Читать книгу Nur ein Tropfen Leben - Christina M. Kerpen - Страница 7

Der Prozess

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Wenige Wochen nach diesen dramatischen Ereignissen wird den Banditen der Prozess gemacht.

Carol fühlt sich schon Tage vorher nicht sonderlich wohl in ihrer Haut, denn sie soll als Zeugin aussagen. Das ist ihr zwar nicht fremd, aber es erfüllt sie besonders dieses Mal mit einem unguten Gefühl.

Zum ersten Mal seit sie auf der Willow-Tree-Ranch ist, zieht sie ein Kleid an. Es ist zartgelb mit grünen Einsätzen und vielen Rüschen. Susan hat es ihr geschenkt und ist begeistert von der Verwandlung ihrer Freundin. „Das Kleid sieht an Dir viel toller aus, als an mir. Deine grässlichen Hosen müssten alle gesetzlich verboten und vernichtet werden. Du siehst in dem Kleid viel netter aus, direkt wie eine Lady.“

Bei der ersten Anprobe war das zierliche Geschöpf in den Rüschen und den Stoffmengen fast verloren gegangen, doch nachdem die Schneiderin sowohl von der Länge als auch der Weite des Kleides einige Zentimeter weggenommen und auch einige Rüschen entfernt hatte, wäre es keinem Beobachter aufgefallen, dass das Kleid ursprünglich eine andere Besitzerin hatte. Nur an den Ärmeln durfte Sie nichts ändern, obwohl sie der Meinung war, ein kurzer Ärmel würde das Kleid und seine Trägerin weniger erdrücken. Carol ließ allerdings darüber keine Diskussion zu und war um nichts in der Welt umzustimmen gewesen.

„Ein kurzer Ärmel hätte sicher auch gut ausgesehen, aber lange Ärmel wirken doch immer etwas seriöser.“ Susan hat den Kopf geneigt und bewundert unverhohlen die Veränderung.

„Pah, als ob es auf solche Äußerlichkeiten ankommt. Mir ist es ziemlich egal, wie ich aussehe.“ Carol steht vor dem Spiegel, mustert sich und mault: „Das ist für mich partout nicht die richtige Bekleidung, ich sehe aus, als wolle ich auf einen Maskenball. Ich werde bestimmt schon beim ersten Schritt über den Saum stolpern und der Länge nach hinsegeln. - Wie bewegt man sich in so was?“

Das rothaarige Girl wird es bestimmt nicht zugeben, aber eigentlich gefällt ihr, was sie im Spiegel sieht. Unwillig über diese Gefühle streckt sie ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und knurrt: „Mann, ist das unpraktisch.“

Sue geht gar nicht erst auf die Nörgeleien ihrer Freundin ein, sondern zieht sie am Arm hinter sich her aus dem Zimmer. „Wir müssen uns ein klein wenig beeilen, Großvater und Stacy warten schon. Die werden Augen machen.“

Vor einigen Tagen ist ein weiteres Mitglied der Familie Carpenter auf der Ranch eingetroffen. Stacy ist der ältere Bruder von Susan. Er hat eine Militärschule an der Ostküste besucht und sich dann, wenn auch nicht leichten Herzens, gegen die Ranch und für die Laufbahn eines Soldaten entschieden. Er hat den Wunsch, selbst einmal Ausbilder zu werden, daher kommt er nur hin und wieder zu Besuch auf die Ranch, um seinen Großvater und seine Schwester zu sehen.

Carol hat mächtigen Respekt vor dem jungen Mann. Er ist in ihren Augen ungemein vornehm und sehr intelligent. Alles was er sagt, ist überlegt und klingt klug und vernünftig. Mit solchen Menschen ist das Mädchen noch nicht sehr oft zusammengetroffen und sie fühlt sich in seiner Gegenwart sofort dumm, ungebildet und total unreif.

„Reiten kann man in dem Fummel auch nicht“, meutert sie weiter und rafft den Rock, um nicht doch noch zu stolpern. Leise vor sich hin schimpfend folgt sie Susy die Treppe hinunter.

Unten werden sie schon vom Vormann erwartet: „Carol, Du weißt, dass Du in diesem Pro... - Donnerwetter, was ist denn nun kaputt? Das Kleid steht Dir aber wirklich gut. Du siehst echt mal manierlich aus, direkt wie ein süßes Mädchen.“ Einer der seltenen Momente, in denen der sonst immer ernste Mann anerkennend lächelt.

Carol grinst verlegen, wird rot und auf einmal findet sie den ,Fummel‘ gar nicht mehr so übel.

Der Indian hätte vor Staunen fast vergessen, was er sagen wollte, das wäre allerdings so gegen seine Natur, dass Carol ihre Ermahnungen doch noch mit auf den Weg bekommt.

In der Stadt beeilen sich Stacy und auch David dem so veränderten Mädchen aus dem Wagen zu helfen. Stacy hatte das Girl mit Komplimenten geradezu überschüttet, denn bisher hat er den neuen Cowboy noch gar nicht richtig wahrgenommen.

Auch Carols Bruder und der Rancher sind von dem ungewohnten Anblick überwältigt.

Widefield ergreift ihren Arm und meint augenzwinkernd: „Da kommt Bill, der wird Dich so auf Anhieb gar nicht erkennen. Wahrscheinlich nur, weil wir bei Dir sind.“

Fawkes kommt auf die kleine Gruppe zu, stutzt, schaut Carol mit gerunzelter Stirn erstaunt an, schiebt den Stetson erst zurück, wieder gerade und nimmt ihn schließlich ab. Dann meint er anerkennend: „Oh Mann, einfach großartig. Das ist doch nicht etwa das langhaarige Menschenkind, das auf der Willow-Tree-Ranch lebt, nur von ganz, ganz nahem wie ein Mädchen aussieht, sich aber sonst immer wie ein Junge verkleidet und sich dann auch noch wie ein Junge benimmt? Sagenhaft! Ich hätte Dich bestimmt nicht erkannt, wenn nicht der Indian neben Dir stehen würde. Willst Du mich in zwei bis drei Jahren heiraten?“

Er lächelt über ihr Erröten, wird aber sofort wieder ernst.

„Blacky, kommst Du bitte mit in mein Büro, und Ihr beiden auch, ich habe vor der Verhandlung noch einiges mit Euch zu besprechen.“ Er schaut von John zu David und sein Blick bleibt wieder an Carol haften. Mühsam reißt er sich los und fragt, sich an den Rancher wendend: „Mister Carpenter, Sie sind mir doch nicht böse, wenn ich Ihnen Ihre drei besten Leute mal kurz entführe, nicht wahr?“

„Natürlich nicht, Sheriff. Aber eines möchte ich doch gleich zu Beginn der Entführung klarstellen: Lösegeld bekommen Sie für die drei Taugenichtse nicht, keinen einzigen müden Cent. Verstanden? Und nun gehen Sie schon, der Richter wird nicht ewig warten wollen.“

Bill ergreift Carols Arm, nickt Carpenter zu und bedeutet David und John, ihnen zu folgen.

Ein kleiner Junge kommt auf den Sheriff zugerannt und ruft schon von weitem ganz aufgeregt: „Die Verhandlung beginnt in zehn Minuten, Sir. Sie sollen bitte pünktlich sein.“

Fawkes ist stehen geblieben und schaut den Knaben stirnrunzelnd an. „Ist der Richter schon da?“

„Ich glaube ja, Sir.“

„Wir kommen gleich, ich muss nur kurz mit dem Ankläger noch etwas besprechen, wirst Du das dem Richter bitte sagen?“

Nun nutzt der Vormann die Gelegenheit und fasst seinen kleinen Cowboy behutsam am Arm und führt sie hinter Blacky und Fawkes her, die bereits heftig miteinander diskutieren.

Eine Gerichtsverhandlung mit Richter und Klägern hat fast noch immer Seltenheitswert in den nicht so dicht besiedelten Landstrichen hier im Westen. Erst seit kurzer Zeit gibt es Verhandlungen nach altem englischen Muster, davor war die Selbstjustiz vorherrschend und ist leider noch immer durchaus gängige Praxis. Doch seit dem Eintritt Wyomings in die Vereinigten Staaten im Jahre 1890 hat sich schon eine ganze Menge verändert.

So verspricht auch die heutige Verhandlung eine kleine Sensation zu werden, denn die Anklage wird von Betroffenen vertreten und das hat es in dem kleinen Ort noch nie gegeben, denn bisher hat immer der Sheriff das gemacht. Überhaupt haben hier bisher höchstens ein gutes Dutzend Verhandlungen stattgefunden. Ein Staatsanwalt ist daher in Ebony-Town nicht aufzutreiben und auch der Richter ist extra aus der Hauptstadt gekommen.

In seinem Office setzt sich Bill auf die Kante seines Schreibtischs, nimmt gedankenverloren einen Stift zur Hand und weist damit auf John. „Blacky, Du weißt, dass Du unser Hauptankläger bist. Lass Dich bitte durch nichts von dem abbringen, was Du sagen willst und auf Zurufe reagiert ihr am besten alle gar nicht. Und bitte“, er wirft Carol einen mahnenden Blick zu und fixiert dann wieder John, „keine theatralischen Ausführungen oder Abschweifungen, verstanden? –

David, Du bist unser Nebenkläger für die Schießerei vor der Stadt. Du weißt auch Bescheid und lässt Dich ja sowieso nicht aus der Ruhe bringen. -

Nun zu Dir, Carol.“ Bills Stimme wird eindringlich. „Du bist unsere Kronzeugin für beide zur Verhandlung stehenden Vergehen. Es hängt fast alles von dem ab, was Du aussagst. Du musst bei allem, was Du sagst, genau bei der Wahrheit bleiben.“

Carol verzieht das Gesicht, als hätte sie in einen sauren Apfel gebissen. „Ph, als ob ich schon jemals gelogen hätte. Eine Unverschämtheit ist das. Ihr behandelt mich wie ein Baby. Ich bin doch kein Kleinkind, das nicht weiß, wie es sich vor einem Richter zu verhalten hat.“ Sie richtet sich zu imposanten gut eineinhalb Metern Mensch auf, zuckt beleidigt mit den Schultern und streckt die Nase in die Luft.

„So habe ich das ja auch gar nicht gemeint, mein Engel. Damit wollte ich Dich nur davor warnen zu übertreiben, denn das ist nun einmal eine Spezialität von Dir.“

Er wirft einen Seitenblick auf Blacky. „Aber das liegt wohl in der Familie.“

John grinst und der Sheriff fährt in seiner kleinen Ansprache fort. „Und noch eins, Carol, und das ist sehr wichtig. Lass Dich bloß nicht von Deinem Temperament hinreißen, der Richter liebt Ausbrüche jeder Art überhaupt nicht, da kann er höllisch biestig und unangenehm werden, selbst Zeugen gegenüber. Harrods ist ein sehr feiner Mensch, aber er trennt Arbeit und freie Zeit säuberlichst, da kennt er nicht Freund noch Feind, da kennt er nur sein Richteramt und das Gesetz.

So, dann will ich Euch noch sagen, wen genau Ihr anklagen müsst.“

Fawkes nimmt ein Blatt Papier zu Hand und liest seinen Freunden die Namen der Angeklagten vor.

„Da hätten wir also erstens Bill Trevor, zweitens John Craime, drittens Ferod Gainly und last but not least den Kopf der Bande, Dandy Reed.“

Er lässt den Zettel sinken und starrt erstaunt auf Carol, die bei der Erwähnung des Namens Dandy Reed entsetzt aufgefahren ist. „Dandy, Dandy Reed? Wirklich Dandy Reed? Sag das noch mal, sonst glaube ich nicht, was ich gerade gehört habe.“ Alle Farbe ist aus ihrem Gesicht gewichen.

Kraftlos lässt sich das Girl auf einen Stuhl fallen und schaut den Sheriff aus großen, schreckensgeweiteten Augen an. Dieser ist platt, genauso wie Blacky und der Indianer. Dieses kleine verrückte Huhn hat aber auch ständig neue Überraschungen auf Lager.

„Sag bloß, Du kennst den Mann?“

„Kennen? Gott sei Dank bisher noch nicht, sonst wäre ich vielleicht niemals mehr bis nach Wyoming gekommen. Ach Du liebes Himmelssternchen, der Herr steh mir bei.“ Hektisch schaut sie sich um. „Heimatland, wenn der Typ jemals wieder aus dem Gefängnis rauskommen sollte, können wir uns alle schon mal ’ne hübsche Grabstelle aussuchen. Dann Gnade uns Gott.“

Das Mädchen schluckt und holt tief Luft. „Sag nur nicht, Du hast noch nie etwas von Dandy Reed gehört, Sheriff? Du versauerst in diesem Kaff. Du bist noch nicht genug rumgekommen in der Welt. Dandy Reed ist der gefährlichste Gunslick, von dem ich je gehört habe. Für ein paar Dollar tötet er jeden, der ihm in die Quere kommt. Frauen, Kinder, alte Leute, Cowboys, Rancher, schwarz oder weiß, egal. Der Kerl besitzt fast nie Geld, das endet immer sehr schnell im Saloon und bei den Damen, die dort arbeiten. Sein einziges Hab und Gut sind praktisch sein Tack, sein Pferd, seine Stiefel und sein Colt. Dabei ist er aber ununterbrochen durstig, was natürlich eine ständige Gefahrenquelle für Unschuldige darstellt.

Soviel ich persönlich weiß, gehen mindestens acht Menschenleben auf sein Konto. Da sind die vier vom Postkutschenüberfall noch nicht mal mitgerechnet.

Die drei anderen sind nur kleine Fische. Reed arbeitet immer nur mit Typen, die nicht bis drei zählen können. Die sind seine Handlanger, werden geschnappt und aufgeknüpft, während sich der feine Herr mit der Gesamtbeute aus dem Staub macht. Ein echt feiner Zeitgenosse!“

„Reed ist also ein Gunslick, sonderbar“, Bill nimmt nachdenklich einen Packen Steckbriefe aus seinem Schreibtisch, „ich habe gar keinen Steckbrief von dem Kerl.“

Carol legt den Kopf etwas schief und schaut den jungen Mann aus zusammengekniffenen Augen ungläubig an. „Nicht? Das kann ich mir ehrlich gesagt kaum so recht vorstellen. Darf ich?“

Sie schnappt sich den Stapel mit den Steckbriefen und blättert mit fliegenden Fingern darin. Plötzlich hebt sie eines der Blätter in die Höhe und verkündet triumphierend: „Wusste ich es doch! - Ich habe ihn schon. Dandy Reed, mit Bart und einer ganz anderen Frisur, dazu noch ein netter kleiner Druckfehler, bei Reed ist ein ,e‘ ausgelassen worden, und schon haben wir auf dem Steckbrief einen ganz anderen Mann. Na ja, das Bild ist aber auch schon ein paar Tage älter.“

Carol zieht die Schultern hoch und murmelt: „Und ich kann Euch eins sagen, Jungs, ich habe plötzlich ein mehr als mulmiges Gefühl im Magen. Ehrlich! Ich habe selten in meinem Leben solch eine Angst gehabt, wie jetzt. Am liebsten würde ich mich still und leise aus dem Staub machen.“

Einen Augenblick herrscht angestrengtes Schweigen, denn dass Carol ihre Bemerkung todernst meint, ist ihrem käseweißen Gesicht anzusehen.

In diese Stille hinein ertönt plötzlich ein zaghaftes Klopfen an der Tür. Ein kleiner Junge tritt ein und piepst: „Sie sollen jetzt bitte sofort in den Saloon kommen, der Richter ist schon da und er möchte mit der Verhandlung beginnen.“

„Danke, Jimmy.“‘ lächelt Fawkes und der Kleine will sich trollen, doch Carol kommt ihm zuvor und drückt ihm eine Münze in die Hand. „Für Dich, Jimmy.“

Das Kerlchen bedankt sich strahlend und saust davon.

Carol folgt ihm bis zur Tür und seufzt: „Na. dann wollen wir mal. Auf in den Kampf. Kommt Ihr? Umso schneller haben wir den Krampf hinter uns.“

Im Saloon hat sich schon eine überaus große Anzahl Schaulustiger eingefunden. Fast alle Bewohner von Ebony-Town wollen sich das Spektakel ansehen. Endlich mal etwas Abwechslung im grauen

Alltag, das lässt sich keiner freiwillig entgehen.

Bis zum Verhandlungsbeginn darf Randy Grouse Getränke ausschenken und tut dies natürlich auf's eifrigste. Das ist ein Zusatzgeschäft nach seinem Herzen.

Als die ,Hauptpersonen‘ eintreten, sind einige der Männer schon recht betrunken, trotzdem wird es sofort ruhig in dem verqualmten, stickigen Raum. Carol vergisst für einen Moment die ungewohnte Bekleidung und stolpert doch noch über ihren Rocksaum, kann sich aber sofort fangen und hofft, dass niemand ihre Ungeschicklichkeit bemerkt hat. Dieser Wunsch ist fromm, denn natürlich hat jeder Anwesende verblüfft die Veränderung des jungen Mädchens erkannt und mancher leise Pfiff ist zu vernehmen.

Die gewählte Jury, bestehend aus honorigen Bürgern der Stadt, hat bereits an der Längsseite des Raumes einige Tische zusammengeschoben und nun harrt alles gespannt der Dinge, die da kommen sollen.

Kaum haben der Richter und die Geschworenen Platz genommen, da werden auch schon die Gefangenen hereingebracht. Sie sind allesamt in schwere Ketten gelegt und werden von einem den Städtern nicht bekannten Mann, der sich als Anwalt der Bande vorstellt, begleitet. Mit ihrem Erscheinen setzt sofort ein unüberhörbares Tuscheln und Raunen ein.

Richter Harrods zieht die Augenbrauen hoch und ruft laut in die aufkommende Unruhe: „Ich erkläre die Verhandlung hiermit für eröffnet.“

Er schlägt dreimal, in Ermangelung eines Hammers, mit der Faust auf den Tisch und wendet sich nach einem mahnenden Blick auf die Zuschauer, an Blacky und David. „Bitte bringen Sie nun Ihre Anklage vor, meine Herren!“

Es ist mäuschenstill geworden, alle scheinen die Luft anzuhalten.

John steht auf und beginnt nervös: „Im Namen der Öffentlichkeit und gewählt von den Bürgern dieser Stadt, erhebe ich Anklage wegen Mordes, wegen versuchten Mordes und wegen bewaffneten Überfalls gegen folgende Personen!“ Der junge Mann schaut auf das Blatt, welches ihm Fawkes in die Hand gedrückt hat und liest die Namen der Gefangenen vor. „Erstens gegen Bill Trevor, zweitens gegen John Craime, drittens gegen Ferod Gainly und viertens gegen Dandy Reed, der der Kopf der Bande zu sein scheint.“

Erleichtert und tief Luft holend, setzt sich Blacky wieder auf seinen Platz, es ist nicht leicht, die ersten Worte sprechen zu müssen.

Nun erhebt sich Widefield. Er ist wie immer ruhig und gelassen. Carol beneidet ihren Boss um diese Gelassenheit, sie ist aufgewühlt, wie schon lange nicht mehr.

Mit fester Stimme setzt David die Anklage fort. „Zusätzlich zu den schon erwähnten Verbrechen wird den eben Genannten noch versuchter Pferdediebstahl sowie ein Angriff gegen den Sheriff und einige seiner Leute, unter denen sich eine Frau befand, und der zur Verhaftung dieser Personen führte, zur Last gelegt.“

Widefield setzt sich wieder und die Anklage ist somit vorgebracht. Der Richter schaut streng zu den Angeklagten hin und fragt dann leise. „Bekennen Sie sich schuldig oder geben sie wenigstens einen Teil der Anklagepunkte zu? Sie würden die Verhandlung vereinfachen und könnten sich damit ein wenig entlasten.“

Doch ein vierstimmiges „Nicht schuldig!“ ist die Antwort.

Der Richter seufzt: „Nun, dann müssen wir leider unsere Tatzeugin bemühen. Bitte, Miss Blake, schildern Sie uns die Taten aus Ihrer Sicht.“

Carol steht langsam auf, beißt sich auf die Unterlippe und blickt den Richter etwas unsicher an.

Der nickt ihr aufmunternd zu. „Nun Miss Blake, erzählen Sie uns bitte von dem Postkutschenüberfall, wie Sie ihn erlebt haben.“

Reed zuckt zusammen und knurrt irgendetwas von: „Ein Weib, verdammt!“

Carol schluckt ihre Unsicherheit hinunter. „Also, es war vor einigen Wochen, bevor ich hier Arbeit gefunden habe, da ...“ Sie schluckt, holt tief Luft um sich zu sammeln, „ Also ich, ich stand, äh, ich machte eine Pause, äh, Rast und ich stand bei meinem Pferd“, Carol stottert, sie ist völlig unsicher geworden und der Faden ist ihr erneut entglitten. Sie beißt sich kräftig auf die Lippe, dann krallt sie die Finger der rechten Hand in ihren linken Arm, bis der Schmerz ihr die Tränen in die Augen treibt, aber das bringt sie zur Besinnung.

Sie räuspert sich, murmelt: „Entschuldigung, Euer Ehren, die Situation ist so ungewohnt“, und redet weiter, von Satz zu Satz sicherer werdend: „Ich stand also am Tattag bei meinem Pferd hinter einem Felsen, als ich Schüsse hörte. Ich wusste erst nicht, woher sie kamen, bin aber sofort aufgesessen und dem Klang nachgeritten. Als ich die Postkutsche sah und begriff, was da vor sich ging, habe ich in die Luft geschossen und die sechs Männer, die an dem Überfall beteiligt waren, gaben Fersengeld. Ich habe mich dann auch nicht weiter um die Typen gekümmert, denn wenn die gemerkt hätten, dass ich nur ein Mädchen bin, na ja“, bedauernd zuckt Carol mit den Schultern, ohne den Satz zu beenden, aber jeder im Saal weiß, was sie ausdrücken will, denn der hasserfüllte Blick, mit dem Reed sie betrachtet, sagt alles.

„Also, die Männer ritten fort und ich habe nach den Kutschern und den Passagieren geschaut. Es war grauenvoll.“ Sie schluckt und schaudert bei der Erinnerung an die schrecklichen Bilder. „Leider konnte ich außer einem Fahrgast niemandem mehr helfen. Der einzige Überlebende des Überfalls war, was ich damals allerdings noch nicht wusste, mein Bruder, der anklagende Cowboy der Willow-Tree-Ranch, Mister John Blake.“

Erleichtert atmet Carol auf und nickt dem Richter noch einmal mit einem strahlenden Lächeln kurz zu, dann setzt sie sich wieder neben ihren Boss und ihren Bruder.

„So ein verdammtes kleines Biest!“, knurrt Reed wütend.

Der Richter, der die Bemerkung gehört hat, grinst wie ein schlauer, alter Fuchs. Er blickt zu der Rothaarigen hinüber. Er hat vor der Verhandlung schon so einiges über sie gehört und sie ist ihm auf Anhieb sehr sympathisch.

Er wendet sich nochmals an Blacky und fordert ihn fast beiläufig auf: „Mister Blake, schildern Sie uns doch bitte den Hergang des Überfalls aus der Sicht eines Betroffenen.“

Der Cowboy erhebt sich, die anfängliche Nervosität ist gewichen und er erzählt: „Wir waren noch etwa acht Meilen von der Stadt entfernt, als wir plötzlich von sechs maskierten Männern überfallen wurden. Wir mussten aussteigen und sollten unsere Wertsachen herausgeben. Ein Mann weigerte sich, seine Taschenuhr den Banditen zu überlassen und daraufhin fingen diese an, sich wie verrückt zu benehmen. Eine mitreisende junge Frau wurde hysterisch, nachdem die Banditen dem sich sträubenden Mann fast oder auch tatsächlich den Schädel gebrochen haben und fing an zu schreien. Daraufhin fielen die Kerle brutal über die Frau her. Einer der beiden Kutscher und ich wollten ihr zu Hilfe kommen, doch dann fielen einige Schüsse und ab da weiß ich leider nichts mehr, bis mir von einer jungen Dame geholfen wurde, die wie sich im Nachhinein herausstellte, meine Schwester ist.“

Blacky setzt sich wie ein braver Schulbub, der seine Aufgabe ganz besonders gut gelernt hat, wieder hin.

„Hm“, der Richter nickt nachdenklich und blickt in die Menge der Zuschauer. „Da diese Männer bei einem Schusswechsel, den sie selbst eröffnet haben, vor der Stadt festgenommen wurden und Miss Blake einen von ihnen wiedererkannt hat und zudem, wie mir der Sheriff gerade mitgeteilt hat, sogar noch einiges über ihn weiß, möchte das Gericht sie bitten, weitere Aussagen zu machen.“

Unter den Zuschauern ist es bei diesen Worten erneut unruhig geworden und Richter Harrods bittet um Ruhe, da er ansonsten den ,Saal‘ räumen lasse.

Carol hat ihre angeborene Kühlheit jetzt anscheinend zurückgewonnen und eiskalt, ohne auch nur die geringste Regung zu zeigen, berichtet sie: „Dandy Reed, der Kopf der Bande, hat ein sehr auffälliges Pferd, eine braune Stute mit einer T-förmigen Blesse und einem gefesselten Vorderbein. Das Tier ist mir schon bei dem Postkutschenüberfall aufgefallen. Ein Cowboy von unserer Ranch hat das Tier an dem Tag der Festnahme bemerkt, als er auf dem Weg in die Stadt an dem Rastplatz der Bande vorbeigeritten ist. Er hat sofort den Sheriff von seiner Beobachtung unterrichtet und dieser hat die Festnahme eingeleitet. Selbstverständlich haben sich die Männer nicht freiwillig ergeben, sondern es kam zu einem erbitterten Schusswechsel, bei dem leider zwei der Banditen ihr Leben gelassen haben. Ich selber wurde durch einen Streifschuss leicht verletzt.“

Das Girl räuspert sich und schnappt unauffällig nach Luft. „Einer der Banditen wollte das hierbei entstandene Durcheinander nutzen und versuchte, sich auf meinem Hengst aus dem Staub zu machen. Dieser Versuch misslang, durch das besondere Verhalten meines Pferdes. Dummerweise war ich gezwungen, auf diesen Mann zu schießen, da er Anstalten machte, auf uns zu schießen.“

Sie schaut in die Runde, erst zu ihrem Bruder, danach zum Sheriff und lässt ihren Blick kurz auf ihrem Boss verweilen, dann grinst sie und fährt ungerührt fort. „Die auffällig gezeichnete Stute hat es mir allerdings ermöglicht, die Männer vor dem Schusswechsel eindeutig als dieselben zu identifizieren, die für den Postkutschenüberfall verantwortlich waren, deshalb schließe ich jeden Irrtum meinerseits aus.“

Das Girl macht eine erneute kurze Atempause, auch um ihre weiteren Gedanken zu ordnen, dann setzt sie ihre Rede fort: „Mir ist der Name Dandy Reed übrigens nicht unbekannt. Für Sie hier in Wyoming mag er ein fast unbeschriebenes Blatt sein, aber da ich als ,Streunerin‘ schon viel herumgekommen bin, wie Sie wissen“, ihr Blick geht zu den Tischen, an denen die Jury Platz genommen hat, „habe ich schon früher von ihm gehört. In Pennsylvania, meiner Heimat“, nun senkt das Kind den Blick zu Boden und hebt ihn auch nicht wieder, „und in anderen Staaten an der Ostküste ist er ein berühmt, berüchtigter Gunslick.“

Ein lautes Raunen geht durch den Saal, doch Carol redet unbeirrbar weiter, jetzt wieder mit Blickkontakt zu den Zuschauern. „Reeds Steckbriefe hingen an allen Häuserwänden. Nur wiesen die Dinger ein paar kleine Schönheitsfehler auf: Erstens war bei Reeds Namen ein e ausgelassen worden, so dass die Steckbriefe einen gewissen Herrn Red beschrieben, zweitens trug er damals noch einen wundervollen Bart und drittens hatte er eine völlig andere Frisur. Das sind alles Dinge, die neben dem zunehmenden Alter das Aussehen eines Menschen ganz gehörig verändern können. - Gesucht wurde er wegen achtfachen Mordes.“

Carol kratzt sich gedankenverloren am Hinterkopf, was bei Richter Harrods für unmerklich zuckende Mundwinkel sorgt. „Allerdings war mir bisher nicht bekannt, dass er sich auch an Postkutschenüberfällen beteiligt, ich hielt ihn immer eher für einen Auftragskiller.“

Reed ist aufgesprungen, soweit die Ketten dies zulassen und flucht: „Du verdammtes kleines Miststück, Du rote Hexe, Du ...“

„Wurden Sie etwa aufgefordert zu reden, Angeklagter? Setzen Sie sich gefälligst wieder hin!“ Scharf peitscht die Stimme des Richters durch den Raum.

Reed lässt sich wieder auf seinen Stuhl fallen und schaut wütend zu Carol hinüber.

„Miss Blake, sind Sie mit ihren Ausführungen fertig oder haben Sie noch etwas hinzuzufügen? Schließlich wurden Sie ja recht rüde unterbrochen.“

„Nein, Euer Ehren, ich habe dem eben Gesagten nichts mehr hinzuzufügen, gedanklich hatte ich schon einen Punkt hinter meinen letzten gesprochenen Satz gesetzt.“

„Nun, dann danke ich Ihnen im Namen der Anklage, der Öffentlichkeit sowie im Namen des Gesetzes. Sie dürfen wieder Platz nehmen.“

Carol nickt Harrods mit einem umwerfenden Augenaufschlag zu, wirft majestätisch den Kopf in den Nacken und setzt sich, nicht ohne vorher einen vernichtenden Blick zu den Mördern zu schicken, wieder neben Widefield. Der drückt ihr lächelnd die Hand und flüstert: „Das hast Du gut gemacht, Darling, die können ihren Kopf nicht mehr aus der Schlinge ziehen.“

In Carols Ohren rauscht es, hat der Boss gerade Darling gesagt, oder hat sie sich verhört? Ihr Herz klopft etwas schneller, ob das Kleid diese für David unglaubliche Gefühlsäußerung hervorgerufen hat oder war es nur eine Floskel? Ihre Gedanken wirbeln und ihr Kopf kann zu keinem Ergebnis kommen.

Der Richter wendet sich dem Mann zu, der mit den Angeklagten zusammen in den Raum gekommen ist. Der Fremde ist, wie er selbst, eigens für diese Verhandlung aus Cheyenne gekommen. ,,Hat die Verteidigung noch Fragen an unsere Zeugin oder möchte der Herr Anwalt noch etwas Wichtiges zu dem Fall beitragen?“

„Nein, Euer Ehren, ich möchte in Anbetracht der Klarheit in diesem Falle mein Amt niederlegen und kein Plädoyer mehr aufrollen, da es doch zu keinem anderen Ergebnis mehr führen würde. Die von den Anklägern vorgetragenen Beschuldigungen sind schlüssig und die Aussage der Zeugin lässt keinen Zweifel an der Schuld meiner Mandanten mehr aufkommen.“

„Ich danke Ihnen, Herr Verteidiger.“

Unter den Angeklagten kommt Unruhe auf und Reed fragt wütend: „Wofür wirst Du feister Drecksack eigentlich bezahlt? Das ist doch keine Verteidigung.“

Harrods lässt sich durch den Zwischenruf nicht beirren. „Somit denke ich, dass wir zu einer Urteilsfindung kommen können, oder möchte sonst noch irgendwer etwas zu diesem Fall vortragen?“

Da sich niemand zu Wort meldet, schaut der Richter die Männer auf der Anklagebank an: „Die Angeklagten haben das letzte Wort.“

Mit böse verkniffenem Gesicht erhebt sich Reed und knurrt: „Das ist alles verdammt gelogen. Wer ist diese dahergelaufene kleine Schlampe überhaupt? Sie haben es doch selbst gehört, das kleine Aas ist eine Vagabundin. Sie versucht nur ihren eigenen Hals zu retten. Sie sollten mal forschen, was dieses miese Stück alles auf dem Kerbholz hat. Vielleicht hat sie ja selbst die Kutsche überfallen. So ein verfluchtes Engelsgesicht, die steht doch mit dem Teufel im Bunde.“

Der Richter lächelt nachsichtig. „Wir debattieren hier nicht über die Integrität unserer Zeugin, Angeklagter, sondern über die Ihnen zur Last gelegten Verbrechen. Wenn Sie nichts weiter zu sagen haben, fordere ich hiermit die Jury auf, sich zu beraten!“

Es dauert nur wenige Minuten, da erhebt sich der gewählte Sprecher der Jury und meldet: „Die Jury ist zu einem einstimmigen Urteil gekommen, Euer Ehren. Wir haben die Männer aufgrund der gehörten Aussagen allesamt für schuldig im Sinne der vorgetragenen Anklagepunkte befunden und fordern die Höchststrafe.“

Der Richter nickt ernst, legt den Stift, mit dem er sich die ganze Verhandlung über Notizen gemacht hat, beiseite und schlägt wieder mit der Faust auf den Tisch, um die aufkeimende Unruhe sofort zu ersticken. Dann steht er auf und fordert alle Anwesenden auf, es ihm gleich zu tun.

„Wir kommen somit zur Urteilsverkündung in den Fällen Bill Trevor, John Craime, Ferod Gainly und Dandy Reed. Im Namen des Volkes des Staates Wyoming verkünde ich folgendes Urteil: Die Geschworenen haben alle Angeklagten für schuldig im Sinne der Anklage befunden und die Höchststrafe gefordert. Somit lautet das Urteil: Tod durch den Strang. Dieses Urteil duldet keinen Aufschub und ist noch am heutigen Tage zu vollstrecken.“

Wieder schlägt er mit der Faust auf den Tisch und erklärt die Verhandlung für beendet.

Die Schaulustigen sind hochzufrieden, dieses Urteil ist in jedermanns Sinne, denn es wird außer dem Prozess noch mehr geboten und die wenig Abwechslung gewohnten Bewohner von Ebony-Town haben endlich wieder für lange Zeit Gesprächsstoff.

Die Galgen sind sowieso schon längst errichtet und jetzt werden die widerstrebenden Verurteilten ins Freie geschleppt. Einen Henker braucht die Einwohnerschaft nicht, das ist eine Arbeit, die sie unentgeltlich selber verrichten können.

Schon nach wenigen Minuten ist der Saloon wie leergefegt, zurück bleiben Fawkes, Widefield, die Geschwister Blake und die Carpenters. Sie alle sind nicht sonderlich scharf darauf, der Urteilsvollstreckung beizuwohnen.

Carol steht mit sehr nachdenklichem Gesicht da, jegliche zur Schau gestellte Überlegenheit ist wieder von ihr abgefallen.

Einen langen Moment herrscht Schweigen, dann erhebt sich Stacy, geht auf Carol zu und reicht ihr die Hand. „Ich gratuliere Ihnen, Miss Carol, das haben Sie großartig gemacht, besser hätte das kein Staatsanwalt im Osten hinkriegen können.“

Sie seufzt: „Stimmt, gleich vier Menschen zum Tode zu verhelfen ist keine Kleinigkeit, aber wenigstens brauchen wir uns vor Reeds Rache nicht mehr zu fürchten, es sei denn, er darf uns als Geist erscheinen.“ Sarkastisch stößt das Mädchen diese Worte hervor.

Auch Susan ist herangekommen und meint: „Das hätte ich nicht gekonnt, ich hätte vor all den Leuten keinen einzigen Ton herausgebracht. Du warst einfach toll, Carol.“

Bill kann es nicht lassen, er muss auch noch seinen Senf dazugeben. „Du hattest Dein Temperament super unter Kontrolle. Meine Anerkennung! Der Richter war tierisch beeindruckt von Dir.“

Durch diese Bemerkung scheint das rothaarige Girl wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Sie schaut den Sheriff an, eilt auf ihn zu, rammt ihm mit Wucht ihren Ellenbogen in die Rippen und fragt gespielt selbstbewusst: „Aber sonst geht es Dir noch Danke, was? Was sollte das denn nun bitte schön mal wieder heißen? Ich bin weder eine Irre, die normalerweise tobt, noch habe ich mit dem Richter geflirtet.“

Bill grinst und prustet: „Dein Augenaufschlag sah aber doch ein wenig danach aus.“

Nun lächelt Carol zuckersüß, aber unecht: „Ach, das hast Du bemerkt? Du bist ja ein ganz aufmerksames Kerlchen.“

Alle noch Anwesenden merken trotz der Frotzelei, dass sich das Mädchen gekonnt verstellt. Es hat sie sehr viel Kraft gekostet, so vernichtend auszusagen. Nur durch Ihre belastende Aussage sind vier Menschen an den Galgen gekommen, auch wenn sie dieses Urteil wirklich verdient haben und durch die Vollstreckung der Menschheit ein Dienst erwiesen wird. Dass sie maßgeblich an der Urteilsfindung beteiligt war, ist für das Kind nur schwer zu verkraften, auch wenn sie dies niemals freiwillig zugeben würde.

Als die sieben Menschen den Saloon verlassen, wird gerade das Urteil an Dandy Reed vollstreckt. Wie drohende Zeigefinger erheben sich die Galgen gegen die Mittagssonne und die Toten bewegen sich leise im warmen Wind.

Noch vor kurzer Zeit waren sie an den Gerüsten vorbeigegangen, ohne von Ihnen Notiz zu nehmen, jetzt blickt jeder unangenehm berührt hinüber. Die direkte Konfrontation mit dem Tod ist doch immer wieder eine Sache, die einem die Unzulänglichkeit des Lebens hautnah vor Augen führt.

Susan wendet sich schaudernd ab, doch Carol genügt der eine Blick auf die Leichen. Sie hat das Gefühl, der Boden würde unter ihren Füßen weggezogen, der Hals schnürt sich ihr zusammen, der Atem wird knapp, über ihren Rücken läuft kalter Schweiß. Das unschöne Bild verschwimmt, ihr wird schwarz vor Augen und eine gnädige Ohnmacht ergreift von ihr Besitz. Sie taumelt und bricht lautlos zusammen.

Der hinter ihr stehende Vormann sieht sie schwanken und kann das Girl im allerletzten Moment noch auffangen.

Der Mann starrt auf die wächserne Puppenstarre in ihrem Gesicht und die rote Haarsträhne, die ihr über die Augen gefallen ist. Automatisch streicht er sie fort und fühlt sich völlig hilflos. In solch einer Situation hat er sich sein Lebtag noch nicht befunden. Er blickt immer noch auf Carol. Sie hat noch nie so weiblich, so beschützenswert ausgesehen und plötzlich merkt der sonst so kühle, beherrschte Mann, dass ihm sein Herz bis zum Hals hinauf schlägt und dass ihm mehr an dem Kind liegt, als er es sich je hätte eingestehen wollen.

Alle sind entsetzt herumgefahren und der immer selbstsichere, überlegene Mann blickt etwas verwirrt um sich. Einstimmig wird beschlossen, das junge Mädchen zum Arzt zu bringen.

„Ich würde vorschlagen, dass die junge Dame erst mal ein paar Tage im Bett verbringt“, meint Doc Steel, nachdem er das Kind gründlich untersucht hat. „Dieser Prozess und das ganze Drumherum waren einfach zu viel für ihre Psyche. Die unruhigen Jahre nach dem Tod ihrer Eltern haben ihre unübersehbaren Spuren hinterlassen. Carol ist mit den Nerven einfach völlig am Ende. Ihr Körper und auch Ihre Seele verlangen endlich ein Tribut für alle Entbehrungen. Ich gebe ihr jetzt ein Mittel, darauf wird sie ein paar Stunden wunderbar fest schlafen und dann ist schon die Hälfte gewonnen. In einigen Tagen ist sie wieder topfit. Solange allerdings sollte sie sich etwas schonen! Kein Organismus kann pausenlos auf Hochtouren unter Dampf laufen, irgendwann ist einfach Ende.“

Der Doktor geht an seinen Schrank und hantiert dort mit einem Fläschchen, in dem sich eine klare Flüssigkeit befindet.

„Miss Susan, könnten Sie wohl Miss Carols rechten Arm frei machen?“

Susan tut, wie ihr aufgetragen und schiebt Carols rechten Ärmel in die Höhe. Der Arzt guckt und wiegt den Kopf, dann spitzt er die Lippen und stößt einen leisen Pfiff aus. „Ganz schöne Brandnarben. Was hat das arme Kind schon alles mitmachen müssen. Das reicht ja für mindestens fünf Leben. Er macht mit einem Messerchen zwei kleine Ritzer in Carols Haut.

„So, jetzt können nicht einmal mehr zehn Explosionen sie wecken, aber in ein paar Tagen ist alles wieder okay, dann ist sie mopsfidel und in der Lage, Ihnen wieder alle Nerven zu rauben.“

Er schiebt den Ärmel noch einmal hoch. „Weiß jemand, woher diese Narben stammen?“

John nickt: „Sie hat mir erzählt, dass Nachbarskinder mal eine Hexenverbrennung mit ihr inszeniert haben.“ Susan ergänzt: „Da muss sie noch ziemlich klein gewesen sein, denn sie konnte mir kaum erzählen, wie das eigentlich von statten gegangen ist.“

Ungläubig schüttelt der Arzt den Kopf „In was für einer schrecklichen Welt leben wir eigentlich? Das wird ja immer verrückter, wo soll so etwas nur noch hinführen?“ Wieder schüttelt er sein Haupt. „Na, bringen Sie den Unglückswurm erst mal nach Willow-Tree und achten Sie darauf, dass sie sich schont, dann ist, wie schon gesagt, in ein bis zwei Tagen alles vergessen.“

„Hoffentlich“, meint der Vormann ernst und trägt seinen ,Cowboy‘ behutsam zum Wagen.

Wie schnell Menschen doch ihre Meinung ändern können. Am ersten Tag, und der liegt erst etwas über einen Monat zurück, hätte der Mann das ungezogene Gör am liebsten übers Knie gelegt und ihr gehörig seine Meinung gesagt und jetzt bekommt er Herzklopfen, wenn er nur an sie denkt. Was kaum einer für möglich halten würde, am wenigsten er selbst, ist eingetreten. Der Mann, der seine Gefühle immer so einhundertprozentig unter Kontrolle hat, ist verliebt, verliebt bis über beide Ohren.

Als Carol wieder zu sich kommt, sitzt Susy an ihrem Bett und sagt mit einem etwas vorwurfsvollen Unterton in der Stimme: „Oh Mann, Carol, Du machst aber Sachen, uns einfach so umzukippen. Du hättest uns doch sagen müssen, dass Du Dich nicht wohl fühlst.“

Das rothaarige Mädchen ist noch etwas verwirrt und außerdem dröhnt ihr der Kopf wie nach einer Sprengung in einer Silbermine.

„Wie, wie komme ich hier in mein Bett? Wir waren doch eben noch in der Stadt vor den . . . , oh, mir wird schon wieder schlecht.“ Ihre Stimme erstirbt, sie presst die Hände vor den Mund, würgt und lässt sich in die Kissen zurücksinken.

„Du bist ganz plötzlich ohnmächtig geworden und dabei hast Du uns allen einen fürchterlichen Schrecken eingejagt.“

„Au Backe, war ich lange auf Tauchstation? So schlecht wie es mir ist, bin ich innerlich schon am Verwesen.“

Susan lächelt. „Na, es ging so, zumindest lebst Du aber noch. Wir haben Dich zum Doktor gebracht, der hat Dich untersucht und Du hast nichts davon bemerkt. Dann hat er Dir aber was zum Schlafen gegeben, das ist jetzt so ungefähr fünf Stunden her. Ich kann Dir also nicht genau sagen, wie lange Du ohnmächtig warst.“

„Was, so lange war ich weg? Das darf doch wohl nicht wahr sein.“

Carol will die Bettdecke zurückschlagen, doch die Freundin hindert sie sanft daran. „Du musst leider ein paar Tage im Bett bleiben. Anweisung vom Doc! Du bist nervlich völlig überlastet hat er gesagt, aber er meinte dann, in einigen Tagen bist Du wieder absolut in Ordnung.“

„In ein paar Tagen? Ist der denn von allen guten Geistern verlassen? Ich denke nicht einmal im Traum daran, hier noch länger liegen zu bleiben. Mir geht es hervorragend, um nicht zu sagen glänzend. Ich habe nur einen wahnsinnigen Durst.“

Das Girl greift nach dem Glas, welches ihr Susan hinhält und leert es in einem Zug.

„Auch wenn Du im Traum nicht daran denkst, im Bett zu bleiben, in der Realität wirst Du es schon tun. Du bist doch ein vernünftiger Mensch, Darling und kein kleines Kind mehr. Nun sei hübsch brav, ich habe noch viel zu tun. Die Boys werden froh sein, wenn sie hören, dass Du schon wieder obenauf bist.“

Die Enkelin des Ranchers ist aufgestanden und lächelt. „Hast Du irgendeinen Wunsch, soll ich Dir jemanden schicken?“

Carol zieht eine Schnute. „Ja, Du kannst Silky raufbringen.“

„Carol, denk an Deine Nerven.“

„Die sind mir schnurzpiepegal!“

Susan lacht und verlässt das Zimmer. Carol bleibt alleine zurück. Trotzig brummelt sie vor sich hin: „So was bescheuertes, einen kerngesunden Menschen ins Bett zu stecken, es ist nicht zu fassen. In meinem ganzen Leben bin ich noch nicht ernsthaft krank gewesen.“ Die kleinen bis mittleren ,Unfälle‘ ignoriert sie einfach und eine Influenza zählt nicht.

Den Rest des Nachmittags verbringt Carol damit, Besucher zu empfangen. Jeder Cowboy schaut mal kurz bei ihr vorbei, so kann das Girl wenigstens nicht auf dumme Gedanken kommen. Alle sagen ihr, sie solle sich ausruhen und ein wenig schlafen, dabei ist sie in ihrem ganzen Leben noch nie so wach und munter gewesen. Außerdem geht ihr die ewig gleiche Leier langsam auf die Nerven.

Ein Lichtblick ist Stacy, der sich lange Zeit für das junge Mädchen nimmt. Sie unterhalten sich über Gott und die Welt und der junge Mann ist ehrlich erstaunt, über wie viel Allgemeinbildung das Kind verfügt. Bisher hat er sie kaum beachtet. Sie war zwar da, aber eben eine Angestellte seines Großvaters, ohne richtige Schulbildung und mit reichlich merkwürdigen Manieren. Offiziell, hat der Rancher ihm erzählt, ist sie dem Vormann unterstellt und damit ein Cowboy. Aber wahrscheinlich hat der Alte eher an Susan gedacht und gönnt sich nun diesen Spleen. Doch schon im Gerichtssaal hat der junge Mann seine Meinung bezüglich ihrer Manieren ein wenig revidiert, denn ihr Auftreten dort war fehlerfrei und absolut wohlerzogen. Und nun muss er auch noch feststellen, dass er es mit einem sehr intelligenten Wesen zu tun hat und es ist in seinen Augen bedauerlich, dass das Girl niemals in der Lage war, etwas aus seiner Intelligenz zu machen.

Auch Carol genießt das Gespräch. Sie hört dem jungen Mann sehr genau zu und jedes Wort seiner Erzählungen nimmt sie in sich auf. Sie bewundert Stacy, er ist klug, hat gute Manieren, ist gepflegt vom Scheitel bis zur Sohle und scheint irgendwie über den Dingen zu stehen. Sie ist stolz, dass er sich so lange mit einem dummen Kind wie ihr beschäftigt, gleichzeitig flößt er ihr regelrechten Respekt ein.

Nachdem er sie verlassen hat, denkt sie lange nach, dann dankt sie ihrem Schicksal, das es ihr ermöglicht hat, solche Menschen kennen zu lernen.

In diese Gedanken ertönt ein Klopfen an der Tür. „Hallo, Carol, wie geht es Dir? Was machen Deine Nerven?“

„Hallo, Boss. Nach meinen Nerven brauchst Du gar nicht erst zu fragen, sonst werde ich erst richtig nervös. Meine Nerven fangen schon an, Walzer zu tanzen.“

Der Vormann lacht. „Aha, Du hast moderne Nerven, ausgerechnet Walzer.“

„So was Dummes. Ich liege hier faul rum und ihr habt jede Menge Arbeit. Das ist vielleicht eine saublöde, gesunde Krankheit. Am liebsten würde ich sofort aufstehen, ich fühle mich nämlich ganz ausgezeichnet.“

„Das mit dem Aufstehen lässt Du man lieber noch bleiben. Nächste Woche haben wir doch den Viehtrieb nach Texas und da möchtest Du ja wohl mitkommen Cowboy, oder?“

Widefield schmunzelt und Carol meint grinsend: „Aber immer, so schnell werdet ihr mich nicht quitt, das glaubt man bloß nicht.“

Der Vormann wechselt das Thema. „Ich war heute schon mal bei Silky, der arme Kerl fühlt sich ganz verlassen. Du bist sonst sicher jeden Tag mit ihm zusammen gewesen.“

Der Blick des Mädchens geht in die Ferne und sie seufzt: „Oh ja, Tag und Nacht. Er war ja der einzige, den ich nach dem Tode meiner Eltern hatte. Ich habe mich stundenlang mit ihm unterhalten und es kam mir immer so vor, als würde er mir ganz genau zuhören und jedes meiner Worte verstehen.“ Sie grinst: „Außerdem gibt er keine Widerworte.“

„Das kann ich mir lebhaft vorstellen, Du im Monolog mit Deinem Gaul. Ich werde nachher noch einmal zu ihm gehen, damit er merkt, dass er nicht vergessen wurde.“

„Ach Boss, das ist lieb von Dir, aber ich bitte Dich, versuche nicht, ihn zu reiten. Du weißt ja, wie der Mustang darauf reagiert.“

„Als ob er nicht zugeritten wäre. Ich habe dies schon mit Erstaunen zur Kenntnis genommen.“

Es ist dunkel geworden und Carol wird zunehmend unruhiger. Sie wartet darauf, dass alle im Haus schlafen gehen. James Carpenter ist der letzte, der sich in seinem Zimmer zur Ruhe begibt.

Kurze Zeit später ist alles ganz still und für Carol ist der ersehnte Augenblick gekommen. Sie wirft die Bettdecke zurück und erhebt sich leise. Hastig kleidet sie sich an und ist vorsichtig darauf bedacht, möglichst kein Geräusch zu machen.

Leise und mit angehaltenem Atem öffnet sie ihre Zimmertür, bleibt einen Moment stehen und lauscht. Dann tapst sie fast lautlos den Flur entlang und die Treppe hinunter.

Erst als sie nahezu geräuschlos die Haustür hinter sich geschlossen hat, atmet sie erleichtert auf. Der schwierigste Teil ihres Unternehmens hat geklappt.

Ein rascher Blick zur Cowboy-Unterkunft und zum Vormann-Haus sagt ihr, dass sie ganz beruhigt sein kann, denn es brennt kein Licht mehr. Die Männer, die am Morgen sehr früh aufstehen müssen, liegen schon in festem Schlaf

Das rothaarige Mädchen läuft über den Vorplatz zum Stall, öffnet die Tür und ist froh, dass diese nicht knarrt oder quietscht. Dann tastet sie sich in die Dunkelheit hinein. Sie hört das Atmen und leise Schnauben der Pferde und vor ihr im Stroh raschelt irgendwo eine Maus.

Sie schafft es tatsächlich, alle Hindernisse recht leise zu umgehen, wäre aber beinahe über einen Strohhaufen gefallen, der sie am Morgen sofort verraten hätte, denn nur sie hat Veranlassung, sich zu nachtschlafender Zeit und ohne Lampe im Stall herumzutreiben.

Ab und zu bleibt sie lauschend stehen und um ein Haar wäre sie über irgendeinen in der Dunkelheit undefinierbaren Gegenstand gestolpert, doch dann, auf halber Strecke passiert es. Sie stößt eine Forke um, die einen Blech-Eimer von einem Hocker reißt, der mit einem unheimlichen Gepolter umfällt und mit einem ohrenbetäubenden Scheppern auf den Stallboden knallt.

Ein sehr undamenhaftes ,,Scheiße, war das laut!“, ist die Reaktion. Einen Augenblick hält das Kind die Luft an, um angestrengt in die Finsternis zu lauschen. Sie hört aber nichts weiter, als ihr eigenes Herz, das laute Trommelwirbel in ihrer Brust schlägt und das nach wie vor ruhige Atmen der Pferde, die sich gottlob nicht erschreckt haben und laut stampfen oder wiehern.

Langsam gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit. Das Girl kümmert sich nicht weiter um die am Boden liegende Mistgabel und den Eimer, sondern setzt seinen Weg fort. Sie kann doch nicht so kurz vor dem Ziel aufgeben, das wäre wider ihre Natur. Außerdem haben die Männer einen gesunden Schlaf, den Lärm wird schon niemand gehört haben.

Endlich ist sie in Silkys Box. Sie streichelt dem geliebten Tier über das schwarze Fell, schmiegt sich an den Hengst und dieser reibt seine Nase an der Herrin Arm, als plötzlich ein Lichtstrahl von der Tür her auf die beiden fällt.

Erschrocken dreht sich das Girl um und starrt mit offenem Mund zur Stalltür. Dort sieht sie die große Gestalt des Vormanns, der mit seiner Petroleumlampe in den Stall hineinleuchtet.

Der Mann mit dem Indianerblut hat einen sehr leichten Schlaf und einen überaus ausgeprägten Instinkt. Das Geräusch des fallenden Eimers hat ihn geweckt und sein Unterbewusstsein registrierte den Knall sofort als unnatürlich.

Er kommt ein wenig schwerfällig auf das Mädchen zu und meint missbilligend: „Das habe ich mir doch fast gedacht.“

Mit weit aufgerissenen Augen blickt Carol ihm entgegen, dann schluckt sie und fragt mit einem gequälten Lächeln: „Hast Du es scheppern hören? Ich bin über die Mistgabel gestolpert.“

Der Mann fasst das Kind hart an den Schultern. Silky schnaubt leise und stößt ihn eifersüchtig mit seinem weichen Maul an.

„So wirst Du niemals gesund, Mädchen.“

„Ach, Quark, ich bin doch gar nicht krank. Ihr tut ja grade so, als ob ich näher am Sterben dran bin, als ein hundertjähriger Methusalem.“

„Carol, Du übertreibst maßlos. Aber ganz offen gesagt, Du kannst doch gar nicht ganz gesund sein. Es ist doch nicht in Ordnung, wenn eine noch nicht einmal Sechzehnjährige mit den Nerven soweit herunter ist, dass sie aus Schwäche zusammenklappt.“

„Hm“, brummelt Carol leise, „aus Schwäche, na ja, so kann man es allerdings auch auslegen.“

„Kleines Mädchen, Du bist unvernünftig. Was willst du damit sagen?“

„Damit will ich nur zum Ausdruck bringen, dass jeder meine Schwäche anders auslegen kann. Ich behaupte nämlich, dass mir nur durch den Gedanken, dass ich es war, die mit ihrer Aussage die Männer an den Galgen gebracht hat, übel wurde. Und als ich dann die Leichen gesehen habe, wie die so im Wind baumelten, bin ich eben ein wenig weggetreten. Und nun liegt es an Dir, mir bitte sehr, das Gegenteil zu beweisen.“ Carol schüttelt sich. „Mir wird es jetzt noch ganz schlecht, wenn ich daran denke.“

„Also doch schwache Nerven.“

„Noch ein Wort über meine Nerven, Boss und ich kriege einen Tobsuchtsanfall. Ich denke eher, es ist mein Magen, der mir zu schaffen macht. Das viele gute Futter hier auf der Ranch bekommt mir nicht.“ Das Mädchen ist jetzt in der Tat sehr nervös. Ihre Nerven sind wirklich bis zum Zerreißen gespannt, denn sie würde sich gerne aus ihrer etwas misslichen Lage befreien. Es ist ihr peinlich, dass ausgerechnet ihr Boss sie entdecken musste. ‚Wie komme ich aus dieser prekären Situation bloß wieder raus?‘

Plötzlich bekommt ihr Blick einen spitzbübischen Ausdruck. „Ach übrigens, ich habe eins feststellen müssen, ich habe keinen einzigen auch nur noch so winzigen blauen Fleck, keine Schramme, nichts. Daraus folgere ich, dass mich jemand aufgefangen haben muss, während ich umgefallen bin.“

Wie ein rettender Strohhalm ist ihr diese Idee in den Sinn geschossen. Sie erinnert sich genau, dass David unmittelbar hinter ihr gestanden hat, als es ihr übel wurde und nur er kann . . .

„Richtig, Du bist mir genau in die Arme gesunken.“ Der Mann schmunzelt, worauf will der kleine Satansbraten hinaus? Irgendetwas führt sie im Schilde, er ist auf der Hut.

Carol schluckt. Sie hat todesmutig einen Entschluss gefasst und hofft, dass sie damit dem Griff des kräftigen Mannes entkommen kann. Sie holt tief Luft. „Mh, dafür würde ich mich ja ganz gerne bei Dir bedanken, aber solange Du mich wie ein Schraubstock festhältst, kann ich das nicht.“

Misstrauisch lässt er langsam die Hände sinken. Carols Herz hämmert wie verrückt, blitzschnell gibt sie dem Vormann einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ergreift sofort die Gelegenheit und die Flucht.

Doch der Indian, der schließlich auch nur ein Mann ist, hat sich so etwas Ähnliches schon fast gedacht. Er ist daher schneller und bekommt sie wieder am Arm zu fassen.

„Holla, mein kleines Fräulein, dafür habe ich Dich nicht losgelassen, damit Du mir jetzt ungestraft stiften gehst.“

„Au, Du Grobian, Du tust mir weh, lass mich gefälligst los!“

„Damit Du mir gleich wieder davonrennst? Nein, nein. Erst bringe ich Dich ins Bett, um ganz sicher zu sein, dass Du nicht noch einen nächtlichen Ausflug unternimmst.“

„Hach“, sie faucht wie eine wütende Wildkatze. „Das könnte Dir so gefallen, Du Lustmolch. Du sollst mich loslassen! Ich finde mein Bett ganz alleine. Ich brauche keine Gouvernante, und Dich schon gar nicht!“

Sie versucht sich aus der schmerzhaften Umklammerung zu lösen, aber der Vormann ist viel stärker, als das schmächtige Girl und er ist auch nicht bereit, aufzugeben. Tief in seinem Innersten hat er Angst, dass das Mädchen wieder vom Reisefieber gepackt werden könnte. Er ist sich nicht schlüssig darüber, was er tun soll.

Derweil verlegt sich Carol auf Betteln. „Bitte, bitte, lieber Vormann, lass mich doch los!“

„Kommt drauf an. Was bekomme ich dafür?“

Das Mädchen ringt mit sich, glaubt sie doch zu ahnen, worauf er mit dieser Frage hinaus will. Sie ist trotz aller Fehler immer ein anständiges Mädchen geblieben und das, an was der Mann zu denken scheint, tut ein anständiges Mädchen nun einmal nicht, dennoch fragt sie zaghaft, als müsse sie eine Todsünde begehen: „Würdest Du Dich denn mit einem“, sie senkt die Stimme zu einem fast tonlosen Flüstern und schluckt, „würdest Du Dich mit einem Kuss zufrieden geben?“

Der Mann ist verblüfft, er hatte gedacht, sie würde beteuern, ganz brav ins Bett zu gehen und nach ihrer Genesung ganz besonders gute Arbeit zu leisten, aber ein solches Angebot, das hätte er im Leben nicht erwartet. Er tut, als müsse er sich diese Reueleistung erst genau durch den Kopf gehen lassen und wiegt denselben, dann sagt er: „Angenommen!“

Typisch Mann, die Kerle sind doch alle gleich.

„Okay“, murmelt das Girl ergeben, sie hat sich das Ungeheuerliche schließlich selbst eingebrockt. Was für ein Glück, dass es wenigstens fast dunkel ist. „Kannst Du haben, schließlich kostet der keinen Cent!“, fügt sie noch hinzu und denkt: ,Aber eine Menge an Überwindung.‘

„Aber bitte nicht so flüchtig und wenn es geht, ohne Flucht.“

Carol bekommt einen roten Kopf und knurrt: „Aber schüchtern bist Du gar nicht, was?“

Das Herz klopft ihr bis zum Hals, ihr Magen rebelliert schon wieder, Panik steigt in ihr auf, sie hat irgendwelche Geister gerufen, die sie nun nicht mehr verjagen kann. Ihr schießt ein flüchtiger Gedanke durch den Kopf. Sie hat sich schon einmal in einer fast ähnlichen Situation befunden, allein mit einem Mann im Dunkeln. Allerdings hatte sie damals nichts vorher getan und die Lage heraufbeschworen, dennoch wäre ihr die Situation fast zum Verhängnis geworden. Nur durch ganz glückliche Umstände konnte damals eine Vergewaltigung abgewendet werden.

Sie verscheucht den beängstigenden Gedanken sofort. Soweit wird es heute ja wohl nicht kommen, schließlich ist er doch ihr Boss und bestimmt kein Vergewaltiger. Sie starrt an dem Mann vorbei ins Dunkel.

Auf ihre Frage nach seiner Schüchternheit schüttelt er nur den Kopf, beugt sich dann zu ihr herab und küsst sie. Das Girl presst die Lippen ganz fest aufeinander, fühlt seinen nackten Oberkörper und macht sich stocksteif

Es ist der erste Kuss in ihrem jungen Leben, den sie von einem Mann auf die Lippen bekommt, ausgenommen von ihrem Vater und ihrem Bruder, aber das ist alles lange, lange her. Nur heute ist das Schlimme daran, sie selbst hat den Mann dazu aufgefordert.

Carol ist in dieser Hinsicht sehr streng erzogen worden und im Geiste sieht sie den erhobenen Zeigefinger ihrer Mutter vor sich: ,Siehst Du, Carol, ich habe Dich immer gewarnt. Vor Männern muss sich ein anständiges Mädchen stets ich acht nehmen, ganz besonders, wenn sie irgendeine Autorität darstellen. Reicht man einem Mann auch nur den kleinen Finger, nimmt der einen gleich ganz.’

Mutters Gesicht löst sich auf und das Mädchen denkt an ihre beiden Wanderjahre, in denen sie genügend Saloongirls kennen gelernt hat und sie hat die Art, wie diese Frauen sich ihren Lebensunterhalt verdienen, immer auf das Tiefste verabscheut, obwohl sie nie ganz dahintergekommen ist, wofür die Männer eigentlich bezahlen.

Der Vormann spürt den starken inneren Widerstand, den Carol ihm entgegenbringt und er muss ungewollt lächeln. Bei dem verlockenden Angebot des Girls hatte er schon befürchtet, das Kind hätte reichlich Erfahrungen gesammelt, doch dieses Prachtmädchen scheint glücklicherweise in erotischer Hinsicht noch völlig unerfahren zu sein. Wenigstens da hat die rastlose Zeit keine bösen Spuren hinterlassen.

Nun tut sie ihm leid und er verflucht sich für seine Handlungsweise, aber schließlich ist er nur ein ganz normaler Mann und Carol ist die süßeste Frucht, die er jemals gesehen hat.

Er fasst den kleinen Racker am Arm und führt sie aus der Scheune. Er geleitet sie über den ganzen Vorplatz bis zum Wohnhaus und reicht ihr die Hand. „Nun bist Du aber brav und gehst sofort ins Bett, wie sich das für artige kleine Mädchen, die krank sind, gehört, nicht wahr? Für heute Nacht hast Du genug Unfug gemacht.“

Sie lächelt und flüstert: „Ich verspreche es Dir!“, dann schließt sich die Eingangstür hinter ihr.

Der Vormann starrt auf die Stelle, wo das Girl verschwunden ist und holt tief Luft. Dieses rothaarige kleine Wesen hat den nüchternen, immer sachlichen Mann völlig verhext. Sein Herz klopft, wie er es nur selten nach dem Zusammentreffen mit einer Frau erlebt hat.

„Jetzt bist Du total verrückt geworden, Alter!“, schimpft er mit sich selbst. „Carol ist doch noch ein halbes Kind.“

Kopfschüttelnd und mit sich selber völlig unzufrieden, kehrt Widefield in sein Vormann-Haus zurück. Er kann sich nicht gegen seine Gefühle wehren. Dieses unschuldige, süße Kind mit den zwei so gegensätzlichen Wesensarten hat ihm sein Herz gestohlen. Noch vor vier Wochen hätte er sie noch am liebsten gehörig versohlt und anschließen irgendwo hingeschickt, wo eine junge Dame alles lernt, was eine anständige Frau, die vielleicht einmal Mann und Kinder haben wird, wissen muss. Und jetzt weicht auf einmal das Gefühl ein dummes Gör vor sich zu haben dem Blick auf eine bezaubernde, begehrenswerte junge Frau. Ihm fallen Bills Worte ein: ‚Du bist blind, mein Freund‘, und er versteht, was der Sheriff da schon erkannt hat. Hoffentlich hat er sie nicht so verschreckt, dass sie die Willow-Tree-Ranch nun genauso schnell wieder verlässt, wie sie herein gewirbelt ist. Er könnte sich ohrfeigen für seine Willensschwäche, er fühlt sich fast wie ein Vergewaltiger, auch wenn Carol ihn doch mächtig provoziert hat.

Als Carol die Tür hinter sich geschlossen hat, bleibt sie einen Augenblick mit dem Rücken an das Holz gelehnt stehen. Sie ist atemlos, als wäre sie eine lange Strecke sehr schnell gerannt.

Sie fühlt sich ganz merkwürdig, so leicht, als könne die ganze Welt nur Schönheiten bergen. So wundervoll hat sich das Kind noch nie gefühlt, sie ist irgendwie glücklich, ohne genau zu wissen, warum. Leider mischt sich in dieses Glücksgefühl sofort eine gewisse Scham. Was muss der Mann nun bloß von ihr denken? Bestimmt hält er sie jetzt für ein völlig schamloses Flittchen, das sich jedem Kerl sofort an den Hals wirft.

„Ach was, “ murmelt sie leise, diesen Gedanken schnell von sich weisend. „Er ist ein erwachsener Mann. Der hält mich jetzt höchstens für ein ganz dummes, kleines Kind, unreif wie eine grüne Pflaume.“

Ihre Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt und sie schleicht leise, um niemanden zu wecken, in ihr Zimmer zurück. Das wäre noch die Krönung des Abends, wenn irgendwer etwas von ihrem nächtlichen Abenteuer erfahren würde. Diese Blamage könnte sie nicht überleben.


Nur ein Tropfen Leben

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