eine uralte Holzkiste, deren Scharniere bei meiner Berührung ächzend zu Boden polterten. Der Staub auf diesem Monstrum schien mindestens noch Vorkriegsware und die Spinnen, die ihre Netze um sie gesponnen hatten, waren auch mindestens schon fünfzig Jahre im Spinnenhimmel.

Doch der Kisteninhalt war trotz oder vielleicht auch gerade wegen des Staubs und der etwas unsympathischen Spinnweben so faszinierend, dass ich alles um mich herum vergaß und in eine längst vergangene Zeit eintauchte. Erst meine Freundin holte mich unsanft in die Wirklichkeit und damit in die Gegenwart zurück.

Plötzlich tauchte ihr Kopf in der Dachluke auf und mit einem vorwurfsvollen Blick sah sie mich an: ,,Ich dachte, Du wärst hier, um mir zu helfen und nicht um zu lesen. Nimm den Plunder doch mit nach Hause und verlustiere Dich da damit, dann habe ich den Mist wenigstens schon mal aus den Füßen. Außerdem müsstest Du Dich mal sehen, Du siehst aus, als hättest Du in Draculas Gruft gewühlt.“

Recht hatte sie, in allen Punkten. Ich war staubig bis zu den Haarwurzeln, hatte ihr noch kein bisschen geholfen und zu Hause könnte ich mich viel besser in die gefundenen Schätze vertiefen. Also packte ich sorgfältig alles aus der Kiste in eine zwar unmoderne, aber wenigstens nicht staubige, riesige Reisetasche der ehemaligen Hausbesitzerin und schleppte es abends zu mir nach Hause.

Dort habe ich es mir gemütlich gemacht und zu allererst ein sehr abgenutztes und stark zerfleddertes Büchlein zur Hand genommen, in welchem mit schöner, zierlich gemalter Handschrift Eintragungen in englischer Sprache gemacht worden sind. Welche Qual für mich, handgeschrieben und dann auch noch auf Englisch. Ich seufzte und hoffte, dass mein damaliger Freund, ein Amerikaner, geneigt sein würde, mir bei dem Studium des Geschriebenen zu helfen.

Doch auch ohne seine Hilfe fand ich heraus, dass es sich bei diesem Heftchen ganz offensichtlich um das Tagebuch einer Frau handelte und ich nahm zunächst an, auf die Erinnerungen an die Jugendzeit der alten, verstorbenen Dame gestoßen zu sein, obwohl mich die englische Sprache ein wenig stutzig machte. Ich habe die Frau ein wenig gekannt und erinnerte mich noch gut an ihren sehr rheinisch gefärbten Tonfall.

Ich begann, meine Schätze zu sortieren und fand letztendlich noch eine ganze Reihe weiterer Heftchen, was schlicht untertrieben ist, denn es waren weit über hundert in ganz unterschiedlichen Qualitäten. Bei genauerem Hinsehen stellte ich dann fest, dass auch ein ganzer Stapel loser Blätter, engst beschrieben, zu diesen Lebensaufzeichnungen gehörte und je mehr ich mich in die Materie eingelesen hatte, merkte ich, dass die Qualität des Aufzeichnungspapiers nicht nur unterschiedlich war, sondern immer besser wurde, was mir das Sortieren letztendlich vereinfachte.

Leider sind im Laufe der vielen Jahre die Hefte teilweise auseinandergefallen, wobei etliche Seiten der Aufzeichnungen verloren gegangen sind. Auch muss ich zu meiner Schande gestehen, dass meine zu Beginn noch sehr ungeschickten Finger viele der Blätter, die knochentrocken und schon beim Öffnen der Kiste bröckelig gewesen sind, einiges an Staub erzeugt haben: Genauer gesagt, mir zerfielen die Aufzeichnungen im wahrsten Sinne des Wortes vor den Augen. Dennoch oder gerade deswegen faszinierte mich das Geschriebene aufgrund seines Alters in größtem Maße und ich kam schnell dahinter, dass die Hausbewohnerin nicht die Verfasserin sein konnte, denn die Daten der Eintragungen lagen weit zurück ins neunzehnte Jahrhundert und die Verstorbene war noch keine siebzig Jahre alt gewesen. Bei späteren Nachfragen bei den neuen Nachbarn meiner Freundin erfuhr ich, dass die Vorbesitzerin des Hauses eine entfernte Verwandte der ursprünglichen Hausbewohner gewesen ist, die irgendwann in den fünfziger Jahren nach Amerika, der Heimat der Frau, zurückgekehrt sind und dort kurze Zeit später einem Verkehrsunfall zum Opfer gefallen waren.

Um keine weitere Zerstörung an meinen Schätzen anzurichten, bat ich meinen Freund alle Beziehungen spielen zu lassen und mithilfe eines Chemikers aus seinem Bekanntenkreis wurden die Einzelblätter wieder irgendwie angefeuchtet und ich konnte sie ganz vorsichtig lesen.

Je schwieriger der Umgang mit dem Papier war, umso mehr interessierte mich das Geschriebene und ich muss sagen, dass nach allem, was ich gelesen habe, die Schreiberin bereits eine sehr emanzipierte Frau gewesen sein muss, was im ausklingenden neunzehnten Jahrhundert bestimmt Seltenheitswert hatte und der jungen Frau sicher nicht nur Ablehnung, sondern auch sehr viel Sympathie eingebracht haben mag. Doch dies kann jeder, der sich für das Leben in vergangenen Tagen interessiert, selbst nachlesen. Ich habe, trotzdem es eine Übersetzung ist, versucht, den sehr einfachen, zum Teil rotzfrechen Sprachstil des zu Anfang noch Kindes einzuarbeiten, was mir, wie ich zugeben muss, nicht immer leicht gefallen und auch nur durch die Hilfe meines ersten Freundes gelungen ist.

Meine Protagonistin nahm in ihren Aufzeichnungen kein Blatt vor den Mund und war manchmal so drastisch in Ihren Schilderungen, dass ich bei „Bettszenen“ rote Ohren bekam und das will schon was heißen, besonders in der heutigen Zeit, wo man schon beim Nachmittagskaffee mit nackten Tatsachen in jeglicher Form konfrontiert wird. Ich habe auf diese Schilderungen nicht verzichtet, weil mich die Selbstverständlichkeit, mit der die junge Frau ihr Liebesleben niedergeschrieben hat, nicht weniger faszinierte, wie alle anderen Alltäglichkeiten und Abenteuer, die ich lesen durfte.

Worauf ich allerdings gerne verzichtet habe, waren die Schilderungen der für heutige Verhältnisse eher unhygienischen, sanitären „Angelegenheiten“. Für unsere modernen Nasen wäre das Leben auf der Ranch wahrscheinlich nicht auszuhalten, das geht los beim damals sehr „modernen“ Plumsklo auf der Ranch, bis hin zu den Löchern beim Viehtrieb oder aber der nur sporadisch gewaschenen Wäsche der Cowboys in einer Waschbütt und vieler anderer Kleinigkeiten, die man mit fortschreitender „Modernisierung des Lebens“ sowieso immer gerne beim Schildern der „guten, alten Zeit“ außen vorlässt.

Was ich allerdings sonst noch aus den Papieren und Unterlagen herausgefunden habe und was sicherlich auch zum besseren Verständnis für das ,,unmögliche Frauenzimmer“ beiträgt, war folgendes:

Die junge Dame wurde am 29. Dezember 1875 in Pennsylvania als Tochter englisch/deutscher Einwanderer geboren. Der Vater war Brite, die Mutter Deutsche und deren Mutter wiederum Französin. Sie blickte also auf internationale Vorfahren zurück, was aber bei Amerikanern keinesfalls unüblich ist.

Irgendwann im Jahre 1888 kam ihr Vater bei einem für damalige Verhältnisse großen Hotelbrand ums Leben. Außer ihm müssen noch eine ganze Reihe weiterer Personen getötet worden, bzw. zu Schaden gekommen sein, denn dieses Unglück war wohl damals eine kleine Sensation. Ihre Mutter konnte sich mit der Tatsache, nun Witwe zu sein, offenbar nicht richtig abfinden, so dass sie zu kränkeln begann und etwa ein dreiviertel Jahr nach ihrem Mann starb.

Sie hinterließ einen erwachsenen Sohn, dessen Aufenthalt keiner kannte und ihre halbwüchsige Tochter. Das Kind war somit Vollwaise. Die elterliche Farm musste verkauft werden und das Mädchen hätte von Rechts wegen in ein Heim gemusst. Doch die Gesetze waren damals noch nicht so streng, eine Verfolgung wegen fehlender Kommunikationsmöglichkeiten mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, zumal war damals ein bald Vierzehnjähriger schon fast erwachsen und so konnte sich meine unbekannte Freundin mit ein wenig List und Tücke einem Heimaufenthalt entziehen.

Leider waren von den ältesten Handschriften nur noch ein paar traurige Reste vorhanden, die trotz chemischer Behandlung bei meiner Berührung dann fast gänzlich den Geist aufgegeben haben.

Hinzu kommt, dass die junge Frau als Kind ihre Aufzeichnungen und Berichte so sprunghaft und ungenau geführt hat, dass ich mit dem Übersetzen und Niederschreiben des Inhalts der Tagebücher erst an einem Punkt einsetze, wo alles etwas geordneter und ruhiger zu werden schien, denn ich wollte meine Phantasie ja nicht überstrapazieren. Also begann ich mich erst mit den etwas geordneteren Blättern und dem ersten Heftchen richtig intensiv zu beschäftigen, wobei ich jedoch versucht habe, die wenigen Fakten, die ich den ersten Zetteln entnehmen konnte, im weiteren Verlauf der Geschichte einzubauen, damit diese nicht gänzlich verloren gehen.

Ich kann rückblickend nur noch sagen, ich habe die junge Frau schon beim Lesen richtig liebgewonnen, so wie eine gute Freundin und beim Schreiben hatte ich dann manchmal das Gefühl, sie wäre bei mir im Zimmer. Ich spürte ihre Anwesenheit so körperlich, dass ich glaubte, zeitweise ihren Atem im Nacken zu spüren, wenn sie mir beim Schreiben über die Schulter sah. Ich fühlte ihre Augen auf mich gerichtet, hörte ein leises, glockenhelles Lachen und wenn mir Seiten fehlten oder mich meine Phantasie im Stich ließ, entstanden Bilder von fotografischer Genauigkeit vor meinen Augen, als würden mir fremde Gedanken förmlich in den Kopf projiziert. Ich weiß, das klingt ziemlich verrückt, aber meine Freundin hatte beim Lesen ganz ähnliche Eindrücke und glaubt seither sogar an Geister, allerdings ohne sich vor ihnen zu fürchten. Und das, wo sie noch vor der Lektüre meines Romans nach Einbruch der Dämmerung um jeden Friedhof einen Riesenbogen gemacht hat. Heute nutzt sie ihn sogar abends als Abkürzung.

Einige von den Geschichten sind sogar verfilmt oder haben als Vorlagen für Romane gedient und das ist kaum erstaunlich, denn eine Frau, die sich mit Politikern und anderen hochrangigen Personen auf guten Fuß zu stellen verstand, die später mit einem Schriftsteller verheiratet war und Kinder und Schwiegerkinder in alle Lebensbereiche entlassen hat, war und ist immer eine Story wert. Was allerdings niemand in den ganzen Jahren getan hat, ist aus ihrem Leben eine Gesamtgeschichte zu schreiben. Vielleicht, weil es eine Mammut-Aufgabe ist.

Nur ein Tropfen Leben

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