Читать книгу Nur ein Tropfen Leben - Christina M. Kerpen - Страница 5

Frühsommer 1891

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Die Sonne brennt mit aller Macht vom fast wolkenlosen Himmel auf das trockene Land. Eine Postkutsche mit zwei Kutschern und drei Fahrgästen holpert die staubige Straße entlang. Die Passagiere schlafen trotz der Schaukelei, die Kutscher dösen im Wissen, dass sie sich auf ihre Tiere verlassen können und auch die Pferde sind aufgrund der großen Hitze schon etwas ermattet, dennoch tun sie ihre Pflicht.

Die Fahrgäste sind eine junge Frau, sehr elegant gekleidet, ein ziemlich wohlbeleibter, aber nicht minder eleganter Herr älteren Semesters und ein junger, recht gut aussehender Cowboy.

John Blake, trotz seiner blonden Haare kurz Blacky genannt, arbeitet auf einer großen Ranch in Wyoming. Er hatte geschäftlich etwas für seinen Boss Carpenter in Texas zu erledigen und befindet sich nun auf der Heimreise. Die Arbeit empfand er als gut bezahlten Urlaub, auch wenn die Reise mit der Postkutsche reichlich beschwerlich ist, aber mehrere Tagesritte sind in der Hitze ja auch kein Honigbrot und John genießt das selige Nichtstun, insbesondere, da es nur noch wenige Meilen bis zur Stadt und damit bis zur Arbeit, sind.

Doch die mittägliche Ruhe währt nicht lange, denn urplötzlich kommen sechs maskierte Männer hinter einem kleineren Felsen hervor und schießen wie wild um sich. Man könnte den Eindruck gewinnen, Munition wäre kostenlos irgendwo zu bekommen.

Alle auf und in der Kutsche sind sofort hellwach. Die Kutscher zerren an den Zügeln. Die Pferde, erschreckt von dem plötzlichen Lärm scheuen kurz, bleiben dann aber gehorsam stehen.

Die Passagiere werden mit vorgehaltenen Waffen gezwungen auszusteigen, ihre Taschen zu öffnen und alle Wertsachen herauszurücken.

Der ältere Mann weigert sich beharrlich, den Banditen seine goldene Taschenuhr auszuhändigen. Hartnäckig umklammert er das gute Stück. Die Uhr sei graviert und ein Erinnerungsstück und er denke gar nicht daran, sie den Maskierten zu überlassen.

Diese Reaktion bringt die Bande natürlich zur Weißglut und sie werden dadurch noch viel gefährlicher und rücksichtsloser. Einer der Kerle reißt dem Reisenden den Kopf an den Haaren zurück und schlägt ihn mit voller Wucht gegen die Kutsche. Es gibt ein hässlich knackendes Geräusch und der gut gekleidete Herr verdreht die Augen, während er mit einem gurgelnden Laut in sich zusammensackt.

Die junge Frau bekommt bei diesem Anblick einen hysterischen Anfall und beginnt laut zu kreischen, worauf zwei der Banditen sich auf sie stürzen. John und einer der Kutscher wollen sich dazwischen werfen, werden aber sofort gnadenlos beschossen und stürzen schwer getroffen zu Boden.

Ganz in der Nähe hinter einer Felsengruppe steht ein junges Mädchen mit flammend roten, langen Haaren und tränkt sein Pferd aus einer Wasserflasche.

Schon als sie die ersten Schüsse vernommen hat, hat sie verwundert die Augenbrauen hochgezogen, so dass sie fast in dem dichten Pony verschwunden sind. Sie schaut sich suchend um. Die Luft flirrt, so dass der Horizont verschwimmt. Da sie nichts erkennen kann, schraubt sie die Wasserflasche zu und schwingt sich mit einem kühnen Sprung in den Sattel. Sie reißt ein Gewehr aus der Satteltasche und galoppiert in die Richtung los, aus der sie meint, die Schüsse gehört zu haben.

Als die nächsten Schüsse fallen, ist sie sicher, in die richtige Richtung zu reiten. Sie gibt ihrem Hengst die Sporen und der Gaul, ein ganz tiefschwarzes, temperamentvolles Tier, das in der Mittagssonne wie blauschwarze Tinte glänzt, schießt wie ein Pfeil davon.

Schon von weitem erfasst das Girl die Situation mit einem einzigen Blick. Die Männer haben sich schon wieder in ihre Sättel geschwungen und umkreisen noch, wie die Geier, die Kutsche.

Das Mädchen hebt das Gewehr und gibt einen Warnschuss ab. Dadurch fühlen sich die sechs Banditen gestört und sie verschwinden ebenso schnell in einer Staubwolke, wie sie erschienen sind. Im Davonreiten geben sie noch einige sinnlose Schüsse auf die Personen bei der Postkutsche, obwohl dort schon längst keine Bewegung mehr erkennbar ist und den nahenden Reiter ab.

Die Rothaarige kümmert sich nicht weiter um die Flüchtenden, denn gegen sechs bewaffnete, brutale Männer kann sie alleine ja doch nichts ausrichten und so reitet sie direkt zu der überfallenen Postkutsche hinüber, die sich entfernende Staubwolke immer im Blick, um notfalls sofort den Rückzug anzutreten, wenn es sich die Banditen anders überlegen und zurückkehren sollten.

Am Ort des Geschehens springt das Mädchen vom Pferd und geht auf den Kutschbock zu. Sie erschauert leicht, denn sie erkennt sofort, dass der am Boden im Staub liegende Kutscher tot ist. Mit einer leichten Handbewegung schließt sie ihm die angstvoll weit aufgerissenen Augen.

Der andere Kutscher sitzt vornübergebeugt auf dem Kutschbock und rührt sich nicht. Das Mädchen fühlt nach seinem Puls und schiebt vorsichtig ein Augenlid nach oben. An dem starren, gebrochenen Blick kann sie erkennen, dass sie auch diesem Mann nicht mehr helfen kann.

Die etwas zu spät erschienene Retterin würgt und wendet sich ab. Sie spürt ihren Mageninhalt gallig im Hals und würde am liebsten die Augen verschließen und Tatort Tatort sein lassen. Es scheint ihr, als käme auch für die Passagiere jede Hilfe zu spät, denn es ist weder eine Bewegung noch ein Laut, auch kein noch so leises Röcheln oder Stöhnen zu vernehmen.

Die junge Frau liegt mit dem Kopf in einer großen Blutlache, ein hässliches Loch klafft wenige Millimeter neben ihrem rechten Auge. Das rothaarige Mädchen bemüht sich, nicht genauer hinzusehen, denn viel Kopf ist hinter dem Gesicht nicht mehr vorhanden.

Der ältere Herr ist ebenfalls tot. Ein glatter, sauberer Einschuss direkt ins Herz, allerdings ohne nennenswerte Blutung, wahrscheinlich ist die Kugel am Rücken wieder ausgetreten. Wenigstens hat er nicht mehr viel gespürt. Dann schaut das Mädchen genauer hin und erkennt, dass dem Mann auch der Schädel gebrochen worden ist. Einfach scheußlich, aus den Haaren ist Blut und Knochenmasse ausgetreten. Das Girl muss husten, um sich nicht sofort zu übergeben, nur gut, dass sie heute noch nicht viel gegessen hat.

Resignierend hockt sich das junge Mädchen neben den blonden Cowboy. Sie kämpft eine gewaltige Schlacht gegen ihren Mageninhalt, schluckt und wischt sich mit nicht ganz sauberen Fingern ein paar Tränen aus dem Gesicht. ,So ein Mist, dem werde ich wohl auch nicht mehr helfen können. Diese Scheißkerle haben wirklich ganze Arbeit geleistet. So ein hübscher Bengel, wirklich schade drum.‘

Die junge Frau sucht nach seinem Puls und ertastet ihn auf Anhieb. Ihr stehen alle Haare zu Berge und sie verflucht ihre Übelkeit, die sie gedanklich sofort zu bekämpfen versucht. Eigentlich hat sie doch schon ganz andere Sachen gesehen und erlebt, die waren zum Teil noch viel scheußlicher, als ein verletzter Mann und die Toten, die allen Hässlichkeiten dieser Erde, wenn auch frühzeitig und ungewollt, entronnen sind, also wird sie auch jetzt versuchen, einen kühlen Kopf zu bewahren.

,Lieber Gott, hoffentlich kann ich wenigstens diesem armen Teufel noch helfen, wäre schade um den Jungen, Himmel, hilf mir!‘ Mit diesem Gedanken zerrt die Frau den Verletzten in den Schatten, der nur in einem ganz schmalen Streifen von der Kutsche gespendet wird.

Nach dieser für das Mädchen absoluten Schwerstarbeit, hebt sie den hochroten Kopf, schnappt verzweifelt nach Luft und spürt ihren Herzschlag bis in die Ohren, in denen es rauscht und summt. Sie ruft laut: „Come on, Silky, come on, schnell!“

Der schwarze Hengst kommt sofort heran und bleibt dicht vor seiner Herrin und dem schwer verletzten Mann stehen.

Hastig und mit fliegenden Fingern zieht das Girl seine Schlafdecke von Silkys Rücken und schiebt sie unter den Kopf des jungen Mannes. Nun zieht sie ein Streichholz hervor, ein wertvoller Schatz, den sie wie ihren Augapfel hütet und schaut sich um. Rasch greift sie nach einigen dürren Ästen und Blättern und schiebt diese zu einem Häuflein zusammen, reißt das Streichholz mit dem Daumennagel an und entfacht flink und mit viel Geschicklichkeit ein kleines Feuer.

Plötzlich stutzt sie und beginnt fieberhaft zu überlegen, wobei sie die Stirn in Falten zieht, die Nase kraust und sich wieder suchend umsieht.

Während dieser Aktion hat sie kaum noch auf ihren hilflosen Patienten geachtet. Der Mann hat die Augen geöffnet und stöhnt leise.

Wie der Blitz ist sie bei ihm und kniet sich neben ihm nieder. Als er den Mund öffnet, um etwas zu fragen, legt sie ihm ihre schmale Hand auf die Lippen und sagt: „Sprechen Sie jetzt bitte nicht. Sie sind sehr schwer verletzt und es gibt keine Frage, die zu stellen es wert wäre, dass Sie sich unnötig anstrengen. Sie werden gleich noch alle Kraft brauchen, um mich gehörig zu verfluchen.“

Wieder blickt sich die Frau suchend um. „Ich brauche jetzt erst mal ein Messer. Bleiben Sie ganz ruhig liegen, sprechen Sie nicht und vor allen Dingen, bewegen Sie sich um des Himmels Willen nicht, es sei denn, Sie haben den unverständlichen Wunsch, nicht mehr weiterleben zu wollen. Ich habe keine Ahnung, wo die Kugel steckt und wohin sie sich begibt, wenn Sie sich rühren, ich habe schon genug Bewegung in Ihren Körper gebracht, als ich Sie aus der Sonne zerren wollte. Außerdem werden Sie sich früh genug wünschen, tot zu sein. Nämlich dann, wenn ich mit meiner unqualifizierten Behandlung beginne.“

Die junge Dame erhebt sich, schaut John an und murmelt: „Ich bin gleich wieder bei Ihnen. Es wird schon wieder werden.“ Sie versucht, Ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben.

Mitleidig blickt sie auf den Jungen hinunter. Sie ist längst nicht so optimistisch, wie sie tut, denn sie hat doch arge Zweifel hinsichtlich ihrer ärztlichen Fähigkeiten. Es ist schon ein himmelweiter Unterschied, sich einen Splitter aus dem Finger zu ziehen oder einen Gaul zu bandagieren, als einen Menschen, der eh mehr tot als lebendig ist, vor sich zu haben.

,Hilflos ausgeliefert, die arme Socke‘, denkt sie, dreht sich um und geht zu dem am Boden liegenden Kutscher, um bei ihm nach einem geeigneten, möglichst spitzen Messer zu suchen.

Wenn sich das Kind ehrliche Gedanken zugestehen würde, würde sie zugeben, dass sie gar nicht ganz genau weiß, was sie eigentlich unternehmen will. Sie hat zwar bei ähnlichen „Operationen“ schon zugesehen, aber zusehen oder selber machen, ist doch ein Riesenunterschied. Ihre Gefühle sind eigentlich sehr zwiespältiger Natur. Handeln oder Weglaufen, das ist hier die Frage. Weglaufen kommt ihr aber gar nicht erst in den Sinn, also bleibt nur noch zu handeln.

Das Mädchen hat Glück, obwohl sie persönlich arg im Zweifel ist, ob es nicht eher Pech ist, dass sie ein sehr scharfes, sehr spitzes Messer findet.

Wenig später kniet sie wieder neben dem Angeschossenen. Der Cowboy, der ihr im nun folgenden Geschehen vollkommen hilflos ausgeliefert sein wird, ist von den Schmerzen schon wieder ohnmächtig geworden. Das beherzte rothaarige Mädchen ist erleichtert, denn das vereinfacht die ihr bevorstehende, widerliche Aufgabe enorm.

Mit zitternden Händen öffnet das Girl das Hemd des Verletzten und schnappt nach Luft. In der Hitze riecht die Wunde gar nicht wie Parfum. Eingehend betrachtet sie den sauberen Einschuss. Da sie keine Austrittswunde entdecken kann, muss die blöde Kugel noch irgendwo stecken. Das Einschussloch befindet sich im Rippenbereich. Der Junge spuckt kein Blut, das ist wohl schon mal ein ganz gutes Zeichen. Irgendetwas von Lunge und schaumigem Blut schießt ihr durch das hübsche Köpfchen. Allerdings tritt noch immer frisches Blut aus der Wunde aus. Sie rümpft die Nase. Ist das nun gut? Nein, wahrscheinlich nicht. Aber was soll‘s.

Das Mädchen ballt ihre noch immer zitternden Hände zu Fäusten, atmet mehrmals tief ein und aus und ermahnt sich zur Ruhe. Schlimmstenfalls stirbt der Knabe und diesem Zustand ist er im Augenblick sowieso näher, als dem Leben. Und wenn er nicht stirbt, hat sie ein gutes Werk getan.

Die Möchtegernlebensretterin steht noch einmal müde auf, jeder einzelne Knochen in ihr fühlt sich bleischwer an, geht zu einem Gepäckstück neben der Kutsche, öffnet es entschlossen und zieht mit spitzen Fingern ein Herrenunterhemd und riesige weiße Taschentücher hervor. Eine feine Qualität. Dem Cowboy gehören die Sachen bestimmt nicht und den anderen Herren stört die Entnahme auch nicht mehr. Danach holt sie sich noch eine gefüllte Wasserflasche vom Kutschbock, bekämpft ihre erneut aufsteigende Übelkeit, schlägt zornig nach den ersten, schnell eingetroffenen Fliegen, schluckt dreimal heftig, wie um alle guten Geister zu beschwören und beginnt ihr schwieriges Werk.

Zunächst füttert sie noch einmal das Feuer mit dürren Ästen und trockenen Grasbüscheln, dann hält die junge Frau das Messer in die Flammen, bis es beginnt zu glühen und ihre Finger schon ganz heiß werden. Sie ignoriert den dabei aufkommenden Schmerz und fängt vorsichtig an, die Wunde auszuschälen.

Vor lauter Aufregung hat sie einen knallroten Kopf bekommen. Der Schweiß läuft ihr in Strömen den Körper hinab, ihr Hemd ist schon nach Sekunden klatschnass und klebt am Körper, sie merkt es nicht. Genauso feucht ist ihr dichter Pony, den sie immer öfter aus der Stirn pustet. Der Schweiß läuft ihr in die Augen und diese fangen dadurch an zu tränen. Der Geruch der Wunde raubt ihr fast die Sinne und sie befürchtet ohnmächtig zu werden und um dieses zu verhindern, gönnt sie sich keine Sekunde, keinen Atemzug Pause.

Mit einem Mal bemerkt sie, dass sie an etwas Hartes stößt. Es klingt aber nicht metallisch, sondern eher wie Holz. „Mist, jetzt habe ich an einer Rippe gekratzt.“ Sie hält kurz inne, atmet tief ein und ermahnt sich erneut zur Ruhe.

Endlich hält sie das Geschoss in der Hand. Mit einem fast erleichterten Aufatmen betrachtet sie es. Es wirkt kaum verformt. ‚Gut? Nicht gut? Ich habe keine Ahnung!‘ Schnell lässt sie die blutige Kugel in ihrer Westentasche verschwinden, ein Andenken an diesen grauenvollen Tag.

Nun wischt sie sich seufzend mit dem Handrücken über das Gesicht. Der junge Mann stöhnt leise. Mit blutigen Fingern greift sie nach dem geborgten Unterhemd und tupft vorsichtig um die Wunde herum. Danach reibt sie ihrem „Opfer“ sanft den Schweiß aus dem Gesicht und zu guter Letzt wischt sie sich an demselben Hemd auch noch das Blut von ihren Händen. Sie bemerkt nicht, dass sie sich bereits jede Menge Blut im Gesicht verteilt hat, welches von kleinen Schweißbächen durchzogen wird.

Als das junge Ding den Mann mehr oder auch eher weniger geschickt mit den Taschentüchern und in Streifen gerissenen Hemden verbunden hat, reibt sie ihm nochmals den Schweiß aus dem Gesicht und betrachtet ihn dabei eingehend. Irgendetwas geht von ihm aus, das ein unbestimmbares Gefühl in ihr hervorruft und sie an etwas längst Verschüttetes erinnert. Sie schüttelt unwillig den Kopf, wie um böse Gedankengeister zu vertreiben und schilt sich eine dumme Gans.

Der Knabe ist noch immer ohne Bewusstsein

, Auch gut‘, denkt die junge Dame und geht nochmals zur Kutsche hinüber, greift nach den Wasserflaschen der Kutscher und füllt ihre eigenen Flaschen bis an den Rand. Es ist zwar nicht mehr sehr weit bis zur Stadt, es können ihrer Einschätzung nach nur noch ein paar wenige Meilen sein, aber wenn man einen Verwundeten bei sich hat, ist es ein wesentlich besseres Gefühl, wenn man einen genügend großen Wasservorrat mit sich führt, denn dann kann es leicht sein, dass man für eine Meile Stunden benötigt.

Sie wirft einen erneuten Blick auf den Verwundeten, er hat zwischenzeitlich einmal furchtbar gestöhnt und geröchelt, verhält sich aber zum Glück jetzt wieder ruhig. Wahrscheinlich sind die Schmerzen tödlich groß, so groß, dass sie dem Jungen immer wieder das Bewusstsein rauben.

Das Girl greift wieder nach den Wasserflaschen der Kutscher, nimmt einen hellen Stetson von der Erde auf und gibt den Pferden Wasser. Danach nimmt sie sich noch die Zeit, sich um die Toten zu kümmern.

Unter Aufbietung ihrer gesamten Kraftreserven schleppt, zerrt und schleift sie die vier Leichen nebeneinander, dabei kämpft sie wieder mit ihrer aufsteigenden Übelkeit, die sie aber tapfer hinunterschluckt. Zu guter Letzt schichtet sie Kleider, Gepäckstücke und Steine über den Mordopfern auf, um zu verhindern, dass sich sofort Geier und andere Aasfresser über die Ermordeten hermachen, es sind schon genug Fliegen da.

Nun hat sie endlich erneut Gelegenheit, sich wieder um ihren Patienten wider Willen zu kümmern, der noch immer oder schon wieder bewusstlos ist. Er ist totenblass und in der jungen Frau keimt urplötzlich ein ganz grässlicher Verdacht auf.

Vorsichtig sucht sie nach seinem Puls, hoffend, dass ihre Behandlung nicht auch noch ihn getötet hat. Sie findet seinen Puls nicht auf Anhieb und so tastet sie mit wild pochendem Herzen nach seinem Hals.

Endlich spürt sie ein leises, ganz schwaches Pochen unter ihren nervösen Fingerspitzen und atmet erleichtert auf. Noch lebt er, aber wie lange noch. Sie fürchtet, dass der Weg in die nächste Ortschaft zu weit sein könnte.

Eine Weile betrachtet sie den Cowboy liebevoll. Er bringt irgendetwas in ihr zum Klingen, wenn sie nur wüsste, was das ist. „Ich werde mich doch jetzt nicht noch verknallt haben? Unsinn!“, sagt sie zu sich selbst und blickt weiter nachdenklich in das fremde und doch irgendwie eigentümlich bekannte Gesicht. Dann fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Junge erinnert sie ein wenig an ihren leider schon vor langer Zeit verstorbenen Vater. Er hat genauso blonde Haare, wie ihr Vater sie hatte. Und auch die ganze Mundpartie ist der ihres Vaters so ähnlich.

„So ein Quatsch!“, murmelt sie leise. Wahrscheinlich spielt ihr Gedächtnis ihr einen Streich und sie täuscht sich nur. Sie schüttelt den Gedanken ab und seufzt. Sie wünschte, ihr Vater wäre jetzt da und könnte ihr sagen, ob sie alles richtig gemacht hat. Ein sehnsuchtsvoller Schmerz will sich in ihrem Inneren breit machen, aber das darf sie nicht zulassen, denn dann wird sie schwach und kann ihrem Ziel nicht mehr richtig folgen. „Ich bin stark und kann alles erreichen, was ich will. Ich bin stark wie ein Löwe!“

Sie hofft, dass der Knabe endlich wieder zu Bewusstsein kommt, aber er macht keine Anstalten, sich zu rühren, nur seine Gesichtsfarbe wird immer grauer, was dem Mädchen gar nicht gefällt und sie mit Angst zu erfüllen beginnt. Sie kann die Warterei kaum noch ertragen. „Meine Güte, hat der eine Ausdauer!“, knurrt sie leise und ungeduldig und um die Zeit abzukürzen, gießt sie dem Mann vorsichtig etwas von dem leider lauwarmen Wasser ins Gesicht.

In der starken Hitze haben aber sogar die paar warmen Spritzer eine sehr belebende Wirkung und ganz langsam kommt John wieder zu sich.

Währenddessen gießt die junge Frau schnell ein wenig Wasser in die Reste des Feuers, um es zu löschen. Sie ist eine Naturpflanze und achtet darauf, nicht mehr Schaden anzurichten, als unbedingt notwendig und es muss nicht unbedingt sein, dass ein Tier in die Glut tritt und womöglich dadurch verendet.

Der Cowboy stöhnt leise und holt pfeifend und sehr vorsichtig Luft. Das Mädchen sieht, dass er nach Atem ringt und die Angst schnürt ihr fast die Kehle zu. Vorsichtig nimmt sie seinen Kopf ein wenig hoch und flößt ihm ein paar Tropfen Wasser ein, die er gierig trinkt. „Langsam, Mister. Ich habe gerade sehr unfachmännisch an Ihnen rumgeschnippelt und ich weiß nicht, ob Ihnen das Trinken überhaupt bekommt.“ Da der Junge ihr aber furchtbar leid tut, lässt sie ihn noch einige kleine Schlückchen nehmen.

„Glauben Sie, dass Sie schon reiten können, Mister?“

Er nickt noch immer etwas verwirrt, schüttelt unter leisem Stöhnen den Kopf von rechts kräftig nach links und versucht sich vorsichtig aufzurichten. Dabei durchzuckt ihn ein so heftiger Schmerz, dass er nach Atem ringt und droht, erneut ohnmächtig zu werden.

Die Rothaarige versucht, ihn auf die Beine zu stellen, doch der Junge ist ziemlich schwer und beileibe noch nicht kräftig genug, um alleine stehen zu bleiben. Er sackt sofort wieder in sich zusammen.

„Puh“, stöhnt das Girl, „so geht das auf gar keinen Fall. Aber irgendwie muss ich Sie hier wegbekommen.“

Nachdenklich blickt sie zu ihrem Pferd hinüber, dann ruft sie: „Silky, come on!“

Folgsam wie ein Lämmchen kommt der treue Hengst zu seiner geliebten Herrin. Sie streichelt ihm über die seidige Mähne: „Brav, Silky, brav. Du bist doch mein Bester. Es kommt jetzt wirklich alles auf Dich an. Bitte, bitte, enttäusche mich nicht, mein Liebling. Down, go down!“ Bei diesen Worten klopft sie ihm sanft auf die Vorderläufe und es ist wirklich kaum zu glauben, der Hengst geht brav in die Knie und legt sich fast hin, obwohl es ihm sichtlich höchst unangenehm ist.

Das Mädchen legt dem jungen Mann den Arm um die Hüfte, zieht seinen Arm um ihre Schulter und hilft ihm auf das Pferd. Helfen ist stark untertrieben, sie hievt ihn hinauf, wobei sie vor Anstrengung wieder einen hochroten Kopf bekommt und sie das Gefühl hat, als wollte er platzen. Es dauert eine geraume Zeit, bis sie den Verletzten endlich in ihrem Sattel hat.

„Mann, sind Sie aber ein schwerer Brocken. So geschwitzt habe ich mein Lebtag noch nicht.“ Sie stöhnt leise.

„Hoch Silky, auf! Brav, Du bist doch wirklich mein Bester. Was würde ich ohne Dich nur tun.“

Vorsichtig, als wüsste das gute Tier, auf was es ankommt, steht der Hengst wieder auf, froh, nicht mehr liegen zu müssen. Mit ihrem ganzen Gewicht stützt das Girl dabei den Verwundeten, damit er nicht schneller wieder auf dem Boden landet, als er auf dem Pferderücken drauf war.

Nun drückt sie dem Cowboy die Zügel in die Hand und hebt mahnend den Zeigefinger in die Höhe. „Fallen Sie mir jetzt bloß nicht runter, Jungchen. Ich bin froh, dass ich Sie oben habe. Ich glaube, noch einmal schaffe ich das nicht. Also, wenn was ist, brüllen Sie, aber bleiben Sie um Gottes Willen oben! Sie sehen aus, als wären Sie normalerweise in einem Sattel zuhause.“

Silky hat die Ohren angelegt, denn es ist nicht seine Herrin, die im Sattel auf seinem Rücken sitzt. Das ist eine Situation, die das Tier überhaupt nicht liebt und es spannt die Sehnen an, um den Ballast abzuschütteln. Das Mädchen kennt den Gaul, sie zupft sanft an seiner Mähne und liebkost dann seine Nüstern. Beruhigend redet sie auf das Tier ein und beschwört es ihren Anweisungen zu folgen. Silky entspannt sich und senkt den Kopf.

Schnell und mit geübten Handgriffen spannt das Mädchen die sechs Kutschpferde aus und bindet sie mit ihrem Lasso wieder zusammen. Sie wirft noch einen schnellen Blick auf die Feuerstatt, ob auch wirklich nichts mehr glimmt, dann schwingt sie sich behände auf eines der ungesattelten Kutschpferde, wickelt sich das Lasso um ihr Handgelenk, nachdem sie dieses notdürftig mit einem Stofffetzen gegen ein mögliches Aufscheuern geschützt hat und schaut sich nochmals prüfend um.

Sie scheint nichts Wichtiges vergessen zu haben. Die Leichen sind abgedeckt, die Kutschpferde werden in der Stadt versorgt und um das Gefährt und das Gepäck sollen sich andere kümmern.

Mit beiden Händen greift sie in die Mähne des Pferdes, auf welchem sie sitzt, hält sich fest und dirigiert die zusammengebundenen Tiere zu dem unglücklich auf ihrem schwarzen Hengst hockenden Mann hinüber.

Er hat ganz offensichtlich Mühe, sich im Sattel zu halten, aber darauf kann das Girl keine Rücksicht nehmen. Der Knabe muss auf allerschnellstem Wege zu einem richtigen Arzt, denn sie hat doch Angst, etwas verkehrt gemacht zu haben. Dann hätte sie womöglich an seinem Tod eine Mitschuld. Ein absolut grauenhafter Gedanke.

Laut ruft sie, ihre hässlichen Gedanken weit von sich weisend: „Auf geht‘s, halten Sie sich ja gut fest! Ich habe keinen Bock darauf, Ihnen noch eine Schleppbahre zu bauen.“

In mäßigem Schritt, mit Rücksicht auf den Verletzten, reiten sie los, in Richtung Stadt, in Richtung Ebony Town. Silky hat begriffen, dass er sehr behutsam die Hufe voreinander setzen muss und das Herz seiner Herrin ist voller Liebe zu ihrem besten Freund.

Es sind glücklicherweise nur noch wenige Meilen bis zu der Ortschaft, aber die beiden brauchen doch eine ganz erhebliche Zeit für den Weg. Das Mädchen kämpft mit den sechs Pferden, die leider nicht immer so wollen, wie die Reiterin und der Cowboy droht einige Male vom Pferd zu stürzen, wobei der Rothaarigen jedes Mal die Haare zu Berge stehen. Doch zu ihrer großen Erleichterung geht dann alles glatt, auch wenn die junge Dame ihre liebe Not hat, den Jungen halbwegs bei Bewusstsein zu halten. Er hat so starke Schmerzen, dass er immer wieder die Augen schließt und in einen Dämmerzustand hinüber zu gleiten droht. Er liegt vorn übergebeugt auf dem Hals ihres Pferdes und von Festhalten seinerseits kann nicht die Rede sein.

Die Sonne ist schon fast bis auf den Bergkamm im Westen gesunken, da sind endlich in der Ferne die ersten Häuser der Ansiedlung zu erkennen und das junge Ding atmet erleichtert auf. Das Schlimmste ist überstanden, der Knabe lebt noch und ist nicht zu Boden gekugelt, sogar ihr Hengst hat sich tapfer gehalten und doch steigt ein mulmiges Gefühl in der Retterin auf. Ihr steht noch eine bestimmt unangenehme Begegnung mit einem Gesetzeshüter bevor. Mit diesen Herren steht sie leider ein wenig auf Kriegsfuß, aber sie weiß, dass es ihre Pflicht ist, den Sheriff von dem Überfall zu unterrichten, damit die Suche nach den Tätern eingeleitet werden kann. Und wenn sie ein wenig Glück hat, hat Ebony Town einen halbwegs vernünftigen Sheriff, der über ihren Status als heimatlose Jugendliche gnädig hinwegsieht.

In dem Städtchen angekommen folgen dem Mädchen höchst erstaunte Blicke, aber daran ist sie längst gewöhnt und so lässt sie sich ruhig den Weg zum Doktor erklären. Wieder ist das Glück den beiden hold, denn sein Haus liegt in der Nähe des Ortsrandes an dem Weg, auf dem sie in die Stadt gekommen sind.

Das Girl springt vom Pferd, schaut zu dem Mann, der im Moment recht grade im Sattel hockt und saust wie ein Wirbelwind ins Haus. Ohne sich um wartende Patienten zu kümmern, stürmt sie ins Sprechzimmer und ruft: „Hallo, Doc, kommen Sie bitte schnell mit mir, ich habe draußen einen Schwerverletzten, der jeden Moment vom Pferd fällt.“

Ohne viel Aufhebens zu machen, folgt ihr der Doktor auf die Straße. Unter Mithilfe des Girls bringt er John in seine Praxis. Er bittet die im Sprechzimmer wartende Patientin, sich wieder für einen Moment ins Wartezimmer zu setzen, denn der junge Mann sei ein Notfall und es ginge um sein Leben.

Als die Frau mit erschrockenen Augen, aber einem erstaunten Blick auf die Fremde, das Behandlungszimmer verlassen hat und die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen ist, meint die Rothaarige mit einer Kopfbewegung in Richtung des Cowboys: „Ich habe schon ein wenig an ihm rumgeschnippelt.“

Verlegen dreht sie ihren Stetson in den Händen. „Ich hoffe nur, ich habe nicht allzu viel kaputt gemacht. Er hat irre viel Blut verloren, aber ich wusste nicht, was ich machen sollte. Die Kugel steckte irgendwo fest. Aber sie ist raus. Vielleicht hätte ich sie besser drin lassen sollen, aber ich hatte Angst, dass sie wandert und damit noch mehr Schaden anrichtet.“

Der Doktor hat indessen den Verband gelöst und John untersucht. „Das war das einzig Richtige, das Sie tun konnten, denn sonst würde der Mann jetzt wirklich nicht mehr leben. Die Kugel ist nämlich so unglücklich an einer Rippe abgeprallt, dass sie sich wahrscheinlich tatsächlich innerhalb ganz kurzer Zeit in sein Körperinneres weiter hineingezogen und dort noch sehr viel mehr Schaden angerichtet hätte. Mehr, als Sie mit dem Messer verursacht haben könnten.“

„Dann habe ich also nicht zu großen Flurschaden angerichtet?“

„Das kann ich momentan noch nicht beurteilen, sie haben dem Jungen auf alle Fälle das Leben gerettet. Vielleicht zugegebenermaßen nicht besonders fachmännisch, aber was tut das schon zur Sache. Wenn es anders wäre, bräuchte kein Arzt mehr jahrelang zu studieren. Für Ihre Fähigkeiten haben Sie absolut Großartiges geleistet.“

Dem Mädchen fällt ganz offensichtlich ein ganzes Gebirge vom Herzen und vor Glück und Erleichterung kommen ihr fast die Tränen. Der Mediziner, der dies aus den Augenwinkeln beobachtet, muss schmunzeln. ,Ein Prachtmädchen. Wer mag sie wohl sein und zu wem gehört sie. Ich habe sie noch nie hier gesehen. Sie ist ja noch ein Kind, vielleicht fünfzehn, höchstens sechzehn Jahre alt. ‘

Laut sagt er: „Sie haben übrigens Blackys Blut bis in ihre eigenen Haarwurzeln. Dort steht eine Schüssel mit Wasser, damit können Sie sich das Gesicht waschen.“

„Oh, danke Herr Doktor.“ Sie wäscht sich das Gesicht und während sie sich abtrocknet schaut sie in den Spiegel, beobachtet die sicheren Handgriffe des Arztes an seinem Patienten und fragt: „Sie kennen den Mann?“

„Selbstverständlich, Blacky ist Cowboy auf einer Ranch hier in der Nähe.“

Als das „Kind“ bemerkt, dass sie nicht mehr gebraucht wird, verabschiedet sie sich mit den Worten: „Ich glaube, ich gehe jetzt lieber, wenn ich Ihnen noch eine Weile zusehe, brauche ich auch eine ärztliche Behandlung, mir hebt sich nämlich schon wieder der Magen. Das macht der schon seit ich die Bekanntschaft mit diesem reizenden Herrn gemacht habe. Außerdem muss ich leider noch zum Sheriff. Good-bye, Doc.“

Bevor der Arzt noch irgendetwas erwidern oder fragen kann, ist sie schon zur Türe hinaus gewirbelt.

Er schüttelt den Kopf, ein ungewöhnliches Menschenkind.

Draußen bleibt das Mädchen kurz stehen und atmet ein paar Mal tief ein und aus. War das ein Abenteuer, so etwas erlebt man wahrlich nicht alle Tage.

Jetzt kümmert sie sich allerdings erst einmal um die Pferde, die von einer Horde Dorfkinder umringt sind. Mit diesen zusammen bringt sie die Kutschpferde in den benachbarten Mietstall, schwingt sich auf ihren eigenen Hengst und fragt sich zum Büro des Sheriffs durch.

Dort wickelt sie die Zügel um die Barre, nimmt die zwei Stufen zur Veranda mit einem einzigen Satz und betritt mit klopfendem Herzen, aber einem selbstbewusst lauten „Hallo, Sheriff“, das Office.

Der Sheriff ist ein sympathischer junger Mann namens Bill Fawkes, der große Augen macht ob des unmädchenhaften und doch weiblichen Besuchers.

Ohne eine Aufforderung abzuwarten, platziert sich das Girl, sehr zu seinem Missfallen, auf Fawkes Schreibtisch. Sie baumelt mit den langen Beinen und redet, ohne sich unterbrechen zu lassen, munter drauflos.

Zuerst runzelt der Schreibtischbesitzer noch etwas unwillig die Stirn, dieser Unwillen weicht aber rasch einem ungläubigen Staunen. Der Sheriff ist platt. So etwas hat er noch nie erlebt, er kann nur noch in grenzenlosem Erstaunen den Kopf schütteln, zuhören und tief durchatmen. Entweder hat die junge Dame eine überaus lebhafte Phantasie oder sie könnte die Heldin des Tages werden. Das mit der Phantasie revidiert Fawkes sofort, als ihm die Kugel mit den angetrockneten Blutresten unter die Nase gehalten wird.

Nachdem das Mädchen seine Geschichte beendet hat, möchte der Ordnungshüter den Namen der jungen Dame erfahren, doch sie meint auf diese Frage nur sehr gleichmütig. „Mein Name tut ja wohl nichts zur Sache, Sheriff. Wenn ich Ihnen den sage, haben Sie die Gangster noch lange nicht. Sehen Sie lieber zu, dass die Kerle schnell geschnappt werden, immerhin haben die vier Menschenleben auf dem Gewissen und beinahe wären es fünf gewesen, die sie eiskalt ermordet haben. Und die Sache mit dem fünften ist auch noch nicht ganz ausgestanden, leider.“ Sie holt tief Luft, sieht das Häufchen Elend vor sich und seufzt: „Der Doktor nannte ihn Blacky.“

Bill zuckt zusammen. Er ist seit vielen Jahren mit dem Cowboy befreundet und wenn das, was die Kleine ihm erzählt hat auch nur annähernd stimmt…

Die Mädchenstimme holt ihn in sein Büro zurück. „So, ich habe meine Meldung gemacht, das war meine Pflicht als guter amerikanischer Bürger und den Rest überlasse ich getrost Ihnen und den anderen US-Gesetzeshütern. Seien Sie wachsam und finden sie die Schweinehunde. Tja, ich weiß leider meiner Aussage nichts mehr hinzuzufügen, da die Männer maskiert und dann auch sehr rasch weg waren. Da war ich noch nicht nah genug, um viel erkennen zu können.“

Mit einem schwungvollen Satz hüpft sie vom Schreibtisch, grinst und sagt freundlich: „Bye Sheriff, hat mich echt gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich muss ehrlich sagen, ich habe selten so einen netten Sheriff wie Sie kennen gelernt. So on!“

Sie will den Überraschungsmoment nutzen und so rasch wie nur eben möglich verduften, bevor dem Sheriff womöglich doch noch auffällt, dass sie vielleicht noch recht jung ist, zu jung, um ohne Begleitung durch das Land zu ziehen.

Sie wendet sich zur Tür, öffnet sie und bleibt plötzlich stehen. Sie macht eine schnelle Kehrtwendung, tippt sich mit dem Zeigefinger an die Nasenspitze und sagt, den Sheriff nachdenklich ansehend: „Ich glaube, mir fällt da doch noch was ein. Es sind ja manchmal die Kleinigkeiten, die wichtig sein können. Mir ist aufgefallen, dass einer der Gangster ein absolut fantastisches Pferd hatte. Es war ein temperamentvoller Brauner mit sehr auffälligen Abzeichen. Eine wunderschöne T-förmige Blesse mit Milchmaul und das rechte Vorderbein sowie der linke Hinterlauf sind gestiefelt. Sieht absolut irre aus. Vielleicht kann Ihnen diese Angabe bei Ihrer Suche hilfreich und nützlich sein. Good-luck, Sheriff!“

Nun schließt sich die Türe endgültig hinter ihr.

Fawkes starrt ihr nach und überlegt, ob er einen Geist gesehen hat, aber die Kugel in seiner Hand und das wilde Hufklappern, das von draußen an sein Ohr dringt, sind äußerst real und Geister pflegen gewöhnlich nicht zu reiten. Eine Pferdeverrückte, die von den Banditen nichts erkannt hat, sich aber mit einem Blick das Aussehen der Pferde verinnerlicht hat. Wahrscheinlich sind ihr Tiere bessere Freunde, als Menschen.

Zwei Tage nach diesem Vorfall beobachtet David Widefield, der Vormann der Willow-Tree-Ranch, einen Reiter, der in einem wahren Höllentempo über die Nordweide der Ranch fegt. Das hat niemals etwas Gutes zu bedeuten, denn wer es so eilig hat, der hat was auf dem Kerbholz oder etwas zu verbergen.

Der Vormann, der einen Zaun auf der Weide kontrolliert hat und gerade im Begriff ist, zur Ranch zurückzukehren, setzt sofort hinter dem unbekannten Reiter her und brüllt: „Stopp!“, doch der Fremde galoppiert in unvermindertem Tempo weiter. Der Vormann glaubt zu Recht, einen Viehdieb vor sich zu haben oder noch schlimmer, einen der Postkutschenräuber. Er zieht seinen Colt und gibt einen Warnschuss in die Luft ab.

Erst jetzt reagiert der Reiter. Er zügelt sein Pferd und erhebt langsam die Hände, doch er macht keine Anstalten, sich umzuwenden.

David Widefield kommt heran geritten und pariert sein Pferd neben dem des Fremden. Dann fragt er in scharfem Ton: „Was wollen Sie hier? Und wer sind Sie überhaupt?“

Anstelle einer Antwort schiebt der Fremde nur den Stetson ins Genick, dabei fällt dem Vormann auf, dass die Hand sehr klein und zierlich ist. Endlich wendet der Unbekannte seinen Kopf und blickt den Cowboy mit unbewegtem Gesicht, aber aus eiskalten Augen finster an.

Der Mann wird blass vor Erstaunen. Das hübsche Kindergesicht wird von langen, feuerroten Haaren umrahmt, die unter dem herab rutschenden Stetson hervorquellen. Die großen Augen des Mädchens verschwinden fast in dem dichten Pony, doch der Zug um ihren Mund ist hart und verbittert.

Entsetzt stammelt der Mann, den sonst so leicht nichts aus der Ruhe zu bringen vermag: „Mein Gott, Sie, Sie sind ja gar kein Mann.“

Jetzt spielt ein spöttischer Zug um Ihre Lippen, denn die junge Dame ist sich sehr wohl bewusst, dass sie in der Männerkleidung und ohne Damensattel die Unschicklichkeit in Person ist. Es ist absolut unfein und es gehört sich für ein junges Mädchen einfach nicht, wie ein Mann zu reiten. Sie merkt, dass der Mann vor ihr genau mit diesem Gedanken beschäftigt ist. Eigentlich wäre jetzt eine flapsige Bemerkung fällig, aber im Angesicht der immer noch drohend auf sie gerichteten Waffe spart sie sich diese und begnügt sich damit, ihn weiterhin mit funkelnden, blitzenden Augen böse anzustarren.

Der Cowboy knurrt, um sein Erstaunen und seine Verlegenheit in den Hintergrund zu drängen, einen Ton schärfer, als er dies üblicherweise tut: „Wenn Sie mir schon nicht sagen wollen, wer Sie sind und was Sie hier wollen, so werden Sie vielleicht meinem Boss Rede und Antwort stehen, immerhin befinden Sie sich auf seinem Grund und Boden.

Aber zuerst muss ich Sie ersuchen, mir wenigstens Ihren Colt und Ihr Gewehr zu geben. Sie könnten sonst auf dumme Gedanken kommen.“

Mit wütendem Gesichtsausdruck zieht das Girl sein Gewehr aus seiner Halterung am Sattel und wirft es dem Cowboy zu. Der fängt es geschickt auf und sagt dann mit seiner wiedergefundenen Ruhe: „Und bitte auch alle anderen Waffen, wenn es möglich ist.“

Daraufhin zieht sie ein Messer unter ihrem Hemd hervor und gibt es dem mittlerweile ganz nahe herangekommenen Mann unter unverständlichem Gegrummel. Dieser ergreift es und zieht ihr mit der anderen Hand mit einer fast entschuldigenden Geste den Colt aus dem Patronengürtel.

Die ganze Zeit sind ihre Augen auf ihn gerichtet. Da ist kein Flattern der Augenlider oder ein Ausweichen des Blickes zu erkennen.

„Eine kleine Lady und dann bis an die Zähne bewaffnet“, knurrt der Mann und verstaut ihre Waffen. Sie zeigt keine Spur eines schlechten Gewissens.

Der Vormann ist es nicht gewohnt, dass auf seine Anweisungen keine Reaktion erfolgt. Er runzelt unwillig die Stirn, doch seitens der jungen Frau ist keinerlei Emotion zu bemerken. Widefield raunzt die Reiterin an: „Ich glaube, Sie haben nicht die geringste Absicht, mir eine meiner Fragen zu beantworten. Aber der Rancher, dem dieses Gebiet hier gehört, der wird Sie schon zum Reden bringen. Sie werden ja wohl wissen, dass Sie sich hier auf der Willow-Tree-Ranch befinden.“

Sie zieht nur die Augenbrauen hoch und macht ein Gesicht, als wolle sie sagen: ‚Pah, na und? Willow-Tree ist doch nicht der Mond, imponiert mir also gar nicht.’

Nun blickt er sie etwas spöttisch an: „Aber, vielleicht werden Sie auch mit Mister Carpenter nicht reden, ja vielleicht können Sie armes Ding gar nicht sprechen, möglicherweise sind Sie auf den Mund gefallen.“

Er blickt auf den Colt, den er ihr aus dem Holster gezogen hat. Eine schwere Waffe, aber eine sehr schöne Arbeit, mit einem Griff aus Perlmutt und den eingravierten, wunderschön geschwungenen Initialen C.B.

„Nun, jetzt weiß ich wenigstens, dass Ihr Vorname mit C und Ihr Nachname mit B beginnt, das heißt, natürlich nur, wenn das Ihre Waffe ist und Sie sie nicht irgendwo gemaust haben.“

„Sie sind doch ein...“, platzt das Girl heraus, doch sie fängt sich sofort wieder, beißt sich auf die Lippen und ihre großen Augen verengen sich zu kleinen Schlitzen.

„Na also, reden können Sie ja doch, nicht nur brummen, so etwas Ähnliches habe ich mir schon fast gedacht.“

,Diese Ironie, diese verdammte Ironie. Der Kerl bringt mich auf die Palme! Und ausgerechnet so ein Mistkerl sieht so unverschämt gut aus. Verdammt, zum Glück ist er viel zu alt.‘ Das Mädchen ist stinksauer, besonders da ihr der Mann wirklich gefällt. Groß, breite Schultern, schwarze Haare, markantes Gesicht, dunkle Augen, wie es aussieht eine tolle, muskulöse Figur, pfui Spinne aber auch!

Schweigend reiten sie zur Ranch. Die Pferde sind in einen gemächlichen Trott gefallen und die beiden Reiter treiben sie in der trockenen Hitze nicht unnötig an.

Der Vormann betrachtet das junge Ding neben sich genau. Sie ist sehr hübsch. Die Jeans, der Stetson, der Colt und eine Winchester passen eigentlich nicht zu ihrem schmalen, fein geschnittenen Gesicht mit den großen, klug blickenden Augen, die eine ungeheure Erfahrung ahnen lassen. Aber gerade dieser unmögliche Aufzug verleiht dem Kind etwas geheimnisvolles, irgendwie anziehendes, ganz so, als hätte sie ein großes, schlimmes Geheimnis zu verbergen.

Ihre Haare haben eine wundervolle rote Farbe, die in der Sonne glänzt, als wäre die Frisur mit flüssigem Gold überzogen. Der Mann kann nicht ahnen, wie viel Kummer in diesen roten Haaren steckt. Rotfuchs, Hexe und andere nicht gerade liebevolle Schmeicheleien haben ihre Spielkameraden ihr oft nachgerufen. Sogar eine Hexenverbrennung hatten die Kinder einmal an ihr ausprobieren wollen.

Anerkennend muss der Cowboy feststellen, dass das Mädchen großartig reitet, sie verschmilzt mit ihrem Pferd nahezu zu einer Einheit, bei einem Mann würde man sagen, ein Naturbursche, aber weibliche Wesen sind dafür wirklich nicht geschaffen.

Ihrem Gesicht ist anzusehen, dass sie sich weder auf das Pferd noch auf die Umgebung konzentriert, sondern dass sie sehr intensiv nachdenkt. Der Cowboy ist auf der Hut, damit sie nicht auf die Idee kommt, plötzlich die Flucht zu ergreifen. Durch seine von seiner Mutter weitergegebene indianische Abstammung hat er einen sehr wachen Instinkt für menschliche Verhaltensweisen in Krisensituationen und er riecht förmlich, dass das Mädchen nur an eine baldige Flucht denkt.

Nachdenklich blickt er wieder auf die Haare des Mädchens und auf einmal fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Die rothaarige Unbekannte, die als Heldin durch Ebony Town geistert. Es kann da gar keinen Zweifel geben, so rote Haare kann es nicht zweimal kurz hintereinander bei verschiedenen Personen geben. Die Beschreibung passt genau. Das ihm das nicht direkt aufgefallen ist. David ist wie vom Blitz getroffen, aber er lässt sich seine Aufregung nicht anmerken. Das ist ja wirklich eine kleine Sensation.

Im Haus des reichen Ranchers James Carpenter stoßen die beiden als erstes auf dessen hübsche Enkelin Susan, die große Augen bekommt, denn sie ihrerseits erkennt sofort die roten Haare, die seit zwei Tagen in der ganzen Gegend das Gesprächsthema sind.

Der Vormann, der ein gradliniger, ernster Mann ohne Schnörkel ist, schüttelt fast unmerklich den Kopf und lässt ihr erst gar keine Zeit, irgendwelche Fragen zu stellen, sondern knurrt nur: „Ist Dein Großvater da?“

Susy nickt ganz erstaunt und weist auf die Bürotür.

Der Mann, den Susan noch niemals hat richtig lachen sehen, ist heute ganz besonders ernst. Er packt die Fremde hart am Arm und schubst sie grob zu Carpenter in dessen Büro.

Nun schüttelt Susan den Kopf. Wieso geht der Cowboy mit der Heldin so ruppig um, ob sie irgendetwas ausgefressen hat? Neugierig folgt sie den beiden.

Im Büro setzt der Cowboy unterdessen zu einer seiner knappen und sehr präzisen Erklärungen an, ohne viel Drumherum und ohne Schnickschnack. Das liegt dem Mann mit der indianischen Abstammung nicht, dazu ist er zu offen und zu ehrlich veranlagt.

Nun versucht der Rancher sein Glück. Er versucht aus der Fremden irgendeine Information herauszuholen, die bei einer Identifizierung weiterhelfen könnte, doch auch jetzt ist das Ergebnis gleich Null.

Das Mädchen bleibt stumm, wie ein Fisch im Wasser und steht reglos, wie eine Statue, im Raum.

Lediglich der eben noch so böse Gesichtsausdruck ist einer gleichgültig starren Maske ohne die geringste Regung gewichen. Jeder Pokerspieler würde blass vor Neid.

Carpenter ist ein kluger Mann mit sehr viel Lebenserfahrung. Er hat natürlich an den roten Haaren auch sofort erkannt, wen sein Vormann da in sein Büro geschleppt hat und ihm ist bewusst, dass sein Angestellter es auch weiß.

Das Mädchen birgt irgendein Geheimnis, welches sie schon dem Sheriff und dem Doktor vorenthalten hat und er will dieses ergründen, dazu behält auch er sich sein Wissen um ihre Heldentat erst einmal als As im Ärmel. Das Mädchen wirkt angespannt, aber auch müde, sehr überlegen und dennoch gleichzeitig schutzbedürftig. Vor allem aber braucht sie scheinbar eine Weile Ruhe, damit sie zu sich selbst finden kann. Vielleicht wäre sie dann auch eher bereit, zu reden. Möglicherweise ist sie vor irgendwem auf der Flucht und benötigt einen sicheren Platz als Versteck.

Carpenter blickt das Girl nachdenklich an. Sie ist wirklich noch unglaublich jung, dazu erscheint sie in einem Aufzug, der nun absolut nicht zu einer jungen Dame passt und zu allem Überfluss ist die Göre auch noch bis an die Zähne bewaffnet. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht und Carpenter will wissen, was das ist. Eine Schwerkriminelle kann sie nicht sein, denn dann hätte sie sicherlich auf das Leben des bei dem Postkutschenüberfall Verletzten gepfiffen und nur versucht, aus dem Gepäck der Reisenden noch irgendwelche Wertsachen zu entwenden, aber ein geordnetes Leben führt sie offenbar auch nicht gerade. Alles sehr mysteriös.

„Nun“, meint er vorsichtig, „Sie wollten zwar weder meinem Vormann noch mir sagen, wer Sie sind und was Sie hier wollen, aber dennoch möchte ich Sie bitten, ein paar Tage hier auf der Ranch zu bleiben und mein Gast zu sein. Ich sage ausdrücklich Gast, Sie sind keine Gefangene! Diesen kleinen Wunsch dürfen Sie mir nicht abschlagen. Susan würde sich bestimmt auch freuen, etwas weibliche Gesellschaft zu bekommen. Leider sind junge Damen hier nur etwas spärlich vorhanden und daher hat sie auch keine echte Freundin.“ Seine Stimme klingt sehr sanft, fast zärtlich und irgendwie scheinen seine Worte das Innerste des Mädchens zu berühren. So freundlich war eigentlich schon lange niemand mehr zu ihr.

Eigentlich eine nette Gegend, hübsche Cowboys, nette Gesetzeshüter, aber auch bescheuerte Rancharbeiter, ihr Blick huscht zum Vormann und streift ihn kurz, wie zufällig. Schade, hier kann man sich bestimmt wohlfühlen, aber sie ist auf einer Mission und von diesem Ziel darf sie sich nicht abbringen lassen.

Mit traurigen Augen und einer entschuldigenden Geste schüttelt sie den Kopf und macht einen Schritt in Richtung Tür.

„Dann befehle ich Ihnen hiermit, dass Sie hier bleiben!“

Der absolute Wandel im Tonfall seiner Stimme lässt die Rothaarige erschrocken zusammenzucken.

Sie bleibt stehen und es erscheint allen, als suche sie eine Deckung, um dann wie von einer Sehne gezogen los zu schnellen und zu fliehen. Der Vormann steht für diesen Fall sprungbereit ganz in ihrer Nähe.

Der Rancher macht ein unwilliges Gesicht und befiehlt seiner Enkeltochter, die im Türrahmen stehen geblieben ist: „Susan, bringe die junge Dame bitte ins Gästezimmer und sieh zu, dass sie dort bleibt!

Ach, und dann sage bitte noch Ines Bescheid, dass wir in den nächsten Tagen einen Gast haben werden und ein Gedeck mehr benötigen, damit sie nicht glaubt, wir hätten Geheimnisse vor ihr oder ich wäre im dritten Frühling.“

Susan prustet ob des dritten Frühlings, nickt und Carpenter winkt sie zu sich, um ihr noch eine kleine Anweisung ins Ohr zu flüstern: „Sage der jungen Dame nicht, dass wir über ihre Heldentat bei dem Postkutschenüberfall Bescheid wissen, dass behalten wir uns noch als Trumpf zurück.“

Laut sagt er: „Am besten Du schließt hinter ihr die Türe ab.“ Das war eine deutliche Gefangennahme, ganz gegen seine vorherige Aussage, sie sei ein Gast. Die grünen Augen blitzen zornig und wenn Blicke töten könnten, wäre das Büro mit Leichen bestückt.

Der unfreiwillige Gast wirkt, als wolle sie mit dem Fuß aufstampfen, dann aber schluckt sie nur, zuckt leicht mit den Schultern und folgt Miss Carpenter widerstrebend aus dem Zimmer.

In dem hübschen kleinen Raum, der dem Rancher als Gästezimmer dient, wirft sich das rothaarige kleine Ding auf das breite Bett und überlegt fieberhaft. Ihrer gekrausten Stirn ist anzusehen, dass sich ihre Gedanken förmlich überschlagen. Sie beknabbert ihre Lippen, rümpft die Nase und zwirbelt eine Haarsträhne um den Zeigefinger.

Susy steht ziemlich verloren und hilflos daneben.

Plötzlich springt die Fremde auf, packt Sue hart an den Oberarmen, blickt sie beschwörend an und schüttelt sie mit den Worten: „Du musst mir helfen!“

Doch so abrupt, wie dieses Aufflackern eines sich zur Wehr Setzens gekommen ist, so schnell ist das Aufbegehren auch schon wieder vorbei. Sie lockert ihren harten Griff und meint mit einer hilflos wegwerfenden Handbewegung: „Ach Unsinn, es hat ja doch alles keinen Zweck, Du bist ja die Enkelin Deines Großvaters und das scheint mir ein Mann zu sein, dem man unbedingt gehorchen muss.“

Susan setzt sich neben die Unbekannte, legt schwesterlich tröstend ihren Arm um das junge Ding und fragt mit leiser Stimme: „Wie soll ich Dir helfen? Was hat alles keinen Zweck? Du musst mir schon ein bisschen was erzählen, sonst kann ich Dir nicht zur Seite stehen. Denn ich kann ja nicht riechen, in welchen Schwierigkeiten Du steckst. Und Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin zwar die „Enkelin meines Großvaters“, aber deswegen heiße ich noch lange nicht alle seine Anweisungen gut. Im Übrigen ist mein Großvater der beste Mensch auf der Welt. Nach dem Tode meiner Eltern hat er meinen Bruder und mich bei sich aufgenommen und wir haben es sehr gut bei ihm gehabt. Er ist kein reicher Tyrann, wenn Du das meinst.“

Das rothaarige Mädchen schiebt den tröstenden Arm unwillig beiseite. „Ich kann Dir nichts erzählen, ich kann es einfach nicht. Du würdest das Ganze wahrscheinlich sowieso nicht begreifen oder mich für bescheuert halten, wie die meisten. Ich muss hier weg und das schnell, ganz, ganz schnell.“

„Hör mal, Mädchen, ich kann gar nichts für Dich tun, wenn ich keine Ahnung habe, um was es geht. Ich will gerne versuchen, Dir zu helfen, wenn ich bis jetzt auch noch keinen blassen Schimmer habe, wie ich das anstellen soll.“

Susan blickt die Fremde offen an. „Ich verspreche Dir auch, dass ich niemandem etwas verraten werde. Dafür musst Du mir aber so viel wie möglich erzählen. Warum willst oder besser gesagt, musst Du weg?“

Das rothaarige Wesen seufzt und schaut an Susans schönem Kleid herab, dann auf ihre eigenen, sehr abgelatschten und staubigen Stiefel. „Na gut, ich habe eben sowieso schon viel zu viel geredet und Du lässt ja doch nicht locker.

Ich kann Dir nicht alles erzählen, aber wenigstens ein ganz klein wenig, das, was mir nicht schaden kann.“

Sie stockt, verzieht den Mund und holt tief Luft. „Du wirst es ganz sicher nicht verstehen, aber versuchen wir es einfach mal.“

Das Kind macht erneut eine Pause, blickt auf ihre Hände, hart und schwielig mit kurzen ungepflegten Fingernägeln, schaut dann in Susy‘s gespanntes Gesicht, muss wider Willen lächeln und beginnt: „Als erstes will ich Dir meinen Vornamen nennen, damit kann keiner viel anfangen, es erleichtert aber die Konversation. Ich heiße Carol. Mein Nachname geht Dich nichts an und braucht und darf Dich auch nicht interessieren. Das ist einfach zu meinem Schutz, okay?“

Susan nickt und fragt sich, ob die Fremde wohl etwas auf dem Kerbholz haben könnte und was das wohl sein mag. Carol fährt fort: „Weg will ich, weil ich weiter nach meinem Bruder John suchen muss. Er ist der einzige Mensch, den ich nach dem Tod meiner Eltern noch habe, und nicht mal ihn habe ich richtig. Ich kenne ihn nicht, ich weiß nicht, wo er sich aufhält oder ob er überhaupt noch lebt. Du wirst es nicht glauben, ich weiß nicht einmal, wie er aussieht. Er ist von zu Hause weggegangen.“ Wieder macht sie eine Pause und schluckt krampfhaft die plötzlich aufsteigenden Tränen herunter.

„Weg muss ich, weil Dein Großvater nach meinem Vorleben fahnden wird und das wäre ausgesprochen schlecht für mich, denn er ist sicher ein sehr einflussreicher Mann, nicht nur hier in dieser Stadt, wahrscheinlich in ganz Wyoming. Er würde es mit Leichtigkeit schaffen, mich in einem Heim unterzubringen.“

Carol schüttelt sich. „Ich bin ja Vollwaise und mit fünfzehn Jahren drohen einem „ungefestigten jungen Menschen“ leider immer noch die gemütlichen Einrichtungen der Erziehungsanstalten.“ Sie rümpft die Nase. „Und ob ich genügend erzogen wurde, um einen gefestigten Charakter zu haben, das wage ich doch sehr zu bezweifeln.“ Unsicher blickt Carol Susan an, zuckt wieder die Schultern und redet leise weiter.

„Deshalb also ziehe ich wie ein Vagabund durch die Gegend, immer auf der Suche nach meinem Bruder, von dem ich nicht weiß, wie er aussieht oder ob er seinen Namen geändert hat und versuche, mit allen Mitteln, irgendwelchen Heimen aus dem Weg zu gehen. Bei meiner Daseinsführung und all dem Mist, den ich in den letzten Jahren gebaut habe, käme für mich wahrscheinlich sowieso nur noch eine Korrekturanstalt in Frage. Und die kenne ich, denn einmal hatten die mich schon erwischt, da war ich auch viel zu vertrauensselig. Ich kann Dir flüstern, so eine Anstalt ist alles andere, als ein Erholungsurlaub mit Honigschlecken und so. Da gehe ich im Leben nicht wieder hin. Eher nehme ich meinen Colt“, sie ballt die rechte Hand zur Faust, streckt den Zeigefinger raus und hält ihn sich an die Schläfe. „Und bumm!“

Susan zuckt zusammen und erbleicht. „Oh nein, Carol, das würde mein Großvater niemals übers Herz bringen, jemanden in eine Erziehungsanstalt zu bringen. Und an Selbstmord darfst Du in Deinem Alter noch gar nicht denken.“

Carol presst die Lippen aufeinander, dann lächelt sie schwach und seufzt: „Mann, Mädchen, Du bist ein ahnungsloser Engel. Du hast aber auch nicht den blassesten Schimmer, wie hart die Wirklichkeit und das Leben sein können. Die Welt da draußen ist grausam. Auch wenn Du keine Freundin hast und Dir hier manchmal einsam vorkommst, Du lebst in Deinem Paradies. Ich hingegen tauge für die meisten Menschen nicht viel und für die anderen tauge ich erst gar nichts. Was glaubst Du, wie oft ich das zu spüren bekomme. Gerade eben erst wieder durch Euren Vormann. Die allermeisten Leute glauben doch sogar, sie täten einem einen unheimlich großen Gefallen mit einer Heimunterbringung. Die Geborgenheit und Sicherheit, fast wie in einem Elternhaus. Ein Dach über dem Kopf, eine stinkende Matratze, jeden Tag Anstaltsfraß, Klamotten, die jedem Zuchthäusler gut zu Gesicht stehen. Das ich nicht lache!

Und Du kannst es mir glauben, Dein Großvater ist da keine Ausnahme. Er würde genauso handeln, frei nach der Devise: Da habe ich einem jungen Menschen etwas richtig Gutes getan.“

Carols Stimme hat einen bitteren Tonfall angenommen. „Du hast wirklich keine Ahnung, wie schwer es manchmal sein kann, wenn man sich durch das Leben boxen muss. Was glaubst Du, was man manchmal alles anstellen muss, um sich über die Runden zu bringen, um zu überleben und um einfach nur die nackte Existenz, das Leben zu behalten. Wenn Du nicht weißt, wo Du abends schlafen kannst, das ist schlimm genug, aber wenn Du nicht weißt, wann und ob Du irgendwo etwas Essbares auftreiben kannst, das ist der nackte Wahnsinn, das ist die Oberhärte sage ich Dir, vor allen Dingen, wenn Du zunächst Deinen wertvollsten Besitz füttern musst. Bevor ich was esse, muss erst mein Gaul satt sein. Aber das alles ist noch hundertmal besser, als die Tortur in einer Besserungsanstalt.“

Das Mädchen stockt, dann sagt sie mit harter Stimme: „Manchmal wundere ich mich, dass noch keine Steckbriefe mit meinem Konterfei an den Hauswänden kleben. Als Junge hat man es leichter, aber als Mädchen bist Du ein Niemand. Dir wird es nicht zugestanden, Dein Leben zu leben, wie du es für richtig hältst.“ Sie schluckt bitter.

„Siehst Du Susan, das sind einfach alles Sachen, die kannst Du Dir nicht mal mit sehr viel Phantasie vorstellen. Deine heile Welt hat bestimmt auch ein paar Macken, aber sie verläuft in geregelten Bahnen. Du hast auch Deine Eltern verloren, das ist hart, aber Du bist trotzdem geliebt und umsorgt worden. Mich hingegen liebt keiner.

Und noch eines habe ich lernen müssen, in den letzten zwei Jahren: Traue niemandem, besonders nicht dem mit dem freundlichsten Lächeln. Ich sage Dir, dieses irdische Leben ist mit Sicherheit eines der schwersten.“

Das Gesicht des Mädchens mit den roten Haaren hat im Verlauf der Rede einen zur Stimme passenden, harten Ausdruck angenommen, nun aber lächelt sie wieder bitter und senkt den Blick zur Erde. Dann aber schaut sie Susan treuherzig in die Augen: „Aber glaube jetzt ja nicht, dass ich auch nur einen einzigen Tag von dieser Zeit hergeben möchte. Ich habe sehr viel gelernt, mehr und wichtigere Dinge, als mir die beste Schule jemals hätte beibringen können. Ich habe gelernt, zu überleben.

Aber trotzdem, ich verabscheue die Menschen, die ein solches Leben so lieben, dass sie es gegen kein anderes eintauschen möchten.“

Carol schnaubt. „Gut, ich will ehrlich sein, ich habe es satt, nicht zu wissen, wohin ich gehöre, aber ich weiß es jetzt schon genau: Meine Vergangenheit werde ich niemals loswerden, sie wird mich begleiten, wie eine unheilbare Krankheit, man kann vor seiner Vergangenheit nicht einfach so davonlaufen. Ich werde für die Leute immer nur der Taugenichts und Tagedieb sein, der ich in den letzten Jahren war. Das ist leider so: Wenn Du einen schlechten Ruf hast, kannst Du machen, was Du willst, Du wirst ihn einfach nicht wieder los. Und Dein Großvater ist ja nun auch kein mildtätiger Heiliger, er wird genauso über mich denken. Ich spüre förmlich, wie die zwei Männer unten über mich reden. Wer oder was bin ich denn schon? Ein ziemlich verrücktes Ding, das immerzu mal irgendwo auftaucht und wieder verschwindet, ohne sich nutzbringend betätigt zu haben. Eine Streunerin eben. Ich bin in Eure Idylle hereingeschneit, wie ein Unwetter und ich werde, vorausgesetzt alles geht gut, wieder abziehen, eben auch wie eine Schlechtwetterfront.“

Sie macht eine Pause, holt dann tief Luft und schaut die immer noch schweigende Enkelin des Ranchers fest an. „Ich will nur noch meinen Bruder finden, dann werde ich mir ein Zuhause suchen, irgendwo, wo mich niemand kennt, wo niemand in meiner Vergangenheit nachkramt. Vielleicht gehe ich nach Kanada, das ist schön weit weg. Oder ich schließe mich einer Wildwestshow an. Dann bleibt mein Leben zwar unstet, aber möglicherweise komme ich ja mit einem anderen Leben auch gar nicht mehr klar. In so einer Show kann man gar nicht verrückt genug sein. Die suchen immer Leute, die gut schießen und ganz passabel reiten können.“

Das hübsche rothaarige Girl steht auf, nimmt seinen Stetson und lächelt: „Schade, dass ich meine Waffen hier lassen muss. Na ja, werde ich mir halt neue besorgen müssen. So, Mädchen, grüß Deinen Großvater, sage ihm, es täte mir leid, seine überaus freundliche Einladung ausschlagen zu müssen, aber ich hätte gute Gründe für meine Unhöflichkeit. Dem Mufflon von Vormann darfst Du in meinem Namen gegen sein Schienbein treten. Und nun tu mir bloß einen einzigen Gefallen, halt den hübschen Mund und fang nicht gleich an zu plärren, wenn ich zu Tür raus bin. Du hast versprochen, mir zu helfen. Mehr, als den Schnabel zu halten, brauchst Du nicht zu tun.“

Carol dreht sich um und ist mit ein paar raschen Schritten bei der Tür.

Susan ist nach dieser Beichte nicht wenig erschüttert. Sie hat den ehrlichen Wunsch, dem Kind zu helfen. Schließlich kann jemand, der einem fremden Menschen das Leben rettet, so übel nicht sein.

„Warte, Carol, ich möchte gern einer der wenigen Menschen sein, die Dir helfen. Ich bin gleich wieder zurück, aber Du musst auch wirklich hier bleiben. Außerdem wirst Du doch nicht so naiv sein, zu glauben, Du kämest hier bei helllichtem Tage ungeschoren raus. Draußen sind mindestens fünf Cowboys, die Dich sofort aufhalten würden und Dein ganz spezieller Freund hätte sicher nichts dagegen, höchstpersönlich den Schlüssel hinter Dir rumzudrehen.“

„Um ihn dann ganz weit wegzuwerfen. Verdammt, das habe ich total vergessen.“ Carol lässt sich zurück auf das Bett fallen, zieht die Stirn in nachdenkliche Dackelfalten und schaut Susan hinterher, die das Zimmer verlässt.

Als sich die Tür geschlossen hat, ohne dass der Schlüssel sich im Schloss gedreht hat, was Carol immerhin als einen kleinen Vertrauensbeweis wertet, erhebt sie sich und wandert nachdenklich durch den Raum. Dabei betrachtet sie die unzähligen an den Wänden aufgehangenen Zeichnungen und bestaunt die Fotos.

Eigentlich sehen Menschen darauf immer ziemlich blöd aus, so steif und unnatürlich. Immer diese neumodischen Spielereien. Sie ahmt eine der Posen nach und wäre sie nicht in ihrer derzeitigen Situation, würde sie sich kringeln vor Lachen.

Entgegen ihrem Versprechen steht Susan nun doch vor ihrem Großvater und erzählt in Kurzfassung die Geschichte der Fremden. Mit einem Seitenblick auf den Vormann kann sie sich die Bemerkung nicht verkneifen: „Unseren Vormann hat sie übrigens ganz besonders ins Herz geschlossen. Das Mufflon würde sie am liebsten zum Frühstück verspeisen. Ich soll Dir in Ihrem Namen kräftig gegen Dein Schienbein treten.“

Allgemeines Gelächter quittiert diesen Ausspruch und gerade, als Carpenter zu seinem Vormann sagt: „Ich habe doch gleich gerochen, dass mit der irgendetwas nicht so ist, wie es bei einem jungen Mädchen der Fall sein sollte“, ertönt aus der oberen Etage ein Aufschrei.

Erschrocken zucken die drei Personen zusammen, dann ist von der Treppe her ein lautes Poltern zu vernehmen und gleich darauf stürzt die Fremde ins Zimmer. „Also doch, ich habe doch geahnt, dass Du nicht dichthalten kannst, ich war eine dumme Gans, dass ich Dir so viel von mir erzählt habe. Aber das ist jetzt erst mal Nebensache!“

Widefield entdeckt als erster das Bild in ihrer Hand. Als er es betrachten will, macht sie eine abwehrende Handbewegung und reicht dem Rancher das Blatt. „Sir, darf ich fragen, woher Sie diese Zeichnung haben?“

„Oh je“, meint dieser, nachdem er einen Blick darauf geworfen hat. „Davon hängen Dutzende oben im Gästezimmer. Aber von wem die im Einzelnen sind, das kann ich Ihnen nicht sagen. Es wird von einem Gast oder einem unserer Cowboys sein.“

Das Girl zieht aus der Innentasche ihrer Weste ein Foto, das schon so zerknittert und vergilbt ist, dass kaum noch etwas klar zu erkennen ist. Aber wenn man es genauer betrachtet, erkennt man, dass es sich auf beiden Blättern um das Abbild des gleichen Gebäudes handelt. Sogar die Blumen und die Bäume sind an der gleichen Stelle.

„Wie, was, das verstehe ich aber nicht“, stammelt Susan erstaunt.

„Wieso wie? Was gibt es denn da nicht zu verstehen?“ Carol ist ungeduldig herumgefahren. „Ist doch ganz einfach, aber für die, die es noch nicht so ganz kapiert haben im Klartext: Ich kenne das Gebäude nur zu gut. Es handelt sich bei der Zeichnung höchstwahrscheinlich um die Abbildung der Farm meiner Eltern. Deshalb ist es für mich so ungeheuer wichtig zu erfahren, woher Sie diese Zeichnung haben und wer sie angefertigt hat.“ Unruhig scharrt sie mit den Füßen auf dem Teppich.

Der Vormann ist einen Schritt auf seinen Boss zugegangen und reckt den Hals, um einen neugierigen Blick auf die Zeichnung zu werfen. Als er erkennt, welches Haus das Mädchen so sehr in Unruhe versetzt, packt ihn eine ungeahnte Aufregung. Es passt plötzlich so vieles zusammen, wie bei einem Puzzlespiel, die roten Haare, der Vorname Carol, die Initialen C.B. auf dem Colt, die recht gebildete Art zu reden, alles greift ineinander.

„Das ist doch..., Sie, Sie sind doch nicht etwa..., heißen Sie etwa mit Nachnamen..., mit, mit, ich meine mit vollem Namen, heißen Sie vielleicht Carol…“, nachdem er sich anfangs, sehr zur Verwunderung Susans und zum Amüsements des Ranchers, noch ein wenig verhaspelt hat vor Erregung, macht er nun eine Kunstpause, „. . . Carol Blake?“

Mit großen, erstaunten Augen und offenem Mund starrt Carol den Mann entsetzt an. Sie schluckt. Sollte dieses Ekelpaket etwa...? Nein, unmöglich, John war blond und hatte wundervolle blaue Augen, wenn sich ihre Erinnerung nicht täuscht, aber... „Sie, Sie kennen doch nicht etwa meinen Bruder John? Das wäre der absolute Hammer des heutigen Tages, ehrlich!“

„Aber sicher kenne ich Ihren Bruder, er ist mein bester Freund, da werde ich ihn doch wohl kennen, oder? Er wohnt drüben in der Cowboy-Unterkunft.“

Der sonst immer so kalte und abweisend wirkende Mann schüttelt ungläubig den Kopf. „Blacky’s kleine Schwester, das darf doch wohl nicht wahr sein. Er hat nie erzählt, dass in seiner Familie solche Feger existieren. Er hat nur immer von einem ganz entzückenden, süßen Baby auf tapsigen Beinen gesprochen.“

Carol überhört diese Bemerkung gnädig und schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn, dabei stöhnt sie: „Ich bin doch ein Riesenross, das größte Kamel, das in den ganzen Vereinigten Staaten rumläuft. Da bin ich meinem Ziel so unglaublich nahe und vergesse ausgerechnet hier nach John zu fragen. Da hege ich dummes Luder doch glatt die Absicht abzuhauen und woanders die Suche nach dem Kerl fortzusetzen. So was Dämliches wie mich gibt‘s aber auch wirklich nur einmal.“

Sie taumelt und hält sich an Carpenters Schreibtisch fest. „Und Sie sind sicher sein bester Freund? Oh Mann, das hält mein armer Kopf nicht aus.“

Das Mädchen ist ganz blass geworden, schüttelt immer wieder den Kopf und man sieht nicht, ob sie sich freut, oder ob sie etwas erschrocken und ungläubig vor dem Augenblick steht, den sie so oft und lange herbeigesehnt hat.

Ihr eben noch so überlegener Gesichtsausdruck zeigt eine Fassungslosigkeit, die ihr noch vor einer halben Stunde keiner der Anwesenden je zugetraut hätte. Es scheint fast so, als wäre jede Selbstsicherheit gewichen und sie steht vor dem Rancher wie das, was sie ist: Ein verunsichertes kleines Mädchen.

Der Rancher strahlt. „Na also, dann ist ja jetzt alles in bester Ordnung. Aber sagen Sie mal, was werden Sie denn nun machen, nachdem Sie ihr Ziel schneller und überraschender erreicht haben als gedacht? Haben Sie irgendwelche Pläne für ihre Zukunft?“

Völlig undamenhaft kratzt sich Carol am Kopf. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, ich weiß es wirklich nicht. Ich habe mir so oft versucht vorzustellen, wie das wohl sein wird, wenn ich meinen Bruder tatsächlich finden sollte, aber so recht daran geglaubt habe ich sicher schon seit einem Jahr nicht mehr. Das Land ist einfach wahnsinnig groß. Die Menschen werden schon recht haben, wenn sie von mir behaupten, dass ich nichts tauge und zu nichts Rechtem nütze bin.“

Carol zuckt resignierend die Schultern. „Ich glaube, ich habe mich an das Vagabundieren schon so gewöhnt, dass ich es brauche, wie andere Menschen die heimelige Umgebung ihres Wohnraums. Ich habe vor einiger Zeit Bill Cody kennen gelernt, der hat mir angeboten, in seiner Wildwestshow mitzuarbeiten. Das habe ich damals abgelehnt, weil er sich mit seiner Truppe nach Europa einschiffen wollte. Die Shows müssen da unheimlichen Zulauf haben, aber damals waren meine Ziele noch anderer Natur. Jetzt habe ich plötzlich gefunden, was ich suchte und kann nun weitersehen und zu anderen Ufern aufbrechen. Es gibt im Osten eine ganze Reihe dieser Shows.

Ich denke mal, das wäre nicht das Schlechteste für mich. Man bekommt etwas von der Welt zu sehen. Wer kriegt sonst schon die Chance nach Europa zu reisen.“ Sie lächelt schwach. So ganz überzeugt scheint sie von ihren eigenen Plänen nicht zu sein. Das kommt alles viel zu überraschend und plötzlich, wie ein Orkan.

„Aber erst mal habe ich mit meinem Bruder noch ein Hühnchen zu rupfen.“ Das Mädchen seufzt. „Ich bin unglaublich unschlüssig. Ich könnte auch hier in Ebony Town versuchen, irgendeine Arbeit zu finden. Ich kann zwar nichts, denn ich habe nicht das Geringste gelernt, außer zu überleben, aber ich bin bereit, jede Arbeit anzunehmen und zu versuchen, mein Bestes zu geben. Hier kennt niemand meine dumme Vorgeschichte, ich bin seit längerer Zeit nicht mehr unangenehm in Erscheinung getreten und wenn ich mir ganz viel Mühe gebe, mal einen guten Eindruck zu hinterlassen, vielleicht findet sich jemand, der es mit mir versucht.“ Sie lacht freudlos und ohne Humor, dann holt sie tief Luft. „Ich habe in der Stadt einen Saloon gesehen, zur Not findet sich dort irgendetwas zu tun.“ Sie schüttelt sich ein wenig unwillig. „Vielleicht in der Küche oder so.“

Leicht angewidert beißt sie sich auf die Lippen, dann grinst sie: „Vielleicht braucht auch ein Rancher einen weiblichen Cowboy, kann manchmal von Nutzen sein. Na, und wenn ich nichts finde, werde ich weiterziehen und mir anderswo etwas suchen, vielleicht in Kanada. Im Streunen habe ich ja mehr als genug Übung. Nur keinem Ungemach aus dem Wege gehen. Ist schon lange meine Devise.“

„Oder Du sammelst Angeschossene ein.“ Susan kann dieses Wissen nun doch nicht länger für sich behalten.

Unwillig runzelt die fremde, junge Frau die Stirn. „Hat sich das schon bis hier rumgesprochen? Das war doch gar nichts. Ich konnte das Kerlchen doch nicht in der Hitze liegen und seinem Schicksal überlassen. Dann wäre ich keinen Cent besser, wie die Banditen, die das Blutbad angerichtet hatten.“

Carpenter nickt und schmunzelt sie freundlich an. Das Kind gefällt ihm. Sie ist nicht auf den Mund gefallen, fürchtet offensichtlich weder Tod noch Teufel, höchstens Waisenhäuser, und sie hat es augenscheinlich verdient, endlich einen Platz zum Bleiben zu bekommen. „Tja, mein liebes Kind, hier ist nie viel los und weit weg von der Stadt sind wir auch nicht, daher sprechen sich Heldentaten im Allgemeinen recht schnell rum.“ Er lässt seine Katze noch immer nicht aus dem Sack, das wird eine Riesenüberraschung werden. Er freut sich wie ein kleines Kind auf eine Nascherei.

Stattdessen wendet er sich an seinen Vormann und fragt: „Na, wie sieht es aus, Widefield, haben wir vielleicht noch ein wenig Arbeit für einen weib..., äh, ich meine für einen guten Cowboy? Es wäre doch schade, wenn so eine nette junge Dame in einem Saloon verkommen müsste. Nicht auszudenken.“

„Arbeit? Mehr als genug, Sir. Und da Blacky sowieso eine ganze Weile ausfallen wird, kommt mir ein zusätzlicher Mann gerade recht. Außerdem fürchte ich, hätte der Knabe etwas dagegen, wenn wir seine kleine Schwester in einen Saloon vertreiben würden, das nähme der uns auf ewig übel!“

Carpenter nickt: „Da könnten Sie recht haben, Mann. Blake würde sich glatt im Saloon einquartieren und jedem Kerl auf die Pelle hüpfen, der seiner Schwester zu nahe käme. Und wir hätten auch nichts mehr von ihm. Prima, dann stellen Sie die junge Dame ein, aber überarbeiten darf sie sich nicht, vergessen Sie nie, dass sie ein Mädchen ist.“

Er wendet sich an Carol. „Sagen Sie mal, wie alt sind Sie eigentlich? Blake spricht immer nur von einem Baby.“

„Das sieht ihm ähnlich. Geht der denn nicht mit der Zeit? Ich bin fünfzehn, Sir, und damit von einem Baby doch schon ein wenig entfernt.“

Sie strahlt den Rancher an. „Und vielen, vielen Dank auch, Sir, dass Sie mir eine Chance geben wollen. Und wegen des Überarbeitens brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich werde mich schon nicht überarbeiten. Ich bin nämlich von Natur aus ziemlich faul veranlagt. Leider! Das ist also ein Punkt, über den Sie sich den Kopf nicht zerbrechen brauchen.“

Sie wendet sich an den Vormann. „Ich kann aber auch hart anpacken, ich bin zäher, als es vielleicht den Anschein hat. Also, keine Bange, ich werde mich bestimmt nicht auf meiner faulen Natur ausruhen.“

Sie blickt wieder dem Rancher in die Augen. „Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich freue und wie dankbar ich Ihnen bin. Das kann ich in meinem ganzen Leben nicht mehr gut machen. Ich werde mir alle Mühe geben, Sie niemals zu enttäuschen.“

Das Mädchen ist wie ausgetauscht, Vorhang zu, Vorhang auf, neuer Akt. Ihre Augen strahlen und eine kindliche Weichheit ist auf dem zarten Gesicht zu erkennen. Der strenge, etwas verbissene Zug um ihren schönen, geschwungenen Mund und der harte Blick aus ihren großen Augen sind gänzlich verschwunden und haben einer ungeahnten Weiblichkeit Platz gemacht.

Der Rancher ist über die so urplötzlich vollzogene Verwandlung nicht weniger erstaunt, als seine Enkelin und sein Vormann. Eine Welle der Sympathie für das Girl durchflutet sein Herz.

„Sie bekommen unser schönstes Zimmer, Miss Blake, den ‚Blauen Salon‘.“

„Aber Sir, das ist doch wirklich nicht notwendig“, blockt Carol sofort ein wenig erschrocken ab, „Ich kann genauso gut im Stall schlafen.“ Die lange Zeit ohne ein Dach über dem Kopf hat unübersehbar ihre Spuren hinterlassen.

„Warum wollen Sie denn nicht gleich in die Cowboy-Unterkunft einziehen?“, fragt Widefield mit einem ironischen Unterton. „Nichts da, Cowboy, Du schläfst im ,Blauen‘!“

Das Girl stutzt: „Ist das ein Befehl?“ und da er nickt, murmelt sie leise: „Na gut, Du bist der Boss!“

Unwillkürlich hatten sie sich geduzt und nun tritt ein ungeahnter Schalk in die Augen des Girls, die alte Selbstsicherheit ist wieder da und gewinnt langsam aber sicher die Oberhand zurück. „Okay Boss, aber dass Du es direkt weißt, ich mache ansonsten fast immer, was mir gerade in den Sinn kommt und was mir gefällt. Du kannst Dich also schon mal darauf einstellen, schließlich habe ich einen eigenen Kopf.“

Der Vormann nickt und grinst: „Noch dazu einen ausgesprochen hübschen.“

Das Girl verzieht das Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen oder in eine Zitrone gebissen und knurrt: „Affe!“

Gnädig überhört der Mann die ausgesprochen freundliche Anrede und meint: „Was hältst Du davon, wenn Du nun endlich Deinen Bruder kennen lernst? Du hast lange genug darauf gewartet und ich könnte mir vorstellen, dass Du darauf brennst, ihn nun auch zu sehen.“

Carol holt tief Luft: „Du meinst, damit ich ihm endlich eine kleben kann.“ Sie zuckt die schmalen Schultern: „Ich weiß nicht, ich glaube, ich fange an, mich vor diesem Augenblick zu fürchten. Möglicherweise ist er stinksauer, wenn ich plötzlich aufkreuze. Ich kann mir keine Reaktion ausmalen. Es kann doch sein, dass er mich nicht sehen will, schließlich hatte er mit seiner Familie nichts mehr im Sinn.“

Das Kind blickt sinnend in die Ferne, durch alle Mauern hindurch. „Ich habe nicht mal eine vage Vorstellung davon, wie er aussieht. Ich kann mich kaum noch an John erinnern. Ich war so drei oder vier Jahre alt, als er im Streit die Farm unserer Eltern verlassen hat. Ich weiß nur, dass ich tieftraurig gewesen sein muss, denn so wie Mutter immer erzählt hat, muss ich mit abgöttischer Liebe an ihm gehangen haben. Ma hat erzählt, dass ich stundenlang am Tor gestanden und auf ihn gewartet habe. Ich habe damals wohl sogar tagelang jede Nahrungsaufnahme verweigert.“ Tränen sind in ihre Augen getreten, die sie verstohlen wegwischt.

Der Cowboy lächelt seinen neuen ,Mann‘ an: „Na, dann wollen wir mal, damit Du endlich wieder richtig essen kannst. Außerdem, wie willst Du wissen, wie Dein Bruder auf Dein Auftauchen reagiert, wenn Du es nicht testest. Ich will Dir aber die Sorge etwas nehmen, er hat immer sehr zärtlich von seinem Schwesterchen gesprochen, aber eben von dem Baby. Er wird also schon ein bisschen belämmert gucken, wenn plötzlich eine reizende junge Dame vor ihm steht.“

Der Mann nickt seinem Boss Carpenter zu. Wer hätte das gedacht, eine so unvorhergesehene Wendung. Noch vor weniger als einer halben Stunde hätte man sie fast als jugendliche Kriminelle einstufen wollen und jetzt war sie mit offenen Armen in die Gemeinschaft von Willow-Tree aufgenommen.

Aber so ganz ist das Thema ihrer Vergangenheit noch nicht vom Tisch, da gibt es sicherlich noch einiges zu klären und es besteht bestimmt noch in mancherlei Hinsicht ein gewisser Handlungsbedarf. Ein Kind, welches ohne Schulreife zwei Jahre mutterseelenallein durch ein riesiges Land reitet, dürfte in einigen Dingen noch einen erheblichen Erziehungsbedarf haben, andererseits aber über Erfahrungen verfügen, die möglicherweise selbst einen hartgesottenen Mann, wie den Vormann schaudern lassen würden.

Der Mann, den alle meistens Indian nennen oder Boss, aber selten David oder Widefield, nimmt sich vor, selbst ein wenig in die Erziehung einzugreifen, wenn es nötig werden sollte, auch wenn ihm mit Kindern jede Erfahrung fehlt. Aber Carpenter hat einen Sohn und seine Enkelkinder zu anständigen Menschen erzogen, gemeinsam werden sie sicher auch mit Carol fertig werden.

Der dunkelhaarige, große Mann greift das neben ihm klein und zart wirkende junge Mädchen am Arm, doch sie entzieht sich ihm mit einem vorwurfsvollen Blick. Die Szene auf der Weide steht ihr noch allzu deutlich vor Augen, immerhin hat das Ekelpaket sie mit einer Waffe bedroht.

„Eh, Mann, nicht anfassen! Ich kann noch immer gut alleine laufen. Wenn ich alt und gebrechlich werde, sage ich vorher Bescheid!“ Berührungen jeder Art sind ihr, auch wenn sie es nicht eingestehen würde, ein Gräuel. Zu viele fremde Menschen haben versucht, sie in den letzten Jahren anzufassen. Ihr fehlt einfach noch das Vertrauen, auch hier sind alles fremde Menschen, die ihr Vertrauen erst noch gewinnen müssen.

Der Cowboy lässt sie los und hebt entschuldigend die Hand. Dann wendet er sich dem Ausgang zu, geht zur Haustür, öffnet sie und lässt Carol den Vortritt. Sie zieht die Augenbrauen hoch, Höflichkeiten ihr gegenüber sind ihr völlig fremd, aber irgendetwas berührt sie bei dieser kleinen Geste.

Sie folgt dem Mann die Stufen von der Veranda hinunter und über den großen Platz davor bis hinüber zur Cowboy-Unterkunft.

Die beiden betreten das langgestreckte, aus Holz gebaute Gebäude, welches im Augenblick leer ist, bis auf einen jungen Mann, der in einem der zahlreichen Betten liegt und Widefield sagt in seinem ruhigen Ton in den Raum: „Hallo, John, schau, wen ich Dir hier mitbringe.“

Der blonde junge Mann versucht sich auf den Unterarmen abzustützen, schafft es aber mal grade so, den Kopf zu heben. Dann lächelt er den beiden entgegen: „David, fein, dass Du mir Besuch mitbringst, es ist arg langweilig hier.“

Das Mädchen schiebt sich an dem Vormann vorbei in Richtung Bett, starrt auf den dort liegenden Jungen, bekommt kugelrunde Augen und quiekt entsetzt: „Du, äh, ich, ich meine Sie, nein äh, was meine ich denn nun eigentlich? Mir wird schlecht. Das ist hier doch wohl alles nur ein dummer Scherz. Ihr wollt mich alle verkohlen.“

Abrupt dreht sie sich zum Vormann um: „Verdummung?“

Sie wendet sich wieder dem Kranken zu und schüttelt den Kopf. Vor Carol liegt der junge Cowboy, dem sie erst zwei Tage zuvor das Leben gerettet hat.

John lächelt ihr völlig ahnungslos entgegen. „Hey, so tolle rote Haare, das kann ja nur meine Lebensretterin sein. Super, dass Sie mal vorbeischauen. Obwohl, woher wussten Sie, wo Sie mich finden? Der Sheriff meinte nur, Sie hätten mit fliegenden Fahnen die Stadt verlassen.“

„Lebensretterin, ha, wenn es nur das wäre, Du ahnungsloser Engel.“ Carol beißt sich vor lauter Aufregung auf die Lippe. „Du darfst Du zu mir sagen.“

Der Vormann grinst. „Tja, John, hier steht Deine Lebensretterin, aber nicht nur das, mein Lieber. Deine Überraschung wird gleich noch viel größer werden. Das Leben, John, geht manchmal merkwürdige Wege und Zufälle können das Schicksal stark beeinflussen.“

John schaut seinen grinsenden Freund erstaunt an und fragt sich, ob er wohl doch irgendwie noch auf den Kopf gefallen ist. So aufgekratzt kennt er den Indian überhaupt nicht, obwohl sie nun schon so viele Jahre eng befreundet sind. Dieser macht eine für ihn völlig untypische, theatralische Handbewegung in Carols Richtung. Das Mädchen steht noch immer wie zur Salzsäule erstarrt und blickt unverwandt auf John. „Lieber John, darf ich Dir die junge Dame nun endlich vorstellen, da ihr Euch ja offensichtlich noch nicht miteinander bekannt gemacht habt. Unser neuer Mann auf Willow-Tree, Miss Carol Blake. Ich schätze, Ihr solltet Euch kennen.“

„Angenehm Miss Blake“, John stutzt.

„Miss Blake?

Miss Carol Blake?

Du bist Carol? Meine kleine Schwester Carol?“ John sitzt im Bett und macht ein Gesicht, wie ein kleiner Junge, dem man das Butterbrot weggenommen hat. Nun setzt er sich doch auf und schließt Carol, ohne dabei auf seine Schmerzen zu achten, ungestüm in seine Arme, dabei presst er sie so fest an sich, dass ihr die Luft genommen wird. „Oh, Carol, kleine Carol, liebe kleine Carol.“

Leise verlässt der Vormann den Raum. Er lächelt bei dem Gedanken, wie er Carol aufgelesen hat.

Leise schließt er die Türe hinter sich, denn er will die Geschwister in diesem für beide sehr wichtigen Augenblick nicht stören.

Das Mädchen heult dicke Krokodilstränen vor Freude, fasst sich an den Hals und öffnet den Verschluss eines Kettchens, welches sie unter dem Hemd trägt. Es hängt ein Medaillon daran.

Sie reicht das Schmuckstück ihrem Bruder und murmelt erstickt: „Vor ihrem Tod hat Mutter es mir gegeben und gesagt, wenn ich Dich jemals finden sollte, was Mum allerdings bezweifelte, sollte ich es Dir geben. Zwei Stunden später ist sie in meinen Armen gestorben.“

Das Mädchen schnieft leise und wischt sich verstohlen mit dem Hemdsärmel über die Augen.

John schluckt erschrocken. „Oh Gott, Mutter lebt nicht mehr? Arme Mum, ich habe ihr so viel Kummer bereitet. Wie geht es Vater?“

Traurig schüttelt Carol den Kopf. „Unser armer Vater kam vor ungefähr drei Jahren bei einem Hotelbrand ums Leben. Mutter war von diesem Tag an eine kranke Frau. Sie hatte nur einen Wunsch, sie wollte nur noch sterben und folgte Daddy schon acht Monate später. Das ist nun schon fast zwei Jahre her. Ich habe Mummy begraben, die Farm verkauft und bin losgezogen.“ Sie schnieft, strafft sich und knurrt fest: „Seit dieser Zeit bin ich auf der Suche nach Dir. Das war gar nicht immer so einfach. Ich war doch noch fast ein Baby, als Du uns verlassen hast. Und dann waren mir dauernd irgendwelche Leute auf den Fersen, die nur mein Bestes wollten und die mich in einer hübschen, wohltätigen Anstalt oder einem Heim, wie sie sich ausdrückten, unterbringen wollten. Ich muss aber sagen, ich habe meistens Glück gehabt und bin ihnen immer irgendwie entkommen, auch wenn es nie leicht war.“

Schweigend betrachtet Blacky das Medaillon, er kann es kaum fassen. Erst steht seine leibhaftige Schwester vor ihm und nun muss er auch noch die Nachricht vom Tode beider Eltern verdauen, das ist einfach alles ein bisschen viel auf einmal. Er schluckt und fühlt sich plötzlich furchtbar elend. Ihm steigen die Tränen in die Augen bei dem Gedanken, wie sehr seine Schwester gelitten haben muss. Es ist schon schwer genug, die Eltern begraben zu müssen, aber wenn man dann noch ein Kind ist, um wie viel schwerer muss das dann erst sein.

Carol hat alles um sich herum vergessen. Sie denkt an die herrliche Zeit, als sie noch unbekümmert mit ihrem Vater über die Weiden ritt, sie sieht ihre Mutter vor sich, wie sie die faule Tochter gütig, aber bestimmt zur Schule geschickt und sie in vielen Dingen auch selbst unterrichtet hat, wenn sie der Ansicht war, dass die Schule nicht genug bot.

Das Mädchen sieht auch die kleine Farm, die sie hatte verkaufen müssen, ganz deutlich vor ihrem inneren Auge. Lange Zeit hatte sie sich diese Erinnerung nicht gegönnt, sie nicht zugelassen, aus Angst, in dieser Erinnerung schwach zu werden und ihr großes Ziel aus den Augen zu verlieren. Ihre Brust zieht sich zusammen und die Beine drohen ihr den Dienst zu versagen in einem plötzlich aufwallenden Schmerz.

Sie reißt sich zusammen, denn das beherrscht sie meisterhaft, vor allem, wo nun mit einem Mal alles ganz anders ist. Sie hat das Gefühl, als wäre sie von einer langen Reise endlich nach Hause zurückgekehrt. Alles erscheint in einem neuen Licht, so hell und freundlich.

Aber wohl doch nicht so vernebelt freundlich, als dass das Mädchen nicht plötzlich mit einem Ruck mit beiden Beinen wieder fest auf den Boden der Wirklichkeit zurückkehren könnte. Sie geht wieder einen Schritt auf das Bett ihres Bruders zu, holt aus und verabreicht ihm zwei schallende Ohrfeigen.

„Das ist der Lohn für die zwei Jahre meines Lebens, die ich damit vergeudet habe, nach Dir zu suchen. Du treulose Tomate hättest Dich ja wenigstens mal zu Weihnachten melden können, dann hätte ich es wesentlich einfacher gehabt, Dich zu finden. Schließlich ist das Schreiben schon vor langer Zeit erfunden worden und eine Post gibt es auch. Hast Du eigentlich eine Ahnung, wie riesig das Land ist? Da steht man echt vor Problemen, wenn man nicht mal weiß, in welcher Richtung man suchen muss. Reite ich nach Süden oder doch lieber nach Norden. Was kann der Kerl eigentlich? Findet man ihn eher in der Stadt oder auf dem Land. Hat er Familie oder streunt er genauso wie ich selbst durch die Gegend. Du machst Dir keine Vorstellung davon, wie es mir in den letzten Jahren gegangen ist. Hungerakrobat ist mein zweiter Vorname.“

Sie fällt ihm halb lachend, halb weinend um den Hals.

Die beiden Ohrfeigen zeigen, wie froh Carol im Grunde ihres jungen Herzens ist, dass sie das wilde unstete Leben aufgeben kann, dass sie nicht jeden Tag auf ein Neues um ihr Dasein kämpfen muss, dass sie endlich wieder weiß, wo sie hingehört, dass es einen Menschen gibt, für den sie etwas bedeutet und der ihr etwas bedeutet. Aber stimmt das alles auch? Sind das nicht nur Wunschträume? Eigentlich ist der Knabe da vor ihr ein genauso Fremder wie alle, denen sie in den letzten Jahren begegnet ist.

Sie tritt nachdenklich einen Schritt zurück, kraust die Nase und denkt: ‚Egal, jetzt muss ich erst mal abwarten. Weg und was Neues machen kann ich immer noch. Fürs erste ist meine Mission aber erfüllt.‘ Sie hat das Ziel, das sie sich nach dem Tode der Eltern gesetzt hat, erreicht. Sie hat ihren Bruder John wiedergefunden und damit hat sie den innigsten letzten Wunsch der Mutter erfüllt, nun kann sie sich zur wohlverdienten Ruhe setzen und ein neues Leben beginnen. Mit John oder auch ohne, das wird die nächste Zeit zeigen.

Blacky, der diese Gedanken errät, weil er in ihrem lebhaften Mienenspiel lesen kann, wie in einem offenen Buch, verflucht sich selber, weil er überhaupt nie auf die Idee gekommen ist, sich nach dem Wohl seiner Eltern und seiner Schwester zu erkundigen, nachdem er sich auf der Willow-Tree-Ranch niedergelassen hatte. Ihm ging es gut und eigentlich war für ihn immer klar, dass ‚zuhause‘ auch alles in gewohnter Harmonie seinen Gang geht. Im Traum wäre er nicht auf den Gedanken gekommen, dass alles schon vor langer Zeit in Trümmer zerbrochen sein könnte.

John erinnert sich noch ganz genau an jenen Streit, den er mit seinem Vater hatte und aufgrund dessen er die elterliche Farm verließ, ohne Gruß und ohne ein Abschiedswort. Er sieht wieder den fassungslosen Blick in den Augen seiner Mutter, als sie hinter ihm hersah und er sieht Carol, die aus dem Spiel mit einer Puppe aufblickte, das Spielzeug beiseite warf und auf kleinen, runden Beinchen, mit ausgestreckten Ärmchen hinter ihm her stolperte.

Sein Herz krampft sich zusammen und die Tränen schießen ihm in die Augen. Er sieht ein, dass er viele Fehler gemacht hat, Fehler, die seine Schwester letztendlich, obwohl völlig unschuldig, hat ausbaden müssen. Fehler, die er niemals mehr gutmachen kann, so sehr er sich auch bemühen würde, das Leben hat ihm die Chance genommen.

Er blickt auf die roten Haare, die wie flüssiges Gold über die Schultern des noch vor wenigen Minuten ihm völlig unbekannten Girls fallen und er schwört sich, dass er seine kleine Schwester nie mehr weglassen wird und dass er ihr alles das geben will, was ein Kind braucht, obwohl er keinen Schimmer hat, wie er das anstellen muss und was das überhaupt ist.

,Die Backpfeifen habe ich ehrlich verdient‘, denkt er und in einer plötzlichen Aufwallung von Liebe drückt er Carol fest an sich.

„Wenn ich das Rad der Zeit doch nur zurückdrehen könnte“, murmelt er, „ich hätte Dir die böse Zeit des Streunens ersparen können, wenn ich nur nicht so stur gewesen wäre.“

Carol schaut ihn sehr ernst an. ,,Du hast unseren Eltern eine harte Lektion erteilt. Mummy hat Deinen Fortgang nie verwunden. Sie hat ständig gebetet, dass Du zurückkehren mögest. Sie hat nächtelang wachgelegen und auf jedes Geräusch gelauscht, immer in der Hoffnung, Du würdest endlich heimkehren. Sie sehnte sich nach ein paar Zeilen von Dir. An jedem Festtag stand sie am Fenster und hat voller Bangen und Hoffen hinausgeblickt. Sie hat gelitten wie ein Tier. Das hat eventuell den Grundstein zu ihrer Krankheit gelegt. Sie hat damals schon viel an Gewicht verloren, sie war ja immer eher zart und wurde nach Deinem Weggang immer durchscheinender. Wie dann auch noch Vater für immer von uns gegangen ist, hat Mutter sich völlig aufgegeben. Ihr Leben hatte in ihren Augen jeden Sinn verloren, da konnte selbst ich nichts mehr ausrichten. Ihrer Meinung nach war ich selbstständig genug, um auf meinen eigenen Füssen stehen zu können, das hat sie mir mehr wie einmal gesagt, aber damit hat sie sich nur selbst ihr schlechtes Gewissen beruhigt, denn ich war noch ziemlich blöde.“

Carol holt tief Luft. „Aber auch Daddy war fertig mit der Welt. Fast jeden Abend, den der liebe Gott ihn noch hat erleben lassen, stand er am Tor und starrte in die Richtung, in die Du Dich davon gemacht hattest. Er hat Dir im Stillen oft Abbitte geleistet, aber wer nicht kam, warst Du. Dein Blakescher Dickschädel hat Dir eine Heimkehr wahrscheinlich unmöglich gemacht. Aber wir wissen ja beide, von wem Du den geerbt hast. Stur, wie ein Rindvieh.“

„Oh ja, und Vaters Dickkopf ist leider bei mir fast noch ausgeprägter.“ John streicht Carol sanft über die roten Haare und murmelt: „Als Du mir draußen vor der Stadt das Leben gerettet hast, hätte ich eigentlich schon drauf kommen müssen. Deine roten Haare hatten irgendeine Erinnerung in mir geweckt, aber ich wusste einfach nicht, wo ich sie unterbringen sollte.“

Er seufzt. „Ich Dummkopf habe einfach nicht an meine kleine Schwester gedacht. Wahrscheinlich habe ich mir nicht überlegt, dass Du nicht mehr das tapsige kleine Mädchen, sondern eine junge Dame geworden bist. Dabei ist mir der Ausruf ,Du liebes Lottchen, das Kind sieht aus, wie eine Mohrrübe’, den die Geburtshelferin bei Deiner Geburt gebraucht hat, immer im Gedächtnis geblieben. Nur im entscheidenden Augenblick habe ich nicht daran gedacht.“

Das Girl verdreht die Augen und griemelt: „Ha, Mohrrübe! Ist ja echt stark. Als Kind habe ich meine roten Haare gehasst. Ständig gab es Hänseleien und jeder hat blöde Bemerkungen gemacht. Die Miller Kinder wollten sogar mal eine Hexenverbrennung mit mir als Hauptdarstellerin veranstalten.“

„Um Gottes Willen. Die Kinder waren nie ganz ohne, aber wenn wir ehrlich sind, die Eltern waren auch recht merkwürdige Zeitgenossen. Wie Vater immer so zutreffend sagte: ,Seine Nachbarn kann man sich nicht immer aussuchen‘.“

„Aber eins muss ich ihnen lassen, nach Mutters Tod haben sie mir sehr geholfen. Beim Verkauf der Farm hat der alte Miller sehr aufgepasst, dass mich keiner über den Tisch gezogen hat. Er hat alles mit der Bank und den Papieren für mich geregelt. Sie haben mir sogar angeboten, bei ihnen zu bleiben, aber das wollte ich nicht. Obwohl es mir dort sicher gut gegangen wäre, sie waren grundehrliche Menschen, aber halt ein wenig komisch.“

„Kann ich verstehen, zu denen wäre ich auch nicht gegangen. Und wie ist die Hexenverbrennung ausgegangen?“

Carol wirft den Kopf in den Nacken, dass die roten, langen Haare nur so fliegen und lacht. „Glimpflich wie Du siehst, sonst wäre ich ja jetzt nicht hier. Ich brannte nicht so gut, nur das Holz und mein Kleid. Daddy hörte mich schreien, hat mich mit einer Decke gelöscht und dann fast in der Viehtränke ersäuft, wie eine unnütze Katze.“

Sie lacht noch immer. „Ich habe dann ein paar Tage im Bett gelegen und hatte zugegebener Maßen irre Schmerzen. Dafür kam aber Misses Miller jeden Tag und brachte Kuchen, Kekse oder Früchte. Es war den Millers furchtbar peinlich, dass ihren Kindern so etwas Grauenvolles eingefallen ist und sie haben sich mächtig ins Zeug gelegt, um wieder eine gute Nachbarschaft herzustellen. Ich bin richtig pummelig geworden von all dem guten Futter.“

Die beiden Männer, die in der Tür stehen, wenden sich lächelnd ab. „Die brauchen noch mindestens drei Tage“, grinst Widefield und der Sheriff nickt bekräftigend. „Nur diese Zeit habe ich nicht, leider. Aber ein Weilchen wollen wir den beiden die Wiedersehensfreude noch gönnen.“

Er blickt in den Raum, dann schüttelt er den Kopf „Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen süßen Irrwisch noch einmal zu sehen bekomme. Ich habe mich, nachdem sie aus meinem Office gestürmt war, erst mal gekniffen, um zu sehen, ob ich nicht nur mit einem Gespenst geredet habe.“

Er grinst anzüglich. „Wir haben Glück, David. John ist bei der Kleinen aus dem Rennen. Als ihr Bruder hat er keine Chancen.“ Er schaut in Richtung der roten Haare. „Mann, ist die Klasse. Wenn sie ein paar Jahre älter wäre, ich würde sie vom Fleck weg heiraten. Ich habe noch nie so eine hübsche Frau gesehen.“

Der Vormann verdreht die Augen. „Nimm sie, Mann, nur wirst Du eine Unmenge an Erziehungsarbeit leisten müssen. Sie ist seit Jahren auf sich allein gestellt durch die Lande geritten. Keine Schulbildung, wahrscheinlich wenig Manieren und ich möchte nicht wissen, ob sie nicht auch schon mehr als einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Ich würde sie nicht mal geschenkt nehmen. Das wird doch nie mehr eine Frau. Da könnte ich mich ja gleich mit John zusammentun.“

„Du bist blind, mein Freund.“ Der Sheriff seufzt sehnsüchtig. Er ist auf die Ranch gekommen, um Blacky noch ein paar Fragen bezüglich des Überfalls zu stellen und nun diese Begegnung.

Er war in eine merkwürdige Unruhe in Carpenters Büro geplatzt und staunend hat er sich die Geschichte von dem fremden Reiter auf der Nordweide angehört. „Das ist doch wohl nicht die Möglichkeit. Ich hätte im Traum nicht zu hoffen gewagt, dieses Wunderkind jemals wiederzusehen. Fein, da kann ich in meinen Unterlagen aus der unbekannten Zeugin ja endlich eine Zeugin mit Identität machen.“

Der Indianer und Bill Fawkes haben die Übergabe des Medaillons und den schlagenden schwesterlichen Liebesbeweis miterlebt und sind überzeugt, dass das Mädchen sich schnell auf der Willow-Tree-Ranch einleben wird. Sie wird den Cowboys schon beibringen, wozu ein Girl alles in der Lage ist.

„Aber ich denke, anlegen würde ich mich mit der nicht unbedingt. Ich glaube, es wäre kaum möglich, nur mit einem blauen Auge davon zu kommen.“

Der Sheriff hat mit seiner Liebesbeteuerung nicht übertrieben. Er mag das Mädchen, seit es zum ersten Mal wie eine Erscheinung bei ihm im Büro aufgetaucht ist. Es geht irgendeine Ausstrahlung von dem jungen Ding aus, der er sich nicht entziehen kann.

„Sechs maskierte Banditen in die Flucht geschlagen, ein Menschenleben gerettet, einen Schwerverletzten transportiert und was weiß ich nicht sonst noch alles. Die Frau hat wirklich Klasse. Ich werde sie als Hilfssheriff anheuern. Und all Deine negativen Befürchtungen solltest Du für Dich behalten und erst mal abwarten. Vielleicht kann sie ja doch mit Messer und Gabel essen.“

„Auf alle Fälle reitet die Kleine wie der Teufel. Im Übrigen, Du darfst mit ihr anbändeln, aber nix da von wegen Hilfssheriff. Carpenter will sie hier behalten und hat sie als Cowboy angeheuert. Er hat mir die Erziehung des Kükens anvertraut, dabei habe ich mit Kindern leider gar keine Erfahrung.“ Er seufzt und denkt an eine lange vergessene Zeit zurück, als er fast mal Vater geworden wäre.

,,Was hat Dein Boss?“, ungläubig schaut Fawkes seinen Freund an. ,,Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, was!“

,,Ih bewahre, Du bist mir viel zu schwer. Aber glaube mir, das Mädchen schafft den Job glatt mit links. Nur ob ich die Erziehung schaffe, das muss ich offen lassen.“

Nur ein Tropfen Leben

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