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18. Tag des Mena im 23. Jahr Satons

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An der Westküste Cycalas' waren nur selten Menschen zu beobachten. Es gab hier wegen der derben Winterstürme und der kargen Landschaft keine Siedlungen und wer gerne am Meer leben wollte, zog den inneren Sichelbogen im Osten vor, wo man der unbarmherzigen Natur nicht ganz so hilflos ausgeliefert war.

In diesem Frühling aber erfreute sich der felsige Landstrich, der in einer kiesbedeckten Bucht endete, zunehmender Beliebtheit bei Schaulustigen aus dem ganzen Land. Besonders aus Askaryan und Semon-Sey kamen immer wieder Wanderer hierher, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten und findige Händler boten gegen einen saftigen Preis sogar an, den einen oder anderen auf ihrem Wagen mitzunehmen und einen Umweg über die Küste zu fahren. Dabei gab es die meiste Zeit über gar nichts allzu Aufregendes zu sehen. Natürlich, die großen Schiffe und Barken der Geliebten der Erde boten ein eindrucksvolles Bild, ebenso die wachhabenden Soldaten, aber die sagenhaften Silberschätzen des Reichs, die als Fracht an Bord gebracht wurden, blieben dem gewöhnlichen Zuschauer verborgen. Zu streng wurden die Truhen mit dem kostbaren Metall bewacht und zur Nachtstunde, wenn die Übergabe an die Kapitäne erfolgte, durfte sich kein Unbefugter den Laderampen nähern.

Trotzdem galt es als Ehre, bei diesem eigentlich historischen Ereignis dabei zu sein. Zum ersten Mal verließen die Heiligtümer Cycalas' das Land und zum ersten Mal strebten Sichelländer an, außerhalb ihrer eigenen Grenzen sesshaft zu werden. Natürlich sollte es kein dauerhafter Zustand sein. Niemand dachte daran, auf der weit im Südwesten gelegenen Abendinsel mehr als ein vorübergehendes Lager zu errichten, keine Rede war von Dörfern oder Städten und die Frage, ob man zu den rückständigen Fremdvölkern Kontakt aufnehmen würde, war immer noch nicht beantwortet. Aber es war ein Schritt, wie es ihn noch nie zuvor gegeben hatte.

Mehr als nur eine kurzer Vorstoß der Krieger in den Shanguin-Gürtel oder nach Zrundir.

Mehr als nur eine Expedition nach Valahir.

Viel mehr.

Saton fand in diesen Tagen nur selten Schlaf. Der Shaj der Nacht verbrachte viel Zeit damit, das Verladen des Silbers selbst zu überwachen und noch mehr Zeit mit langen Gesprächen im Großen Saal. Die Dunen, die obersten Handwerker des Landes, waren froh, dass der höchste Gebieter der Nacht so eng mit ihrem eigenen Oberhaupt Ron-Caha-Hel zusammenarbeitete und ihnen so allen nur erdenklichen Schutz zusicherte. Und auch Maliss, die Shaj des Himmels, suchte ständig seinen Rat, denn immerhin spielten die Priester des Landes eine gewichtige Rolle in dieser Geschichte. Saton konnte sich nicht erinnern, wann die drei Säulen jemals so aufeinander angewiesen waren – in einer Angelegenheit, die sich fernab des Sichellandes zutragen sollte. Und er war froh, dass er den beiden anderen Herrschern voll und ganz vertrauen konnte. Es war nicht selbstverständlich, wie ihn die Geschichte der Shajs gelehrt hatte.

Auf einem großen Platz mit gestampfter Erde hatten Handwerker ein gewaltiges Zelt aufgebaut. Hier hielten sich die höchsten Würdenträger die meiste Zeit über auf, wenn nicht gerade das Silber an die Schiffe übergeben wurde. Audienzen für Kapitäne und Minenvorsteher wurden hier ebenso abgehalten wie die Vorträge der Kundschafter und Säbelwächter und selbst die gemeinsamen Mahlzeiten der Shajs und ihrer Erwählten fanden hier statt, sofern sich die Herrscher nicht in ihre eigenen kleinen Ruhezelte etwas abseits zurückzogen.

Doch zum Ruhen kamen sie kaum.

Saton sehnte sich insgeheim nach seinem kühlen Schlafzimmer in Vas-Zarac und fragte sich, wann er der drückenden Hitze, die dank des sonnenreichen Frühlings im großen Empfangszelt herrschte, endlich entfliehen konnte. Er musste sich beherrschen, dem Bericht der beiden Dunen zu folgen und seine Gedanken nicht abschweifen zu lassen.

„ ...noch etwa zwei bis drei Wochen rechnen. Viel früher sollten wir nicht ablegen, zumal das Wetter draußen auf See noch zu unbeständig ist. Wir liegen also gut im Zeitplan.“ sagte der eine gerade.

Saton nickte geistesabwesend. Im Grunde lief alles zu seiner Zufriedenheit. Sie würden die Sommermonate voll und ganz zum Transport des Silbers nutzen, um dann im Herbst und Winter, der im Süden sehr viel milder war als im Sichelland, die Ritualplätze auf der Insel zu errichten und ein Lager aufzubauen. Alles war von langer Hand und im Detail geplant und sie durften jetzt nicht den Fehler machen und den einen oder anderen Schritt überhastet angehen. Dies den Mitwirkenden dieser Planung klarzumachen, war vielleicht das schwierigste Unterfangen, denn alle brannten darauf, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

„Und wenn die Schiffe in ein paar Wochen zurückkehren, werden die neuen Lieferungen bereits hier bereitstehen. Spätestens zu Beginn des Halos haben wir alles Silber nach Süden geschafft, bis auf den Teil, der hier wie sonst auch verarbeitet wird.“

„Hmmm...“ machte Saton. „Ihr leistet gute Arbeit. Wollt ihr euch nicht eine Pause gönnen?“

Die beiden Dunen sahen sich überrascht an.

„Eine Pause? Herr, wir sind überhaupt nicht müde! Wir können heute noch die gesamten Lieferungen, die gemeldet sind, verladen und...“

„Tut das. Tut das... Ist Wandan schon eingetroffen?“

„Wandan?“ Verwirrt zuckte einer der beiden die Achseln. „Das... das wissen wir nicht, Herr. Wir sollten euch nur von der Verladung berichten, aber wenn ihr es wünscht, ...“

„Nein... nein. Geht ruhig. Schickt mir Beleb herein.“

„Sehr wohl, Herr.“

Es dauerte nicht lange und ein Cas mit kurzgeschorenem Haar und stoppeligem Kinn trat ein. Sofort suchten die Schreiber und Priester, die sich in einer Zeltecke zusammengesetzt hatten, ihre Habseligkeiten zusammen und ließen den Shaj mit dem Krieger allein. Jeder wusste, dass Saton nicht duldete, dass Gespräche zwischen ihm und den Cas belauscht wurden.

„Wandan wird in etwa einer Stunde hier sein.“ meldete Beleb und ließ sich dankbar auf dem Hocker nieder, den Saton ihm anbot. „Er wurde an den Ställen aufgehalten, aber er beeilt sich.“

„Gut. Du glaubst gar nicht, wie zuwider mir das hier ist. Zwei der wichtigsten Ereignisse überhaupt treffen zusammen und ich sollte beiden meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Wenn ich hier bin, denke ich, dass meine Anwesenheit in den Kasernen viel nötiger wäre. Kehre ich aber nach Semon-Sey zurück, frage ich mich, was an der Küste vorgeht.“

Beleb lächelte.

„An beiden Orten ist man dankbar, wenn du kommst. Aber an beiden Orten wird auch so gute Arbeit geleistet, dass du dir keine Sorgen machen musst.“

„Du kannst einem Herrscher die Sorge um sein Land nicht nehmen, Beleb. Und einem Vater nicht die Sorge um seine Tochter.“

„Ich weiß, was es heißt, die Verantwortung für ein Kind zu tragen...“

Saton nickte.

„Ja, du kannst mich vielleicht am ehesten verstehen. Wie geht es deinem Sohn? Er wird seine Ausbildung bald beenden, nicht wahr?“

Beleb strahlte.

„Ja, noch dieses Jahr. Er ist einer der Besten seines Jahrgangs.“

„Daran gibt es keinen Zweifel. Ein guter Junge. Er wird es weit bringen. Sehr weit. Die Cel-Cahas waren stets eine ruhmreiche Familie und Balman wird es dir gleich tun, da bin ich sicher. Wandan hat ihn bereits für den Rang des Säbelmeisters vorgeschlagen. Du weißt, was das bedeutet?“

„Ich weiß vor allem, dass er unter großem Druck steht. Er denkt, nur weil ich ein Cas bin, würde ich dasselbe von ihm erwarten. Natürlich, wenn er wirklich schon zum Säbelmeister geweiht wird, hat er sehr gute Chancen, eines Tages in die oberste Riege aufzusteigen, das weiß ich wohl. Und er auch. Und ich würde natürlich vor Stolz platzen. Aber ich werde immer stolz auf ihn sein. Selbst wenn er am Ende nur ein Turmposten in Askaryan wird.“

Der Shaj lachte.

„Das wird er sicher nicht. Sogar Haz und Faragyl reden davon, dass er ganz nach dir schlägt. Ich wünschte...“ Plötzlich wirkte er traurig. „...ich wünschte, ich könnte das auch behaupten.“

Beleb klopfte ihm auf die Schulter.

„Saton, mal ganz ehrlich. Niemand in diesem Land hat mehr Grund, stolz auf sein Kind zu sein, als du. Sieh sie dir an. Sie sieht aus wie ihre Mutter. Sie kämpft wie ihr Vater. Und sie trägt das Blut eines Gottes in sich. Das Volk verehrt sie jetzt schon.“

„Mehr als ihr gut tut. Weißt du, vergangenen Sommer hatte ich einmal ein Gespräch mit Wandan. Er meinte damals, sie wäre vielleicht nicht glücklich und ihr Leben sei auch nicht dazu bestimmt, glücklich zu sein. Vielleicht hatte er recht. Oh ja, ich bin stolz auf sie. Sehr sogar. Aber ich glaube nicht, dass sie so ist wie ich. Balman ist dein Sohn, Beleb, und jeder erkennt das. Er ist freundlich, charakterstark und geduldig. So wie du. Aber Lenyca hat sehr wenig von mir, fürchte ich. Und noch weniger von ihrer Mutter. Ich würde mir nie eine andere Tochter wünschen. Niemals. Aber ich frage mich manchmal, warum es so ist. Und ob es meine Schuld ist.“

„Ganz sicher nicht. Aber ich fürchte, ich bin für derartige Fragen der falsche Gesprächspartner. Wandan kann sicher...“

„Es ist der Hauptgrund, warum ich Wandan hergebeten habe. Ich will, dass er mich auf dem Laufenden hält. Und ich gebe zu, dass ich etwas eifersüchtig auf ihn bin. Er wacht über ihre Ausbildung und über ihre erste Zeit in den Kasernen. Ich sollte das tun. Ich. Ihr Vater. Ich sollte an ihrem Leben teilhaben. Aber ich kann es nicht. Einer meiner Diener teilt ihren Alltag, Wandan die Zeit ihrer Ausbildung. Ebenso ihre Lehrer. Und ihre Freizeit verbringt sie nicht etwa mit engen Freunden, sondern mit dem Säbel. Ich wünschte, ich wäre mehr in ihrer Nähe, würde mehr über sie erfahren. Sie besser kennen. Ich beneide dich, Beleb.“

„Das kann ich verstehen. Und sei mir nicht böse, wenn ich dir dieses Kompliment – und es ist eines – nicht zurückgeben kann. Ich beneide dich nicht. Nicht um deinen Rang, nicht um dein Blut und nicht um dein Leben. Höchstens um deine Tochter.“

Er erntete einen misstrauischen Blick. „Versuchst du mir gerade, Balman als passenden Partner für Lennys unterzuschieben?“

„Ash-Zaharr bewahre mich davor! So naiv bin ich nicht, Saton, das weißt du. Und wir – Balman und ich – streben auch nicht danach, auf diese Art dem Thron nahe zu kommen.“ Es klang fast ein wenig beleidigt.

„So habe ich das auch nicht gemeint. Ich könnte wohl ruhiger schlafen, wenn Lenyca anfangen würde, sich für Balman oder einen anderen ehrbaren jungen Mann zu interessieren. Aber das tut sie nicht. Zumindest nicht ernsthaft. Früher dachte ich, Rahor Req-Nuur würde sie reizen, aber seit dieser heimlichen Feier hat sie sich von ihm ferngehalten.“

„Was alle sehr bedauern.“ bestätigte Beleb. „Er kämpft die halbe Kaserne in Grund und Boden. Ich gebe es ungern zu, aber selbst Balman hätte wohl im direkten Vergleich keine Chance gegen ihn.“

„Rahors Zeit wird kommen. Ich beobachte diejenigen, die vielleicht eines Tages meine Tochter beschützen sollen, sehr genau. Und Rahor Req-Nuur wird dazugehören. Das beruhigt mich etwas. Trotzdem gibt es Dinge, vor denen niemand sie bewahren kann.“

„Sie hat das doch recht gut verkraftet, oder irre ich mich? Denk doch nur daran, wie jung sie war. Hast du je ein Wort der Klage gehört?“ Beleb warf Saton einen fragenden Blick zu. „Sie hat es akzeptiert, dass Ash-Zaharr ein Teil von ihr ist. Und sie bewahrt das Geheimnis weit besser als es von einem Mädchen in diesem Alter zu erwarten ist.“

Saton sagte nichts. Natürlich hatte Beleb recht. Aber der Cas kannte nur einen Teil der Wahrheit und Lennys ging es nicht anders. Zumindest bis jetzt. Der Zeitpunkt, an dem sie auch den Rest erfahren sollte, ließ sich nicht mehr lange hinauszögern.

Als Wandan am Verladeplatz der Schiffe ankam, war es schon fast dunkel geworden und Saton hatte die Eingangsbahnen des Zelts weit aufschlagen lassen, um die Abendluft zu genießen.

Der Shaj saß bei einem Becher Sijak auf seinem breiten Lehnstuhl und ließ den kühlen Wind über sein Gesicht streichen, als ein Diener den hohen Krieger meldete.

„Wandan... endlich! Was hat dich aufgehalten?“

Der Cas reckte seine Glieder, die von dem langen Ritt steif geworden waren.

„Ein Pferd ist durchgegangen, direkt bei den Ställen. Keines von unseren, sondern ein Hengst aus der Säbelklasse, aber er hat auch bei den Mondpferden für Aufregung gesorgt. Ist aber alles gut gegangen. Ist Beleb schon weg? Ich wollte ihm nämlich sagen, dass Balman ein wirklich gutes Händchen für die Tiere hat. Mir blieb da nicht viel zu tun.“

„Wenn du so wenig zu tun hattest, warum hast du mich dann trotzdem warten lassen? War es dir wichtiger, den Sohn eines Freundes zu beobachten?“

Wandan stutzte. Es kam äußerst selten vor, dass Saton ihn tadelte oder derart ungehalten mit ihm sprach.

„Das war es natürlich nicht. Ich bin sofort losgeritten, nachdem im Stall wieder alles in Ordnung war.“

„Und ohne dich wären sie nicht zurechtgekommen?“

„Doch, das wären sie. Aber ich kann ja nicht einfach so tun, als ginge mich das nichts an.“

„Ich wollte, dass du sofort nach dem Tagesunterricht hierher kommst!“

„Was ist eigentlich los mit dir? Wirst du angegriffen? Ist das Silber in Gefahr? Es ist nicht meine Schuld, dass du heute nicht in den Kasernen sein konntest. Aber wenn es dir so zu schaffen macht, dann bleibe ich eben hier und übernehme die Geschäfte und du kannst nach Semon-Sey zurückreiten.“

„Willst du mir sagen, was ich zu tun habe?“

Wandan schluckte die Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Wenn Saton derart schlechte Laune hatte, war es besser, ihn nicht noch weiter zu reizen. Er beschloss, das Ganze auf sich beruhen zu lassen und dem Shaj die Gelegenheit zu geben, sich zu fangen.

„Dann sag schon, was dort vor sich geht.“ knurrte Saton nach einer Weile. „Wie schlägt sie sich?“

„Hervorragend.“ lächelte Wandan. „Es war auch nicht anders zu erwarten. Wir müssen aufpassen, dass sie nicht ihre eigenen Ausbilder deklassiert. Und lange wird das wohl nicht mehr dauern. Lennys könnte es derzeit problemlos mit Rahors Jahrgang aufnehmen. Bohain hat bereits vorgeschlagen, dass sie zum Herbst hinaufgestuft wird. Wir sollten die Entscheidung nicht sofort fällen, aber vielleicht hat er recht.“

„Ihr Talent stelle ich nicht in Frage.“

„Sie hat sich sehr verändert in den letzten Monaten. Das ist uns doch beiden schon aufgefallen. Ich habe natürlich den Verdacht, dass sie weiterhin mehr oder weniger tut, was sie will, aber sie weiß es besser zu verbergen. Und sie distanziert sich von allen. Auch von mir, wie ich leider zugeben muss.“

„Vielleicht wird sie einfach erwachsen.“ In Satons Worten schwang Bedauern mit. „Wenn sie überhaupt jemals ein Kind war. Aber ich bin sehr zufrieden mit ihrer Entwicklung. Es ist langsam an der Zeit, den nächsten Schritt zu gehen.“

„Den nächsten Schritt?“

„Ich werde sie wohl bald mit ins Heiligtum nehmen. Und dann gibt es da noch einige Dinge, von denen selbst du nichts weißt, Wandan. Aber ich will nicht weiter davon reden. Sag mir, hat sie schon Freunde gefunden?“

„Freunde?“ Wandan lachte. „Ich glaube, bis Lennys so etwas wie Freundschaft empfindet, kann noch sehr viel Zeit vergehen. Es gibt einige Säbelschüler, die man häufiger in ihrer Nähe sieht. Orcus biedert sich ziemlich an, aber das war ja schon zu vermuten. Sie hält wohl nicht allzu viel von ihm. Ascoro Min-Lyva liegt ihr wohl mehr. Er wird übrigens nächsten Monat die Prüfung der Waffenschmiede ablegen.“

„Ich weiß. Und er ist bereits für den Dienst in Vas-Zarac vorgesehen. Und er ist ein ausgezeichneter Kämpfer. Ich beabsichtige, Akosh noch vor dem nächsten Winter zu weihen. Zawas Gesundheit verlangt nach ruhigeren Zeiten und ich könnte mir kaum einen besseren Nachfolger vorstellen. Aber wir sind nicht hier, um über Akosh zu reden. Auch wenn ich es gutheiße, dass Lennys sich mit ihm versteht.“

„Ich habe gehört, dass sie ein paar abfällige Bemerkungen über diesen jungen Iandal gemacht hat. Sie hält ihn für ein Großmaul.“

„Iandal ist sehr ehrgeizig. Wir sollten ihn im Auge behalten. Die derzeitigen Jahrgänge sind ausgesprochen vielversprechend. Und der Kreis meiner Erwählten bröckelt, viele Cas sind inzwischen zu alt für große Kämpfe. Natürlich machen sich zahlreiche Sichelkrieger große Hoffnung auf eine Erhebung, aber ich schätze es, junges Blut um mich zu sammeln. Zusammen mit der Erfahrung von Cala, Beleb und dir würden sie einen sehr schlagfertigen Ring um mich bilden.“

„Also viele Veränderungen in den nächsten Jahren?“

„Ich fürchte ja. Und so wie es aussieht, werde ich einen Platz ohnehin freihalten müssen.“

Wandans Grinsen wurde noch breiter. „Lennys' Weg ist vorgezeichnet. Sie wird eine große Cas.“

„Das werden wir sehen. Sie darf keine Vorteile haben, nur weil sie meine Tochter ist."

In der Kaserne von Semon-Sey herrschte große Aufregung. Im Grunde genommen war es schon seit Wochen nicht mehr so ruhig wie sonst, aber in diesen Tagen wirkten selbst die ausgeglichensten Schüler aufgekratzt und nervös.

„Iovas! Dway! Ruhe jetzt! Was ist das für ein Benehmen?“ Der alte Säbelmeister Bohain wurde zunehmend ärgerlicher. „Was gibt es bei euch zu tuscheln?“

Verlegen sah die braunhaarige Dway zu Boden, doch Iovas meldete sich sofort zu Wort.

„Hoher Bohain, es ist wegen des Besuchs des Shajs. Wir fragen uns, ob er alle Säbelklassen begrüßen wird oder nur...“

Bohain verdrehte die Augen.

„Ist das eure größte Sorge? Es ist nicht das erste Mal, dass der Shaj der Nacht die Kasernen besucht. Im Gegenteil, normalerweise tut er das regelmäßig. Nur die derzeitigen Ereignisse an der Küste halten ihn davon ab. Die höheren Klassen sind längst an ihn gewöhnt. Ich weiß wirklich nicht, warum euch Satons Anwesenheit so in Aufregung versetzt.“

„Vielleicht will er neue Cas auswählen!“ platzte Iovas heraus.

„Dann gehörst du sicher dazu...“ zischte jemand von hinten ironisch und alle lachten. Iovas verzog das Gesicht, doch angesichts des strengen Blicks, den er von Bohain erntete, verzichtete er auf eine weitere Antwort.

„Der Shaj...“ begann der Ausbilder mit gewichtiger Stimme, „...ist natürlich immer bestrebt, die Erfolge unserer Zöglinge zu bewundern und herausragende Talente zu entdecken. Dennoch sollten wir nicht vergessen, dass sein Hauptinteresse vermutlich seiner Tochter gilt. Die ehrenwerte Herrin Lenyca unterzieht sich ebenso wie ihr alle dieser Ausbildung und natürlich wünscht der Shaj, sich selbst ein Bild davon zu machen.“

Wieder wollten einige Schüler eine Bemerkung wagen, doch Bohain winkte ab. Er wollte nicht, dass sein Unterricht weiter gestört wurde und vor allen Dingen musste er darauf achten, dass Lenyca Ac-Sarr nicht allzu sehr in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses gerückt wurde. Darum hatte ihn der Shaj ausdrücklich gebeten.

Nachdenklich betrachtete er die Gruppe, die erwartungsvoll auf die nächste Lektion wartete. Es war die Vorbereitungsklasse zur ersten Säulenprüfung und die meisten waren im Alter zwischen sechzehn und siebzehn Jahren. Noch drei Sommer mussten vergehen, bevor sie endgültig ihre Ausbildung abschließen konnten. In der hintersten Reihe verbarg sich der junge Mann, der eben noch spöttisch über Iovas geurteilt hatte und zugleich Bohains heimliche Hoffnung war. Der Beste des Jahrgangs. Fast so gut wie Rahor, obwohl dieser jünger war. Wenn man von dem einzigen Sohn der Req-Nuurs und Lennys einmal absah, war dies der vielleicht aussichtsreichste Kämpfer in den Kasernen. Er würde mit Saton über dieses Talent reden müssen, auch wenn der Shaj zur Zeit für derlei Berichte kaum ein Ohr hatte. Doch schon in wenigen Wochen standen die ersten Prüfungen an und dann würden sich die Säbelklassen neu formieren – weniger ihrem Alter, aber umso mehr ihrem Können entsprechend.

Ein breitschultriger Mann kam über den Platz geeilt. Bohain erkannte ihn sofort und er ahnte auch den Grund für diese weitere Unterbrechung der Lehrstunde.

„Ich grüße dich, Wandan..“

„Und ich dich, Bohain. Du kannst sie für heute in ihre Zimmer schicken. Wir erwarten dich im Kasernensaal, um Saton zu begrüßen.“

„Alle?“

„Ja, alle. Kannst du mir sagen, wo ich Tinogal finde?“

„Vermutlich im Waffenkeller. Ich kann ihm Bescheid geben. Ist das nicht alles ein wenig übertrieben? Seit wann legt Saton Wert auf einen großen Empfang?“

Wandans Blick wurde ernst.

„Es geht heute nicht nur um Lennys. Er hat euch eine wichtige Mitteilung zu machen und es wäre besser, wenn du ihn nicht warten lässt. Hole Tinogal und dann beeilt euch.“

Die Säbelmeister der Kasernen, die Sichelausbilder und mit ihnen alle höheren Krieger hatten sich im Großen Saal des Komplexes versammelt und warteten gespannt auf das Wort Satons, das ihnen angekündigt worden war. Der Shaj hatte sie alle persönlich begrüßt und dabei einen recht zufriedenen, wenn auch etwas angespannten Eindruck gemacht.

„Ich will euch nicht lange von eurer Arbeit abhalten.“ fing Saton an und strahlte selbst bei diesen einfachen Worten eine spürbare Würde aus. „Zunächst möchte ich allen, die hier stehen, meinen Dank aussprechen. Ich glaube kaum, dass die Qualität der Krieger, die hier ausgebildet werden, jemals so hoch war wie in den letzten Jahren. Die Absolventen sind diszipliniert, verfügen über eine bemerkenswerte Kampfkraft und sind in jeder Hinsicht ein Vorbild für das ganze Land. Das verdanken sie allein euch. Aber heute bin ich auch aus anderen Gründen gekommen.“ Er räusperte sich und hob seine Stimme etwas, um dem, was nun folgte, noch mehr Nachdruck zu verleihen. „In wenigen Tagen werden die ersten Schiffe gen Süden ablegen und die nächsten Wochen und Monate sind bedeutsam für ganz Cycalas. Noch nie haben sich die Sichelländer so nah an die Fremdvölker gewagt. Noch nie haben wir unser Reich verlassen, um uns an einem anderen Ort niederzulassen. Und deshalb – das muss uns allen klar sein – war auch die Gefahr für uns nie größer. Vielleicht wird es gar nicht zu einem Kontakt mit den Menschen im Süden kommen, aber vielleicht doch. Und dann müssen wir darauf vorbereitet sein – im Guten wie im Schlechten. Deshalb spreche ich zu euch. Schärft eure Sinne. Schult eure Zöglinge. Die Hantua sind ein alter, uns lange bekannter Feind, die Shangu haben wir nicht zu fürchten. Was aber südlich der großen Berge lauert, müssen wir erst noch kennenlernen und wir müssen stets in der Lage sein, sie zurückzuschlagen, falls sie eine Gefahr darstellen sollten. Sehr bald schon werden unsere Spione und Kundschafter mehr wissen und sie werden diese Informationen an euch weiterleiten. Unterschätzt die Fremdvölker nicht. Seid wachsam und bereit, euch einem Kampf zu stellen, der möglicherweise aus heiterem Himmel über euch hereinbricht!“

Saton führte eine eindringliche Rede und mit jedem Wort wuchs der Stolz und der Ehrgeiz in den alten Kriegern und der Wunsch, diese Gefühle an ihre Schützlinge weiterzugeben.

Dann entließ der Shaj die Ausbilder und blieb zusammen mit Wandan und Bohain zurück. Er wandte sich an den alten Säbelmeister.

„Wo kann ich in Ruhe mit ihr sprechen?“ fragte er nur.

„In meinem Arbeitszimmer.“ bot Bohain an und warf Wandan einen fragenden Blick zu. „Wenn ihr bei diesem Treffen zugegen sein möchtet, lasse ich noch einen weiteren Stuhl bringen.“

Doch Wandan schüttelte den Kopf.

„Nein, ich werde inzwischen die Sichelklasse inspizieren. Der hohe Shaj wird seine Tochter unter vier Augen empfangen.“

Bohain geleitete Saton in einen abgelegenen Raum in einem düsteren Gebäudetrakt. Als sie eintraten, wartete Lennys bereits und vertrieb sich die Zeit damit, den Inhalt des reich gefüllten Bücherregals in Augenschein zu nehmen.

"Habt ihr noch einen Wunsch, hoher Shaj?" fragte Bohain, doch Saton winkte ab. "Nein. Lass uns allein. Keine Störungen."

Nachdem Bohain die Tür wieder fest hinter sich verschlossen hatte, ließ sich Saton auf den Ledersessel des Säbelmeisters sinken und betrachtete seine Tochter, die sich zwar umgedreht, aber kein Wort der Begrüßung verloren hatte. Er stellte fest, dass sie älter aussah als sie wirklich war und trotz der Ähnlichkeit zu ihrer verstorbenen Mutter erkannte er auch Unterschiede. Insgesamt war der Shaj mit dem, was er sah, nicht nur ausgesprochen zufrieden, sondern empfand auch eine gewisse Wehmut. Was hätte er nicht dafür gegeben, Curedas Meinung zu Lenycas Entwicklung zu hören.

"Du hast dich gut eingelebt, wie ich höre." eröffnete er das Gespräch freundlich.

"Beruhigt dich das?"

"Ja, allerdings. Wie ich höre, bringst du bei den Übungskämpfen hervorragende Leistungen."

Sie zuckte die Achseln.

"Bei diesem Kinderkram hier langweile ich mich eher. Wann kann ich in die nächste Klasse aufsteigen?"

"Bald, denke ich. Wenn nichts dagegen spricht. Und bislang stehen die Zeichen gut. Allerdings sollten wir beide vorher noch einige Dinge klären."

"Und was?"

"Ich hatte in den letzten Jahren wenig Zeit für dich. Weit weniger als ein Vater haben sollte."

"Ich habe dir keinen Vorwurf gemacht."

Erstaunt sah er auf.

"Nein, das hast du in der Tat nicht. Aber ich mache mir Vorwürfe. Trotzdem bin ich stolz darauf, zu sehen, was aus dir geworden ist. Du hast mich in den letzten Monaten sehr angenehm überrascht."

"Ich mag es nicht, wenn du so etwas sagst."

"Ich weiß. Aber es ist trotzdem so. Allerdings muss ich dir auch sagen, dass nicht alle meiner Meinung sind. Du bist ruhiger, zurückgezogener als früher. Und abweisender. Ich persönlich denke, dass dir das helfen wird. Wandan allerdings bedauert, dass du immer häufiger seine Lehrstunden verweigerst. Um ehrlich zu sein, fürchte ich, er wünscht sich das kleine Mädchen zurück, mit dem er einst in Vas-Zarac harmlose Übungskämpfe veranstaltet hat. Aber natürlich weiß er auch, dass du erwachsen wirst."

"Ich kann auf Wandans Wünsche keine Rücksicht nehmen."

Sie sagte dies mit einer fast schon gleichgültigen Kälte und Saton überkam ein leichter Schauer.

"Lenyca, ich würde dich sehr gern etwas fragen. Ich weiß, dass du mir darauf nicht antworten möchtest. Aber ich bitte dich, es dieses eine Mal zu tun und ich verspreche dir, ich werde dich nicht mehr damit belästigen. Doch von dieser Antwort hängt viel ab - mehr als du im Moment denkst."

"Und was willst du fragen?"

"Ich wüsste gern, ob dein Wandel in den letzten Monaten vielleicht weniger dem Einfluss eines Menschen als dem eines Gottes zu verdanken ist."

Sie sah ihn lange und durchdringend an, ohne ein Wort zu sagen. Es kostete Saton Überwindung, diesem glühenden Blick standzuhalten und allein das, was er darin lesen konnte, war schon Antwort genug. Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte sie sich diesem Thema verweigert, sie hätte vielleicht trotzig reagiert oder aber versucht, ihn zu umschmeicheln und abzulenken. Aber die Zeiten des Kindes, das seinen Willen durchsetzen wollte, selbst wenn es zum eigenen Nachteil war, waren vorüber.

"Ich lasse mich von niemandem beherrschen." sagte sie schließlich ganz ruhig. "Nicht einfach so. Gegen manche Dinge kann ich aber nichts tun. Er ist in mir und das wird er immer sein, ob ich will oder nicht."

Satons Magen schien sich zu verdrehen. Er wollte sich nicht vorstellen, welche Erfahrungen seine Tochter mit Ash-Zaharr gemacht hatte, allerdings wusste er, dass keine Begegnung mit der Großen Schlange sonderlich angenehm war - nicht für einen Batí und noch weniger für ein Mitglied der Ac-Sarr-Familie.

"Tut er dir weh?" fragte er möglichst unbeteiligt.

"Ich komme zurecht. Und ich will nicht mehr dazu sagen."

Der Shaj nickte.

"Weißt du, Lenyca..., ich kann nicht alles begreifen, was er tut. Oder wie er zu dir ist. Du bist wie ich... aber andererseits auch nicht. In mancher Hinsicht bist du wie deine Mutter und auch sie hat nie..."

"Ich möchte auch nicht über sie sprechen."

Die Worte versetzten Saton einen Stich. Wie jedes Mal. Schon immer hatte er versucht, mit Lennys über Cureda zu reden. Schon immer hatte er ihr begreiflich machen wollen, wie wundervoll sie gewesen war, wie freundlich und schön, wie klug und sanft. Aber seine Tochter hatte nie zugehört. Sie wollte nicht zuhören. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht kannte, weigerte sich Lennys, etwas Gutes über ihre Mutter zu hören und der einzige Weg, einen ernsthaften Streit zu vermeiden, war, Cureda nicht zu erwähnen.

"Wir müssen über sie sprechen."

"Nein, das müssen wir nicht. Sie ist tot und es gibt nichts, was du sagen könntest, was an meiner Meinung über sie etwas ändert."

Sie presste die Lippen aufeinander und ihre Augen funkelten wütend. Egal, was Saton auch versuchen würde, sie wollte sich nicht darauf einlassen. Zu lebendig war noch die Erinnerung an eine Nacht vor vielen Jahren. Damals war sie vielleicht sieben oder acht Jahre alt gewesen. Der Dämon hatte sie besucht, wie so oft, doch diesmal konnte sie seine Worte nicht einfach verdrängen.

Deine Mutter hätte es verhindern können. Sie wusste, dass deine Geburt ein Verbrechen sein würde.

Und sie hatte gefragt, ob sie deshalb gestorben war.

Niemand, der mich so verrät, darf leben. Und du bist der Verrat selbst. Du wirst an deiner Mutter Statt die Strafe ertragen.

Von jenem Tage an hatte sie nichts mehr von Cureda wissen wollen. Keine Lügen von Menschen, keine Schmeicheleien von Saton. Ash-Zaharr selbst hatte ihr die Wahrheit gesagt. Er hatte ihr nichts erklärt, aber, da war sie sich sicher, er hatte sie auch nicht belogen. Eines Tages würde sie erfahren, warum sie nicht hätte geboren werden dürfen. Sie würde erfahren, was ihre Mutter gewusst hatte und weshalb sie, Lennys, dafür bezahlen musste, dass sie lebte. Eines Tages.

Inzwischen wollte sie es gar nicht mehr wissen. Und sie wollte auch nichts über die Frau erfahren, die ihr diese Bürde auferlegt hatte, ganz gleich, wie sehr Saton sie vergöttert hatte. Einiges hatte sie sich zusammengereimt, aber ob es der Wahrheit entsprach, war im Grunde unwichtig.

Ihre Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, wo ihr Vater nicht wie sonst versuchte, ihr ihren Willen zu lassen.

"Was auch immer du über sie denkst, Lenyca,... sie war ein wunderbarer Mensch. Aber sie hat dir etwas...."

"Ich will nichts davon hören!"

"Das weiß ich wohl. Und du weißt, dass du mich damit verletzt. Und letztendlich vielleicht sogar dich selbst. Es gibt etwas, was ich dir sagen - oder vielmehr zeigen - muss. Erst danach wird der Weg der Nacht wirklich für dich frei sein. Denn ich muss dir die Wahl lassen, ob du ihn wirklich gehen willst."

"Ich habe mich längst entschieden."

"Ich bestehe darauf. Ich werde dir das letzte Geheimnis offenbaren. Deshalb wirst du die heutige Nacht auch nicht hier in der Kaserne verbringen, sondern zu Hause in der Burg."

Lennys verzog ärgerlich das Gesicht.

"Heute abend feiert Dway ihren Geburtstag."

"Ich glaube, es schadet dir nicht, wenn du diese eine Feier ausfallen lässt. Nicht, dass ich dir den Spaß nicht gönne, aber soweit ich weiß, haben in letzter Zeit eine Reihe kleinerer Feste stattgefunden, bei denen du stets durch lange Anwesenheit geglänzt hast. Du bist fünfzehn. Im Gegensatz zu dir vergesse ich das nicht."

Es war ein sonniger Tag, warm und hell. Kaum ein Cycala verließ bei diesem Wetter das Haus, alle blieben lieber im kühlen Schatten und warteten auf den angenehmeren Abend. Doch der war noch fern.

In einem Raum Vas-Zaracs aber war es finster und kalt - wie immer. Nie drang einen Sonnenstrahl bis hierhin und auch Menschen kamen so gut wie nie hierher. Kaum jemand war jemals hier gewesen.

"Es scheint wenig Eindruck auf dich zu machen."

Trotz des Lichts einer einzigen Kerze lag ein kantiger Schatten auf dem Gesicht ihres Vaters, geworfen von einer mächtigen, steinernen Statue in Gestalt der geflügelten Schlange. Sie war so hoch, dass der Kopf mit dem weit geöffnetem Maul und den schrecklichen Fangzähnen nicht mehr zu sehen war, sondern sich in der Finsternis des turmhohen Gemäuers verlor. Es war - abgesehen von einem schlichten Steinblock, auf den Saton die Kerze gestellt hatte - der einzige Gegenstand an diesem Ort, der einem riesigen Brunnenschacht glich.

"Was sollte mich beeindrucken?"

"Niemand sonst, der noch lebt, war jemals hier."

Sie zuckte die Achseln. "Und?"

"Willst du nicht wissen, warum?"

"Du wirst es mir sagen, ganz gleich, ob ich danach frage."

Saton runzelte die Stirn. Eine Spur von Ungeduld lag in seiner Miene.

"Zügle dich, Lenyca."

Sie verdrehte die Augen.

"Also... warum war sonst niemand hier?" fragte sie gelangweilt.

"Weil dies ein Raum ist, zu dem nur der Shaj der Nacht Zugang hat. Oder ein Blutsträger."

"Und?"

"Alle Menschen, auf denen eines dieser Attribute zutrifft, sind jetzt hier."

Sie atmete tief durch, als müsse sie sich eine neuerliche, entnervte Antwort verbeißen.

"Ja... und? Ich weiß, dass du der Shaj bist. Und ich weiß, dass wir beide das Blut der Nacht tragen. Du erzählst mir nichts Neues."

"Doch. Genau das habe ich eben getan. Wenn du dich dazu herablassen könntest, meinen Worten zu folgen, und sie zu überdenken, dann wüsstest du das."

Sie reagierte nicht darauf, sondern betrachtete mäßig interessiert die Statue.

"Es gibt Bessere." sagte sie nur. "Ich kenne mindestens drei Steinmetze, deren Arbeiten..."

"Lenyca! Ist dir klar, wie alt diese Kammer ist? Wie alt diese Statue ist? Sie stammt aus dem Anbeginn unserer Zeit, sie ist älter als diese ganze Stadt und entstand mit den Grundmauern dieser Festung! Dir mangelt es an Respekt!"

"Und an Zeit. Ich habe zu tun."

Saton gab es auf, diesem Moment einen würdigen Rahmen verleihen zu wollen.

"Einst gab es drei Träger des heiligen Blutes Ash-Zaharrs. Der Letzte, der der Erde derartig verbunden war, starb vor vielen Jahren, du kennst seine Geschichte."

"Dieses alte Märchen..."

"Hör mir zu. Doch die anderen Linien überlebten. Bis heute. Und jetzt wirst du endlich einmal anfangen zu denken."

Sie starrte ihn an.

"Deine Mutter..." begann er, doch sie fiel ihm ins Wort.

"Ich will kein Wort von ihr hören!" fauchte sie. "Sie ist für mich eine Fremde! Sie war schwach, sie war es nicht würdig, dem Shaj ein Kind zu geben. Und Ash-Zaharr hat sie dafür gestraft!"

Zum ersten Mal in seinem Leben verlor Saton die Beherrschung. Das Knallen der Ohrfeige schien den Raum zu erschüttern und zerriss die Stille, die sie beinah erdrückt hätte.

"Nie wieder!" zischte er wütend. "Nie wieder wirst du so über sie sprechen! Kein Mensch auf dieser Welt würde das überleben und auch wenn du meine Tochter bist, Lenyca, DAS werde ich auch dir nicht erlauben!"

Sie zuckte unwillkürlich zurück. Diese kalte Wut traf sie härter als der Schlag zuvor. Doch sie sagte nichts.

"Deine Mutter ist gestorben, damit du leben konntest. Und sie musste sterben, denn das war Ash-Zaharrs Strafe. Eine Strafe, nicht weil sie unwürdig war. Sondern weil genau das Gegenteil der Fall war. Sie hat dich geboren, dich, die du mehr vom Großen in dir trägst als jemals ein Mensch zuvor. Deine Mutter, Lenyca, war Cureda Ac-Zyr. Ac-Zyr - die alte Linie. Die Himmelslinie. Und wenn ich einmal sterbe, dann wirst du die letzte Sichelländerin sein, die sein wahres Erbe besitzt!"

Keine Regung ließ erkennen, ob sie ihn verstanden hatte oder was sie dachte. Ihr Gesicht blieb im Dunkel der Statue und obwohl sie ihn gehört haben musste, blieb sie stumm.

Lange.

"Du lügst." sagte sie dann kaum vernehmbar.

"Es ist kein Segen, Lenyca. Ich wünschte, ich müsste dir nicht diese Qual auferlegen." Er wandte sich zum Gehen. "Ich werde dich jetzt allein lassen. Du wirst erfahren, warum dieser Ort so gut wie nie aufgesucht wird. Ich habe keine andere Wahl, ich muss es tun. Aber ich bete, ich bete aus tiefstem Herzen, dass du 'Ihm' nicht so gegenübertrittst wie mir. Er verzeiht nicht. In einer Stunde komme ich wieder."

Sie hörte das Rasseln des Türschlosses als Saton von außen den uralten Schlüssel herumdrehte.

Im selben Moment erlosch die Kerze.

„Wir werden uns wiedersehen.“

Diese Worte hallten grausam in ihr nach. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als tot zu sein. Unvergleichlicher Schmerz erfüllte jede Faser ihres Körpers – immer noch. Er wollte nicht nachlassen. Nur dort, wo kühler Steinboden sie berührte, wurde er etwas gelindert. Etwas. Gerade genug, um ihr die Gewissheit zu geben, noch am Leben zu sein.

Die Schlange war keine Schlange mehr. Nur noch dieselbe steinerne Statue wie eine Stunde zuvor. Sie konnte sie sehen.

Den Stein.

Warum eigentlich? Es war dunkel. Doch sie konnte sie sehen.

Die Kerze brannte wieder.

Niemand hatte sie entzündet. Sie war erloschen als sich die Tür geschlossen hatte. Doch jetzt erfüllte sie den turmhohen, runden Raum wieder mit einem schwachen Licht.

Sie ertrug den Anblick der Statue nicht. Sie wollte sterben, hier und jetzt.

„Wir werden uns wiedersehen.“

Lieber sterben.

Das Türschloss quietschte. Gleich darauf ein Knarren. Jemand trat ein. Er ging auf sie zu und blieb direkt neben ihr stehen, doch er beugte sich nicht zu ihr hinab.

„Ich wünschte, es wäre dir erspart geblieben. Ich wünschte, ich hätte es nicht tun müssen.“

Sie antwortete nicht. Sie wollte nicht, dass ihre Stimme versagte. Und sie wusste, dass er recht hatte. Er hatte es tun müssen. Es gab jemanden, dessen Wille stärker war als der des Shajs oder seiner Tochter.

Als sie viel später aufstand, war sie überrascht, kein Blut zu sehen.

Saton war wieder gegangen. Er hatte sie allein zurückgelassen, nachdem er gesehen hatte, dass sie noch am Leben war. Und es war gut so. Sie wollte niemanden sehen.

Als sie hinausging, sah sie die Statue nicht mehr an. Und schwor sich, niemals freiwillig hierher zurückzukommen.

Lennys sprach nie mehr mit ihrem Vater über das, was im Heiligtum geschehen war. Er fragte sie auch nicht danach und sie vermutete, dass er Angst vor dem hatte, was sie erlebt hatte. Sie war ihm, dem großen Shaj der Nacht, um eine Erfahrung voraus. Und sie besaß etwas, was er nicht hatte. Schon allein aus diesem Grund wollte sie die Erinnerung an Ash-Zaharr nicht mit Saton teilen. Hätte er sie überhaupt verstanden? Oder verstehen wollen?

Der Shaj aber war klug genug, sie nicht weiter zu bedrängen. Er wusste genug, um zu ahnen, dass ihr die Zeit im Heiligtum auf ewig im Gedächtnis bleiben würde. Wie viele Menschen hatten jemals ins wahre Angesicht Ash-Zaharrs gesehen? Wie vielen war der Gott jemals leibhaftig erschienen? Und selbst wenn man alle Blutsträger aus allen Zeiten zusammenzählte - kein einziger, da war sich Saton sicher, hatte dasselbe erlebt wie seine Tochter. Niemals zuvor war ein Mensch in seinem Blut der großen Schlange so nah gewesen.

Wesentlich trauriger aber stimmte ihn die Tatsache, dass Lennys jetzt, nachdem ihr das Ausmaß ihres Schicksals klar geworden war, noch sehr viel weniger in der Lage sein würde, ein freundliches Gefühl für ihre tote Mutter zu empfinden. Es war ein bitteres Verständnis, das in Saton heranwuchs. Zum hundertsten Mal fragte er sich, wie er an ihrer Stelle denken würde. Cureda hatte es gewusst. Sie war die einzige gewesen, die es in der Hand gehabt hatte, einem Menschen das zu ersparen, was Lennys Zeit ihres Lebens schultern musste - oder es ihm aufzuerlegen. Sie hatte ihre Tochter aus Liebe geboren, aber das Geschenk des Lebens - das größte, das eine Mutter zu geben vermag - war eingebettet in Schmerzen, Schuld, Strafe und Sühne. Irgendwann einmal, vor einigen Jahren, hatte Saton gehört, wie Lennys zu Wandan gesagt hatte, dass sie kein Verständnis für jene habe, die den Tod fürchteten. Denn dann sei auch alles Schlechte vorüber und es gäbe nichts mehr, weswegen man sich Gedanken machen müsse. Damals hatte ihn das erschüttert. Und jetzt umso mehr. War seine Tochter dazu bestimmt, sich ihr Leben lang nach dem Tod zu sehnen?

Er sah aus dem Fenster seines Arbeitszimmers, das zum großen Burghof hinaus wies. Unten stand Lennys und sprach mit Cala, dem Cas. Es war ihr nicht anzumerken, was sie gerade erlebt hatte und selbst wenn sie sich noch geschwächt fühlte, so zeigte sie es in keinster Weise. Vielleicht war das das Geheimnis ihres Charakters. Vielleicht musste sie genau so sein, um all das ertragen zu können, was um sie herum geschah. Sein Vaterherz erglühte vor Stolz, wie so oft in den letzten Wochen. Natürlich verhielt sie sich nicht wie eine bescheidene Bauernmagd. Sie war immer noch die Tochter des Shajs und ihr Auftreten ließ keinen Zweifel daran. Aber schon jetzt verehrte das Volk sie beinahe genauso wie den Herrscher selbst und es gab keinen, der sich ihrem Wort widersetzte.

Ebenso fiel Saton auf, dass sich das Mädchen in den Kasernen scheinbar wohler fühlte als in ihrem eigentlichen Zuhause. Ob es daran lag, dass sie, wann immer ihr danach war, einen Gegner für Übungskämpfe fand oder aber eher daran, dass es neue Regeln einzuhalten - oder mit Geschick zum umgehen galt -, ob die Fülle der Gleichaltrigen dafür verantwortlich war oder das Fehlen der kriecherischen Diener, das alles vermochte der Shaj nicht zu sagen. Sicher war nur, dass Lennys nichts mehr mit dem Kind zu tun hatte, dass sich von vorn bis hinten bedienen ließ und andere durch ihre Fähigkeiten beeindrucken wollte. Inzwischen war es für sie selbstverständlich, in sämtlichen Kampflehren die Beste zu sein, aber sie legte keinerlei Wert mehr drauf, dies vor einem breiten Publikum zu zeigen.

Was ihn ein wenig trauriger stimmte, war der Umstand, dass Lennys keine wirklichen Freundschaften schloss. Es gab eine Reihe junger Kämpfer, in deren Gesellschaft sie immer wieder zu finden war. Doch keiner von ihnen schien wirklich ihr Vertrauen zu genießen und wenn die Säbelschüler beisammen saßen, erweckte sie nicht den Eindruck, für irgendeinen von ihnen ein tieferes Interesse zu hegen.

Er erinnerte sich an die Säulenweihe vor einigen Tagen. Sie war in jedem Jahr die beste Gelegenheit, neue Talente zu entdecken und auch in diesem Sommer waren ihm einige Namen besonders aufgefallen. Bohain, der Säbelmeister der unteren Klassen, hatte auf einen von ihnen hingewiesen und Saton musste dem alten Ausbilder im Stillen Recht geben. Und auch Wandan hatte sich den jungen Mann angesehen. Wandan, von dem einige behaupteten, er könne in Menschen hineinsehen. Und auch er hatte davon gesprochen, dass man Garuel Mala-Rii weiter beobachten sollte.

Jetzt verabschiedete sich Cala von Lennys und ging zum Cas-Flügel hinüber. Dann verschwand auch das Mädchen aus Satons Blickfeld. Der Shaj dachte daran, dass sie jetzt vermutlich keinen Gedanken mehr an die Geburtstagsfeier in den Kasernen verschwendete. Heute hatte ihr Leben eine sehr entscheidende Wendung genommen - und sich für alle Zeit verändert.

Als Lennys am nächsten Morgen in die Kaserne zurückkehrte, um sich wieder ihrer Ausbildung zu unterziehen, spürten alle Anwesenden, dass etwas Bedeutsames geschehen sein musste. Selbst bei den Übungskämpfen war sie nicht so recht bei der Sache und als Orcus ihr von der Feier, die sie verpasst hatte, berichten wollte, winkte sie nur gelangweilt ab.

Am Nachmittag stand es ihr frei, unter strenger Aufsicht die Grundhaltungen des Sichelkampfs zu trainieren oder aber eigenen Beschäftigungen nachzugehen. Niemals hatte sie es für möglich gehalten, freiwillig auf die Sichelstunden zu verzichten, doch dieses eine Mal glaubte sie, die Belehrungen der Ausbilder ebenso wenig ertragen zu können wie die neugierigen Blicke ihrer Mitschüler. Stattdessen kletterte sie in einem unbeobachteten Moment über die Südmauer der Kaserne und legte sich dahinter in den Schatten. Natürlich war es verboten. Natürlich würde sie Ärger bekommen, wenn jemand sie erwischte. Und natürlich war dieser kleine Regelbruch vollkommen unnötig. Aber sie hatte festgestellt, dass sie hier ihre Ruhe hatte und die wenigen, die ihr Geheimnis kannten und sich sogar dann und wann hier mit der Tochter des Shajs zu einem gemütlichen Beisammensein trafen, würden um diese Zeit sicher nicht auftauchen. Umso überraschter war sie, als sich kurz darauf doch jemand zu ihr gesellte.

"Guten Tag..."

Sie behielt die Augen geschlossen. Seit vielen Monaten schon ging sie Rahor Req-Nuur aus dem Weg und der junge Mann hatte dies stets respektiert. Einmal hatte er sie um Verzeihung gebeten. Mitten auf dem Gang des Unterrichtsgebäudes. Er hatte nicht gesagt, wofür er sich entschuldigte, aber das war auch nicht nötig gewesen.

"Ich... ich möchte dich nicht stören." sagte Rahor jetzt.

"Dann lass es."

"Wenn du es so willst... in Ordnung. Aber ich muss dir vorher noch etwas sagen."

Sie ermunterte ihn nicht, weiterzureden, aber wies ihn auch nicht noch einmal ab.

"Ich... ich wollte dir nur sagen, dass ich glaube, dass du die beste Kämpferin bist. Nicht nur in der Kaserne. Und... ich würde gern von dir lernen. Also wenn du jemals... naja, einen Kampfpartner suchst, dann..."

"Versuchst du, dich einzuschmeicheln?"

"Nein. Ich bin nur ehrlich. Es tut mir leid, dass wir uns so lange nicht gesehen haben. Ich hätte damals nicht zu Wandan gehen sollen. Ich dachte, es würde dir helfen, aber ich glaube, das hat es nicht. Und wenn es irgendetwas gibt, was diesen Fehler wieder gut machen kann, dann würde ich mich freuen, wenn du mir sagst, was es ist."

Dann endlich sah sie ihn an. Warum jetzt? Warum suchte Rahor ausgerechnet jetzt den Kontakt zu ihr? Gerade in dem Moment, da sie sich sicher war, dass sie keinen Menschen um sich haben wollte. Gerade jetzt, da ihr bewusster war denn je, dass sie immer allein sein würde?

Er schien zu ahnen, was sie dachte.

"Ich werde jetzt gehen." sagte er traurig. "Aber... Tinogal macht heute persönlich die Abendkontrollrunde. Er sieht auch gern auf dieser Mauerseite nach. Das... wollte ich dir auch noch sagen." Mit diesen Worten machte er kehrt und setzte bereits einen Fuß auf den Vorsprung, der allen, die manchmal hierher kamen, als Kletterhilfe diente.

"Warte."

Als Rahor sich umdrehte und Lennys' funkelnder Blick ihn traf, glaubte er zu erstarren. Eis schien seine Adern zu erfüllen. Das Gefühl, dass Lenyca Ac-Sarr in ihn hineinsah und jeden seiner Gedanken las, kam so jäh und erschreckend, dass er für einen Moment das Gefühl hatte, dem großen Dämon selbst ins Antlitz zu blicken.

Dann war es vorbei.

"Ich hätte niemals ein Kind in dir sehen dürfen..." sagte er erschüttert. "Ich glaube, das ist das, wofür ich mich am meisten entschuldigen muss. Ich war hochmütig und selbstgefällig."

"Wir werden nicht mehr davon reden." erwiderte sie zu Rahors Verblüffung. "Über nichts mehr von dem, was war. Alles ist anders. Auch ich."

Obwohl er nicht wusste, was sie meinte, nickte er. Vor ihm stand nicht mehr die Fünfzehnjährige, die ihn zwar im Säbelkampf schlug, aber der er sich in anderen Dingen überlegen glaubte. Es war ein ganz anderer Mensch und Rahor ahnte, dass der vergangene Abend, den sie in Vas-Zarac verbracht hatte, etwas damit zu tun hatte.

"Es gibt nichts mehr, wofür du dich entschuldigen musst. Weil nichts mehr von alledem wichtig ist." fügte sie jetzt hinzu. Dann zog sie ohne weitere Vorwarnung den Shajkan.

"Yami solei!"

Rahor reagierte sofort.

"Arhat zen!"

Es war ein langer Kampf. Hätte ein Ausbilder ihn beobachtet, er hätte kaum glauben können, dass sich hier zwei Schüler der unteren Klassen gegenüber standen. Es gelang Rahor kaum, Lennys etwas entgegenzusetzen, aber er parierte all ihre Schläge und schaffte es sogar, einigen ganz und gar auszuweichen. Dann plötzlich spürte er das kalte Silber der Klinge an seinem Hals.

"Du wirst mich nie besiegen, Rahor Req-Nuur." sagte sie ernst. "Aber vielleicht alle anderen."

"Es ist mir eine Ehre, hier empfangen zu werden, hoher Shaj." Der schwarzhaarige Mann mit den grauen Strähnen verneigte sich tief.

"Nicht so förmlich, Celdros. Nur, weil dein letzter Besuch recht lange zurückliegt, heißt das nicht, dass du an Ansehen eingebüßt hast. Bitte, mach es dir bequem."

Saton war bester Laune. Er freute sich über seinen Gast und ebenso über den Anlass des Treffens. Die vergangenen Wochen gehörten ohnehin zu den glücklichsten seit Langem und es war an der Zeit, auch anderen solche Freuden zu gönnen.

"Sag, wie geht es deiner Tochter?"

Celdros lächelte stolz.

"Sehr gut. Sie ist ein wundervolles Mädchen. Sehr begabt. Die Priester reißen sich förmlich um sie."

"Ich habe gehört, dass sie auch gern kämpft?"

"Ja, das ist richtig. Ich vermag noch nicht zu sagen, für welche Säule sie sich am Ende entscheidet. Aber sie ist ja noch jung. Gerade erst vierzehn."

"Wir könnten sie zum Neujahrsfest in die Probeklasse aufnehmen. Dann ist sie alt genug. Und sie hätte ein ganzes Jahr, um sich zu entscheiden, bevor sie die offiziellen Aufnahmeprüfungen für die Kasernen durchläuft."

"Ich werde mit ihr darüber reden. Aber ich bin doch nicht hier, damit wir über Racyl sprechen, oder?"

Saton lachte.

"Nein, das nicht. Aber das bedeutet doch nicht, dass ich dir keine Ratschläge geben darf. Ihr seid eine große Kämpferfamilie. Und du, verehrter Celdros, hast ein hartes Los." Plötzlich huschte ein Anflug von Trauer über das Gesicht des Shajs. "Ich weiß, wie es ist, wenn man eine geliebte Frau verliert."

Betreten sah Celdros zu Boden. Er hätte gern etwas Tröstendes erwidert, doch ihm wollte nichts einfallen. Bereits zweimal hatte er die Mutter eines seiner Kinder zu Grabe getragen und beide Male hatte es ihm das Herz zerrissen. Doch es war der Shaj, der sich nun wieder zu einem Lächeln zwang. Dies war kein Tag, an dem sich er oder Celdros mit solch düsteren Gedanken beschäftigen sollten.

"Ich möchte dir zunächst einmal gratulieren." wechselte er abrupt das Thema. "Und ich möchte dich bitten, auch Rahor meine Glückwünsche auszurichten. Leider war es mir nicht möglich, selbst zur Prüfung zu erscheinen, aber nach allem was man so hört, scheint dein Junge für mächtig Aufsehen gesorgt zu haben."

Auch Celdros strahlte wieder.

"Nicht so sehr wie deine Tochter. Ich wüsste nicht, dass jemals eine Sechzehnjährige die Säulenprüfung abgelegt hat und noch dazu die gesamte Konkurrenz niedergekämpft hat."

"Fünfzehn." korrigierte Saton. "Sie hat erst nächsten Monat Geburtstag. Aber jetzt lenke nicht ab. Rahor überflügelt bislang alle Sichelkrieger - mit gerade mal achtzehn Jahren. Du weißt, dass ich das nicht einfach ignorieren kann."

Ein hoffnungsvoller Schimmer leuchtete in Celdros' Augen, doch er sagte nichts, sondern wartete ab.

"Ich verrate dir kein Geheimnis, wenn ich dir sage, dass Iandal und Akosh die beiden freien Cas-Plätze einnehmen werden. Zawas lange Krankheit und Erqis' hohes Alter zwangen mich dazu, mich bereits jetzt zu entscheiden. Und auch Shineas Nachfolge... Nun, ich darf niemanden grundlos bevorzugen. Ich möchte aber nicht, dass du am Ende enttäuscht bist, wenn Rahor noch ein wenig warten muss."

Celdros winkte hastig ab. "Enttäuscht? Ich und enttäuscht? Du... ich meine ihr..."

"Du."

"Nun... also... Saton, wenn... wenn ich dich recht verstehe, dann hältst du es für möglich, dass Rahor eines Tages...?"

Saton nickte. "Mehr als nur für möglich. Der letzte Krieger, der in so jungen Jahren solche Erfolge verzeichnen konnte, war Wandan."

"Und du." grinste Celdros.

Der Shaj lachte. "Nun, das lassen wir mal außen vor. Was ich dir sagen will, ist, dass Rahors Weihe zum Cas kaum noch etwas entgegensteht. Von ein wenig Zeit einmal abgesehen. Iandal sollte eigentlich weit hinter ihm und Lennys stehen, aber ich muss auch das Alter berücksichtigen. Vielleicht wirst du dich noch ein paar Jahre gedulden müssen. Ich will keinen meiner Erwählten aus dem Kreise nehmen, solange sie es nicht selbst wünschen. Aber ich bin mir sicher, dass bald wieder ein Req-Nuur zu den Neun gezählt werden darf. Versteh mich nicht falsch. Ich muss auch an die Zukunft denken. Nicht nur an meine. Und was deinen Sohn angeht, bin ich sogar mit Lennys einer Meinung."

"Es ist eine große Ehre für mich, dass deine Tochter meinen Sohn schätzt. Sie wird einmal eine große Cas werden."

"Das hat Wandan auch einmal gesagt." schmunzelte Saton. "Und es wird vielleicht nicht mehr allzu lange dauern. Aber genug davon. Bitte richte deinem Sohn aus, dass sein Shaj ausgesprochen zufrieden mit ihm ist. Ich gedenke, ihn in Kürze nach Vas-Zarac abzuordnen, damit er dort seinen Dienst versieht. Das ist sicher im allseitigen Interesse."

"Du ahnst nicht, was mir diese Neuigkeit bedeutet. Es war immer sein größter Wunsch, dem Shaj unmittelbar zu dienen und sei es nur durch bloßen Wachdienst vor den Festungsmauern."

"Mit solchen Aufgaben wird er sich höchstens am Anfang begnügen müssen. Es hat sich gezeigt, dass es für ihn und meine Tochter sinnvoll ist, die Kampfstunden gemeinsam zu absolvieren. Es mangelt ihr an geeigneten Gegnern und ich halte es nicht für sinnvoll, sie ständig nur gegen Wandan kämpfen zu lassen. Man stelle sich nur vor, sie würde meinen obersten Cas besiegen... das möchte ich Wandan nicht antun."

"Früher oder später würde es aber wohl so weit kommen."

"Sicherlich. Das ist uns allen klar. Deshalb wird sich Wandan auch künftig ein wenig aus diesen Einzelstunden zurückziehen und Lennys wird gemeinsam mit Rahor geschult. Das ist wohl für alle das Beste."

Celdros lachte über beide Ohren. So viele gute Nachrichten hatte er schon lange nicht mehr erhalten und er brannte darauf, sie seinem Sohn zu überbringen. Eine Frage, die ihm jedoch auf den Lippen brannte, beantwortete sein Gastgeber sogleich von selbst.

"Ich hätte es ihm natürlich selbst sagen können. Aber es gibt da noch etwas, was ich mit dir zu besprechen hätte und das ist etwas, was wirklich unter uns bleiben sollte. Kann ich mich auf deine Verschwiegenheit verlassen?"

"Natürlich, hoher Shaj. Kein Wort werde ich weitertragen."

"Es ist etwas schwierig, dies zu formulieren. Ich versuche es dennoch. Lenyca... ist sicher nicht das, was man ein gewöhnliches Mädchen nennt. Und sie ist nicht einfach. Wenn Rahor eines Tages zum Cas geweiht wird, wird er - davon gehe ich aus, nicht nur den jetzigen Shaj beschützen, sondern auch den zukünftigen. Und Rahor ist nun einmal ein Mann und..."

Saton musste nicht weiterreden. Celdros verstand ihn und auch die Bedenken, die er hatte. Bedenken - und Zweifel.

"Mein Sohn und deine Tochter sind die einzigen, die darüber entscheiden sollten." sagte er geradeheraus. "Und wenn du Rahor die Weihe anbietest, so wird er sich auch darüber Gedanken machen, ohne dass ich ihn darauf hinweisen muss. Und ich bin sicher, auch Lennys wird das tun."

Das Gras glitzerte noch vom Regen der letzten Nacht, doch die düsteren Wolken hatten sich verzogen. Stattdessen strahlte der Himmel in leuchtendem Blau, als wolle er einen besonders herrlichen Tag ankündigen. Die Sonne war noch nicht lange aufgegangen, doch zwischen den schlichten Gebäuden herrschte bereits reges Treiben. Trotz einiger harscher Kommandos, die hinter einer nicht allzu weit entfernten Mauer hervorschallten, war die Stimmung in diesem Teil der Kasernenanlagen eher ausgelassen.

„Wir werden sicher eine Menge Spaß mit ihnen haben.“ lachte ein junger Bursche von vielleicht fünfzehn Jahren, der lässig neben einer Gruppe Gleichaltriger an einer Hauswand lehnte. „Wahrscheinlich können sie nicht einmal einen Säbel in einem Zug aus der Scheide ziehen.“

„Übertreib mal nicht. Es ist gerade einmal zwei Jahre her, dass du auch so ein Neuer warst. Wenn sie so unbegabt wären, wie du sagst, hätte man sie gar nicht erst für diese Ausbildung zugelassen.“

„Sei doch kein Spielverderber, Akosh. Deine Vernunft ist langweilig.“

„Ich will nicht unfair sein, das ist alles.“

Eine weitere Gestalt gesellte sich zu der Gruppe und sofort verstummten die anderen.

„Guten... Morgen, Lennys...“ stammelte der Junge mit dem losen Mundwerk.

„Was ist denn mit euch los?“ Lenyca Ac-Sarr runzelte die Stirn. "Gibt es hier irgendetwas zu sehen?“

„Noch nicht.“ grinste der Junge wieder. „Aber gleich. Dort drüben.“ Er deutete auf einen großen gepflasterten Platz, gerade mal einen Steinwurf von ihnen entfernt.

„Und was ?“

Ehe der Wortführer antworten konnte, gab Akosh die Antwort.

„Die Neuen. Sie werden gleich ihren Säbelmeistern zugeteilt.“

Wenig beeindruckt ließ sich das Mädchen im Schatten der angrenzenden Mauer nieder. „Warum sollten die uns interessieren? Nicht einmal die Hälfte wird die erste Prüfung bestehen, noch weniger werden am Ende unserer Säule beitreten. Wozu sich jetzt mit denen abgeben, die schon bald vergessen sind?“

„Vielleicht ist doch das eine oder andere Talent dabei.“ erwiderte Akosh, der mit knapp zwanzig Jahren der Älteste und scheinbar Vernünftigste der Runde war.

„Wenn es einer von denen schafft, mich in den nächsten beiden Jahren zu besiegen, dann kann er von sich behaupten, Talent zu haben.“

„Hehe, und davon kann dieses junge Gemüse nicht einmal träumen...“ Ein hochgewachsener Bursche mit scharf gebogener Nase kam hinzu und beteiligte sich sogleich an dem Gespräch. „Sie werden es mit keinem von uns aufnehmen können.“

„Bleib sachlich, Iandal.“ ermahnte Akosh seinen Kumpanen. „Und vor allem, sprich leise. Dort vorn kommt Rahor und er wäre sicher nicht erfreut, dich so reden zu hören.“

Lennys gähnte. „Was hat er hier überhaupt verloren? Er sollte doch eigentlich beim Reitunterricht sein.“

„Er hat sich davon befreien lassen.“ antwortete nun wieder der Junge, der schon zu Anfang recht vorlaut gewesen war. „Weiß nicht, warum. Aber sein Säbelmeister hat sofort eingewilligt.“

„Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen, Orcus. Noch nicht einmal für Informationen.“ Orcus nahm diese offenkundige Beleidigung stillschweigend hin, aber Akosh schüttelte verhalten den Kopf.

„Es geht uns doch gar nichts an. Ach seht mal, da vorn kommen sie ja schon.“

Lennys schluckte eine weitere bissige Bemerkung herunter und musterte beiläufig die Gruppe von etwa zwei Dutzend Jungen und Mädchen, die nun folgsam hinter einem muskulösen sichelbewehrten Krieger zum Rand des Platzes trabten. Nicht weit von ihnen entfernt versteifte sich die Haltung Raohors. Er beobachtete das Treiben auf dem Platz, kam aber nicht näher.

Lennys Blick blieb an der schmalen, aber zugleich auch auffälligen Gestalt eines jungen Mädchens hängen, das sich zwischen den Neuankömmlingen befand. Ihr für cycalanische Verhältnisse ungewöhnliches, hellblondes langes Haar lag ihr offen über den Schultern.

Auch Orcus und Iandal hatten sich aufgerichtet. Orcus stieß einen leisen Pfiff aus.

„Nicht schlecht.“

„Halt den Mund.“ Ohne sich von dem blonden Mädchen abzuwenden, machte Lennys eine warnende Geste in Orcus' Richtung.

„...eure Fähigkeiten zu beurteilen.“ schallte es nun von dem Sichelträger herüber. „Wir beobachten euch vom ersten Tag an, also bemüht euch, übt und lernt fleißig und hört auf das, was eure Meister euch sagen. Nicht alle werden es schaffen, der Säule der Nacht beizutreten, doch noch mehr als eure Begabung ist es euer Wille, der euch dieses Tor aufstoßen kann. Nur sehr wenige tragen so viel Kriegerblut in sich, dass sie ohne größere Anstrengung aufgenommen werden.“

Orcus und seine Freunde sahen kurz zu Lennys hinüber, die sich zweifellos angesprochen gefühlt haben musste, doch sie reagierte nicht.

„Ihr könnt euch nach diesem Rundgang nun eine kurze Pause gönnen. Danach werdet ihr euren Säbelmeistern zugeteilt. Bleibt also in der Nähe.“

Der Sichelträger verließ die Gruppe in Richtung eines großen Gebäudes und kaum war er darin verschwunden, löste sich Rahor aus dem Schatten der Bäume, um die Neuen zu begrüßen. Er wechselte einige Worte mit ihnen, wandte sich schließlich dem blonden Mädchen zu und redete eindringlich auf sie ein.

„Er kennt sie.“ stellte Orcus verblüfft fest. „Es heißt zwar immer, Rahor kennt jedes hübsche Mädchen in Semon-Sey beim Namen, aber damit hätte ich trotzdem nicht gerechnet. Sie passt überhaupt nicht hierher.“

Die anderen achteten nicht auf Orcus Sticheleien.

Plötzlich stand Lennys auf und zischte: „Dann werden wir doch einmal sehen, was er sich da Nettes angelacht hat.“

Voller Vorfreude auf ein möglicherweise hitziges Wortgefecht zwischen Lennys und Rahor folgten Orcus, Iandal und einige weitere junge Krieger ihrer Kampfgefährtin über den Platz. Nur Akosh zögerte einen Moment und hielt sich einige Schritte hinter seinen Freunden.

Als sie nur noch wenige Schritte von der Gruppe entfernt waren, verstummten die Gespräche unter den Neuen. Mit geweiteten Augen starrten sie Lennys an, viele von ihnen sanken auf die Knie.

Rahor räusperte sich verlegen. „Es ist mir eine Ehre, euch gleich an eurem ersten Tag mit Lenyca Ac-Sarr, Tochter des Hohen Shaj Saton, bekannt zu machen.“

Lennys würdigte weder Rahor noch die anderen eines Blickes, ihr Interesse galt nach wie vor ausschließlich dem blonden Mädchen, das zwar nicht niedergekniet war, aber doch zumindest den Kopf gesenkt hielt. Aber die Tochter Satons sagte kein Wort.

„Ich wurde heute von den Übungen befreit....“ sagte Rahor schließlich, dem sichtlich unbehaglich zumute war. „Sie haben es mir erlaubt, damit ich meine Schwester begrüßen kann.“

Zum ersten Mal seit dem Erscheinen der Neuankömmlinge löste Lennys ihren Blick von der Blonden und wandte sich an Rahor. „Deine Schwester?“ fragte sie, ohne allzu überrascht zu klingen.

Rahor nickte und legte eine Hand auf die Schulter des blonden Mädchens „Racyl. Sie... sie ist meine Halbschwester und hat das Talent unseres Vaters geerbt.“

Lennys streckte eine Hand aus und hob Racyls Kinn, so dass das Mädchen ihr ins Gesicht sehen musste. Ihre Augen waren tiefblau wie ein Sommernachtshimmel. In ihnen war keine Angst zu erkennen.

„Dein Vater war ein großer Krieger.“ sagte Lennys mit ihrer kühlen, harten Stimme. „Dein Bruder wird ihn vielleicht noch übertreffen. Wirst du den Namen deiner Familie beschmutzen? Oder ihn noch mehr glänzen lassen?“

Sie zog ihre Hand zurück, doch Racyl hielt Lennys' bohrendem Blick stand.

„Ich suche meinen wahren Weg. Wenn ich ihn finde und ihm folge, werde ich niemandes Namen beschmutzen."

Lennys ließ nicht erkennen, was sie von dieser Antwort hielt und wieder war es Rahor, der versuchte, die Situation zu entspannen.

"Racyl, du hast großes Glück, bereits an deinem ersten Tag so großen Kämpfern zu begegnen. Dies hier sind Akosh, der Waffenschmied und das hier ist Iandal. Sie haben beide bereits die Prüfungen bestanden und werden in Kürze zu Cas geweiht."

"Und ich bin Orcus!" fiel der großspurige Junge Rahor ins Wort. "Bestimmt hast du schon von mir gehört, ich bin ..."

"Nichts." beendete Lennys seinen Satz trocken. Die anderen Neuankömmlinge lachten zaghaft, doch Orcus' Lächeln erstarb ebenso wie Rahors.

Gleichgültig wandte sich Lennys wieder ab.

"Wir sehen uns morgen, Rahor. Sei pünktlich. Ich hasse es, zu warten."

Rahor nickte, sagte aber nichts und als Lennys, Orcus, Akosh und Iandal den Vorplatz verlassen hatten, drehte sich Racyl etwas verunsichert zu ihrem Bruder um.

"Sie mag uns wohl nicht."

Doch Rahor zuckte nur die Achseln. "Sie kennt euch nicht. Noch nicht. Eigentlich kann sie sogar richtig nett sein. Du wirst schon sehen."

An der Westküste des Sichellandes standen im Rin dieses Jahres alle Zeichen auf Freude, als der große Festtag zum Ablegen der Silberschiffe ausgerufen wurde. Während die meisten Cycala die großen Tafeln und den günstigen Ausschank bejubelten, war es für Saton jedoch vor allen Dingen eine seltene Gelegenheit, diesen offiziellen Akt in Begleitung zu begehen. Bereits zwei Tage zuvor hatte er seine Tochter aus Semon-Sey anreisen lassen und sie vom Kasernenunterricht befreit, damit sie dem Ereignis beiwohnen konnte. Jetzt saßen beide Ac-Sarrs im Ruhezelt des Shajs und Saton erklärte anhand verschiedener Landkarten den genauen Verlauf, den die Flotte nehmen sollte.

"Hier werden sie einen weiten Bogen fahren." Er deutete auf die Küstenlinie des großen Kontinents Sacua, auf dessen südlicher Hälfte weder Dörfer noch Flüsse eingezeichnet waren. Bislang galt alles Land jenseits der Bergkette Valahir für die Sichelländer als beinahe unerforscht.

"Wir sind uns noch nicht sicher, wie dicht der Küstenstreifen besiedelt ist und wollen nicht zu früh entdeckt werden. Allerdings berichteten meine Kundschafter, dass die Fremdvölker das Wasser weitgehend meiden. Aus Angst, so heißt es."

Lennys schnaubte abfällig. "Angst vor Wasser? Sind sie wirklich so dumm?"

"Vielleicht werden wir das eines Tages erfahren. Möglicherweise hat ihre Abneigung auch einen guten Grund. Wir sollten ihnen also vorerst besser keine Dummheit unterstellen."

"Und was ist mit dieser Insel? Wohnen da keine Menschen?"

Saton schüttelte den Kopf.

"Nein. Wahrscheinlich hat sie vor uns überhaupt noch nie jemand betreten. Wir haben bereits im vergangenen Jahr eine kleinere Gruppe Kundschafter dorthin ausgesandt. Sie berichteten nur von kargem Fels und davon, dass dort kein Lebewesen anzutreffen sei. Und es gab auch keinerlei Spuren, die irgendjemand hätte hinterlassen haben können."

"Sie scheint ziemlich groß zu sein."

"Nicht so groß, wie es auf der Karte scheint. Bei Flut sind weite Teile überschwemmt und nicht begehbar. Ich denke, die Fläche, auf der wir uns aufhalten werden, ist vielleicht mit den Cassydischen Gräben vergleichbar. Möglicherweise auch kleiner."

Lennys zuckte gelangweilt die Achseln.

"Ich verstehe immer noch nicht, warum wir das alles überhaupt machen. Warum ist dieses Ritual so unsagbar wichtig, dass man dafür solche Mühe in Kauf nimmt? Wir sind auch ohne den Bann nicht zu besiegen."

"Schließe nicht von dir auf andere." belehrte Saton seine Tochter mit einem leichten Lächeln. "Nicht jeder hat so viel Talent wie du. Vor langer, langer Zeit wurde das Silber schon einmal durch das Ritual verstärkt. Damals gab es noch Regionen in Valahir, die vollkommen unberührt waren. Inzwischen jedoch sind die Abenteuerlustigen aus dem Süden sogar schon einmal bis zum Shanguin-Gürtel vorgedrungen. Nur einzelne, natürlich. Aber wir könnten nicht garantieren, unbeobachtet zu bleiben. Und Mondor zufolge hat die Magie von damals ihre Kraft fast vollständig eingebüßt. Wenn wir unser Silber auf der Abendinsel dieser Zeremonie unterziehen, wird es uns für viele Jahre... nein, für viele Generationen eine Macht sichern, die mit keiner anderen vergleichbar ist. Es ist sehr wichtig, dass du das verstehst."

Sie legte den Kopf zur Seite, gerade so, als wolle sie eine zynische Antwort geben, doch bereits als sie den Mund öffnete, schüttelte Saton den Kopf.

"Du brauchst gar nicht zu fragen. Ich kann dich nicht mitnehmen. Noch nicht. Wenn ich im Herbst dorthin reise, um nach dem Rechten zu sehen, wird mich nur Wandan begleiten. Sonst niemand. Aber wenn alles gut verläuft und du weiterhin solche Fortschritte machst, die es es dir erlauben, auch einmal eine längere Zeit des Unterrichts zu versäumen, könntest du im nächsten Jahr mitfahren. Darüber werde ich aber erst nachdenken, wenn es soweit ist."

"Wo ist der Unterschied? Ob in diesem Jahr oder im nächsten... Ich habe bereits zwei Säbelklassen überholt und seit einem Jahr habe ich Sichelunterricht! Früher als jeder andere! Und beim Shajkan gibt es niemanden mehr, den ich nicht...!

"Lenyca..." Saton hob seine Stimme etwas und sie bekam einen belehrenden Unterton. Er war versucht, sogar den Zeigefinger zu erheben, doch konnte er diesen Impuls gerade noch unterdrücken. "Ich mag es nicht, wenn du so angibst. Natürlich bist du gut. Aber das allein ist eben noch nicht ausreichend. Ich verspreche dir, ich werde darüber nachdenken, dich in einem Jahr mit zur Insel zu nehmen. Das halte ich sogar für sehr sinnvoll, ich möchte schließlich, dass du einmal mehr zu sehen bekommst als unser Sichelland, so schön es auch sein mag. Nur jetzt noch nicht. Doch ich habe einen anderen Vorschlag. Beleb und Cala haben mich bedrängt, ihnen in den nächsten Wochen einen Erkundungsritt zur Vala-Schlucht zu erlauben. Wenn du möchtest, darfst du daran teilnehmen. Und ich werde auch zusehen, dass du Shanguin und Valahir besuchst. Ich habe nicht vergessen, wie gut du dich gegen die beiden Hantua geschlagen hast, denen wir vor einiger Zeit an unserer Südgrenze begegnet sind. Wäre das ein Kompromiss bis zum nächsten Jahr?"

Sie seufzte ergeben. "Meinetwegen. Aber ich will auch wieder nach Yto Te Vel."

Saton hob überrascht den Kopf.

"Wie kommst du denn darauf? Ich dachte, dir hätte es nicht sonderlich im Tempel gefallen?" Er erinnerte sich an die letzte Reise in den Norden.

"Ich will ja auch nicht in den Tempel, sondern ins Dorf."

"Und warum, wenn ich fragen darf?"

"Es war ganz nett dort."

"Nett? In Yto Te Vel? Ohne Säbeltraining? Du warst doch die meiste Zeit ...ach... Augenblick... dein merkwürdiges Verlangen hat doch hoffentlich nichts mit Mondor zu tun?"

"Und wenn? Er hat mir ein paar interessante Geschichten erzählt."

"Ich kann mir schon denken, was das für Geschichten waren. Versteh mich nicht falsch, Mondor gehört zu meinen engsten Vertrauten. Und er kennt dich seit deiner Geburt. Aber er ist sehr eigen. Und ich weiß, womit er dich locken kann. Du bist eine Batí, Lenyca, aber das bedeutet nicht, dass du dich an alles wagen solltest, was in Yto gelehrt wird. Manche Dinge sind nur für die Ohren von Priestern bestimmt."

"Aber ich bin..."

"Ich weiß, was du bist. Aber das Blut in deinen Adern ersetzt nicht die Lehre der Tempel und das Wissen, das dort vermittelt wird. Ich fürchte, ich werde Mondor noch einmal eindringlich darüber aufklären müssen, welche Geschichten für eine Fünf... - naja gut, sagen wir Sechzehnjährige - ein wenig unpassend sind."

Sie verdrehte die Augen und Saton kannte diese Mimik schon derart genau, dass er fast lachen musste. Geduld war nach wie vor nicht Lennys' Stärke.

"Immer das Gleiche. Immer höre ich, dass ich zu jung bin. Wenn es nach dir ginge, müsste ich wahrscheinlich noch mit Rasseln spielen und mir das Essen vorkauen lassen."

"Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Und für einiges scheinst du nun gar nicht mehr zu jung zu sein. Wie ich gehört habe, haben bereits einige junge Männer ein Auge auf dich geworfen. Ich hoffe, sie wissen sich zu benehmen."

Er sagte es nicht böse oder gar vorwurfsvoll und obwohl Lennys davon überzeugt war, dass es ihren Vater nicht das Geringste anging, wie und mit wem sie ihre Freizeit verbrachte, wollte sie dennoch keine Missverständnisse aufkommen lassen.

"Die interessieren mich nicht. Die meisten sind doch nur dumme Trampel."

"Du sprichst aus Erfahrung?"

"Wenn du so willst. Mach mir bloß keine Vorhaltungen! Rahor Req-Nuur hatte schon einige Mädchen und Dway..."

"Beide sind auch etwas älter. Aber gut. Es ist in Ordnung. Du kennst meine Bedingungen. Tu was du willst, aber ..."

Ein Husten unterbrach den Shaj und gleich darauf schlüpfte Wandan durch den Zelteingang.

"Verzeih Saton... und Lennys natürlich, ...dass ich mich nicht angemeldet habe. Aber draußen schüttet es wie aus Eimern. Und dann noch dieser kalte Wind. Von wegen der Frühling naht..."

"Setz dich und trink heißen Rum..." erwiderte Saton freundlich. "Kuchen?"

"Gern... gern..."

Noch während Wandan es sich auf einem Polster bequem machte, stand Lennys auf.

"Ich gehe mir die Schiffe ansehen." sagte sie nur und kehrte einem reichlich verblüfften Saton den Rücken, bevor sie hinaus verschwand.

"Die Schiffe?"

Wandan grinste angesichts der verwunderten Miene des Shajs.

"Typisch Vater." lachte der Cas. "Sie meinte eigentlich nicht die Schiffe, sondern die Schiffsbesatzung."

"Wie bitte?"

"Ist mir heute vormittag schon aufgefallen. Das Flaggschiff hat eine Küchenhilfe an Bord, die wohl das Interesse deiner Tochter geweckt hat."

Saton richtete sich auf.

"Da muss ich dich enttäuschen, Wandan. Gerade eben erst habe ich mit ihr darüber gesprochen. Zumindest in diesem Punkt muss ich mir bei ihr keine Sorgen machen. Lennys scheint kein besonderes Interesse an jungen Männern zu haben."

Wandan druckste ein wenig herum, aber dann beschloss er, Saton nicht länger die Wahrheit vorzuenthalten.

"An jungen Männern weniger... das stimmt wohl. Aber an jungen Frauen... umso mehr..."

Saton betrachtete die Entwicklung seiner Tochter mit gemischten Gefühlen. Es war keineswegs ungewöhnlich, dass man sich in einem so freizügigen Land wie Cycalas auch dem eigenen Geschlecht zuwandte und was Lennys anging, so beruhigte es ihn, dass sie sich nicht mit Männern oder Jungen einließ, die auf diese Art die ganze Zukunft des Sichellandes ins Wanken bringen konnten. Doch ihm entging auch nicht, dass das Mädchen ihren "Privatangelegenheiten", wie sie es nannte, recht gleichgültig gegenüberstand und ständig zu vergessen schien, dass auch ihre Gegenüber Menschen mit Gefühlen waren, die nur allzu leicht verletzt werden konnten.

Sehr viel beruhigter verfolgte er aber Lennys' Einstellung zu ihrer Ausbildung. Sie betrachtete den Umstand, dass der nur wenig ältere Iandal - ein ausgezeichneter Sichelschüler und zudem noch äußerst scharfsinniger Diplomat - neben dem hochbegabten Waffenschmied Akosh zum Cas geweiht wurde, verhältnismäßig gelassen. Weder in der Kaserne noch in der Burg war es ein Geheimnis, dass Lennys Iandal nicht mochte, doch die übliche Altersgrenze für die Sichelprüfungen und somit auch für die Casweihe, die bei siebzehn Jahren lag, musste sie wohl oder übel hinnehmen. Inzwischen hatte sie gelernt, wann Diskussionen lohnten und wann nicht. Streitigkeiten mit ihrem Vater ging sie vorzugsweise aus dem Weg und auch von Wandan hielt sie sich zunehmend fern. Immer mehr Monate und Jahre lagen mittlerweile zwischen der Zeit, in der der oberste Cas sie belehrt und unterrichtet hatte und durch die entstehende Distanz fühlten sich auch beide immer seltener daran erinnert, dass einst nicht die junge Ac-Sarr, sondern der bedeutend ältere Krieger das letzte Wort gehabt hatte.

An Lennys' sechzehntem Geburtstag wurde nicht nur Wandan vor Augen geführt, wie viel Kind das Mädchen bereits abgelegt hatte. Im großen Ratssaal der Burg Vas-Zarac hatten sich neben Saton, den neun Cas und einigen Würdenträgern der anderen Säulen auch persönlich vom Shaj und seiner Tochter geladene Gäste eingefunden. Celdros Req-Nuur mit seinem Sohn Rahor war ebenso zugegen wie Afnan, der nach wie vor Lennys' nächster Diener war, Mondor, der zwar zähneknirschend, aber dennoch folgsam aus Yto Te Vel angereist war und einige Säbelschüler aus den Kasernen, die für die Gefeierte eine altersgemäße Gesellschaft bieten sollten.

Saton musterte die Anwesenden genau, während die Diener das Festmahl auftrugen. Nach einer Weile beugte er sich zu seiner Tochter hinüber.

"Es freut mich, dass du Rahor eingeladen hast. Aber sag, wer sind die anderen? Ihre Gesichter kenne ich wohl, aber ihre Namen..."

Lennys lachte leise.

"Eigentlich hätte ich auf sie verzichten können. Aber du wolltest unbedingt, dass ich ein paar Bekannte dazuhole. Sind die Namen denn wirklich so wichtig?"

"Möglicherweise. Ich weiß gern, mit wem sich meine Tochter umgibt. Und es ist zugegebenermaßen doch recht peinlich, wenn ich nicht über deine Gesellschaft im Bilde bin."

"Sie werden wohl allesamt kaum eine wichtige Rolle spielen. Naja, einer vielleicht..."

"Du meinst den Jungen mit den längeren Haaren, der neben Afnan sitzt?"

Sie nickte.

"Er ist ziemlich gut. Ich habe ihn vor ein paar Wochen besiegt. Aber es war nicht ganz so leicht wie sonst."

"Ist er besser als Rahor?"

"Nein. Aber er kommt ihm ziemlich nahe. Und er ist nicht so neugierig wie die meisten anderen. Und nicht so aufdringlich."

Saton lächelte.

"Er macht auch hier einen guten Eindruck. Obwohl ich glaube, dass ihm solche Feierlichkeiten nicht liegen. Wie heißt er?"

"Garuel. Garuel Mala-Rii."

Plötzlich erinnerte sich der Shaj an den Namen. Hatte nicht einst Bohain auf den jungen Mann hingewiesen - bei dessen Säulenweihe? Garuel hatte sich verändert, er war kräftiger und reifer geworden. Und hatte es nicht damals schon geheißen, man solle ihn im Auge behalten? Nun, zumindest Lennys hatte dies offenbar getan.

"Und die anderen?"

"Unwichtig. Sagte ich bereits. Sama ist hier, weil sie die ganze Zeit hinter Rahor herläuft. Es ärgert ihn, dass ich sie eingeladen habe und schon allein das ist mir den Spaß wert. Juta kommt aus der Stadt, er ist der Sohn des Schmieds und er hat mir ein paar Mal einen Gefallen getan. Außerdem kennt er Afnan gut und sie haben sich lange nicht gesehen."

"Aber Garuel und Rahor sind doch hier, weil du mit ihnen befreundet bist, oder?"

"Befreundet?" fragte Lennys irritiert. "Wieso denn befreundet? Muss ich das sein?"

"Nein, natürlich nicht. Aber du magst sie doch?"

"Sie sind schon in Ordnung. Aber deswegen müssen sie nicht gleich Freunde sein. So etwas brauche ich nicht."

"Und Freundinnen? Was ist mit Sama?"

"Ach die... dummes Ding. Wie gesagt, ich wollte Rahor ein bisschen ärgern, sonst nichts."

Saton wirkte plötzlich etwas verlegen.

"Nun, ich dachte nur..."

"Was?"

"In dieser Burg wird viel geredet, Lenyca. Und manch einer sagt, dass du dich hin und wieder gern mit hübschen Mädchen umgibst."

"Und? Stört dich das?"

"Nein, solange du es nicht übertreibst. Ich dachte nur, es gäbe vielleicht jemanden, den du aus ganz persönlichen Gründen heute gern dabei gehabt hättest. Egal, ob Junge oder Mädchen. Immerhin ist es dein Geburtstag."

"Es gibt niemanden. Eigentlich hätte ich lieber meine Ruhe. Wenn es nach mir ginge, würden wir uns dieses ganze Prozedere sparen und ich würde allein ausreiten."

"Leider kann ich dir diesen Gefallen nicht tun. Diese Menschen hier wollen mit ihrer Aufwartung den Respekt zu dir betonen und es ist wichtig, dass du dich ihnen zu solchen Gelegenheiten zeigst. Eines Tages..."

Ärgerlich winkte Lennys ab. "Ach, komm mir nicht damit. Ich will das nicht. Ich will keine Shaj werden und ich will auch nicht den ganzen Tag in irgendwelchen Versammlungen verbringen. Ich bin eine Kriegerin!"

"Das bist du. Trotzdem ist das Schicksal oft grausam. Wer weiß, vielleicht hat der Große andere Pläne mit dir, aber wir kennen ihn beide gut genug. Er wird dich nicht von dieser Aufgabe entbinden, nur weil du es wünscht. Eher wird das Gegenteil der Fall sein. Aber heute sollten wir nicht davon sprechen."

Das Geplapper um die Festtafel verstummte allmählich, als sich die Gäste den Speisen und Getränken zuwandten und erst als die ersten Teller geleert waren, wurde es wieder etwas lauter. Noch bevor die allgemeine Aufmerksamkeit vollends nachließ, erhob der Shaj sich und sofort herrschte wieder Ruhe.

"Meine verehrten Gäste... ich hoffe, ihr seht es mir nach, dass ich an dieser Stelle nicht jeden Einzelnen namentlich begrüße. Leider ist es meinen beiden Gefährten Ron-Caha-Hel in Askaryan und Maliss in Zarcas nicht möglich, an diesem Tage zu erscheinen. Ihr alle wisst, dass die gegenwärtigen Ereignisse im Sichelland ihre volle Aufmerksamkeit verlangen. Und dies soll auch keine politische Gesellschaft sein. Meine geliebte Tochter Lenyca Ac-Sarr feiert heute ihren sechzehnten Geburtstag. Ich bitte euch, für einige Stunden zu vergessen, dass dies auch der Jahrestag eines schmerzlichen Verlustes ist."

Ein Seitenblick auf Lennys verriet ihm, dass ihre Miene bei diesen Worten wie versteinert wirkte und so gab er sich Mühe, rasch fortzufahren.

"Dies ist ein Tag, der gefeiert und mit Freuden begangen werden sollte. Für einen Vater wie mich ist es ein Segen, eine Tochter wie Lenyca zu haben und ich verrate euch kein Geheimnis, wenn ich sage, wie stolz ich auf sie bin. Seit einigen Wochen ist sie eine wahre 'Gebieterin der Nacht', sie legte die Säulenprüfung mit Bravour ab und wird für viele Kämpfer ein großes Vorbild sein. Dies Lob sei mir gestattet und ich denke, dass nicht nur das getrübte Vaterauge solche Leistungen anerkennt."

Applaus brandete auf und Rahor, Garuel sowie die neun Cas verneigten sich in Lennys' Richtung.

"Viele von euch, die ebenfalls Kinder haben, stehen zu Anlässen wie diesen vor einer schwierigen Frage. Was ist ein angemessenes Geschenk? Was wünscht sich mein Sohn oder meine Tochter? Womit kann ich ihm oder ihr eine Freude machen? Nun habe ich das große Glück, dass Lennys mir ihr Leben lang immer sehr klar zu verstehen gegeben hat, was sie begehrt." Im Hintergrund lachte Wandan und die meisten Anwesenden stimmten fröhlich mit ein.

"Leider wurde Lennys aber auch mit recht viel Intelligenz beschenkt. Leider - nicht, weil ich keine kluge Tochter wünsche, oh nein, aber in diesem Falle macht sie es mir doch recht schwer, sie zu überraschen. Ich weiß natürlich, dass sie ein eigenes Mondpferd möchte, aber Mondpferde lassen sich nicht verschenken. Sie finden ihren Besitzer und manchmal dauert es viele Jahre, bis sich ein solches Tier und sein wahrer Herr begegnen. Ich weiß auch, dass sich mein Kind danach sehnt, ohne Begleitschutz durch die Wälder des Sichellands zu streifen. Aber auch dies kann ich ihr nicht gewähren und alle, die um ihren Schutz bedacht sind, werden darin übereinstimmen. Viele Mädchen in ihrem Alter verlangen nach Schmuck oder Kleidern und glaubt mir, ich täte mir leichter, wenn ich sie damit erfreuen könnte. Doch meine Tochter gelüstet nicht nach Tand und Oberflächlichkeiten, wofür ich im Grunde ja auch dankbar bin. Allerdings erschwert es die Suche. Nun... ich will nicht lange herumreden. Es waren sehr viele Gespräche notwendig, denn ich wollte mit dem Geschenk, das Lenyca von mir erhalten wird, auch niemanden verärgern. Und leider muss ich zuerst einmal euch alle enttäuschen. Denn das, was sie erhält, möchte ich ihr unter den Augen sehr weniger Eingeweihter übergeben. Ihr alle werdet es sehen, aber ich muss euch um Geduld bitten. Lenyca... oder Lennys, wenn dir das wirklich lieber ist, würdest du mir bitte gemeinsam mit Wandan, Bohain und Akosh nach nebenan folgen?"

Die Verwirrung im Saal war groß. Normalerweise wurden bei derartigen Feierlichkeiten die Geschenke öffentlich überreicht und entsprechend bejubelt. Saton musste sich also etwas Besonderes eingefallen lassen haben und zweifellos legte der Shaj Wert darauf, dass daraus kein einfaches Unterhaltungsprogramm gemacht wurde, sondern eine private Zeremonie, die diese Bedeutung noch unterstrich.

Auch Lennys sah recht misstrauisch aus, als sie hinter ihrem Vater den Großen Saal verließ. Den geheimnisvollen Mienen der Begleiter konnte sie nichts entnehmen und sie wollte auch nicht wie ein kleines Kind zeigen, dass eine gewisse Neugier in ihr geweckt worden war.

Saton hatte die Wahrheit gesagt. Er kannte sie. Er kannte ihre Wünsche und noch nie war sie enttäuscht gewesen, wenn er ihr etwas geschenkt oder sie mit etwas überrascht hatte. Bis heute zumindest.

Der Raum, in den er sie führte, wurde nur selten benutzt. Es war nicht viel mehr als eine Kammer, ohne Fenster und nur durch eine einzelne Kerze beleuchtet. Einen kurzen Moment fühlte sich Lennys an das Heiligtum tief in den Kellern der Burg erinnert, und sie hoffte, dass das 'Geschenk' nicht aus einer weiteren Begegnung mit Ash-Zaharr bestand. Doch als ihr Vater zur Seite trat, stand dort keine steinerne Statue, sondern nur ein einzelner Tisch, auf dem irgendetwas lag, das von einem schwarzen Samttuch bedeckt wurde.

Wandan, Bohain und Akosh, die den beiden Ac-Sarrs bislang wortlos gefolgt waren, reihten sich hinter dem Tisch auf. Allen dreien war ein vielsagendes Lächeln gemein, lediglich der junge Waffenschmied Akosh wirkte ein wenig nervös.

"Es gibt viele Dinge, die du dir wünschst." wiederholte Saton nun noch einmal und es klang weitaus feierlicher als seine kurze Rede im Großen Saal. "Aber von all diesen Wünschen sitzen wohl nur wenige tief in dir. Was begehrst du wirklich, aus tiefstem Herzen? Einige Tage der Freiheit womöglich, doch wir beide wissen, dass du sie dir, wenn dieser Drang zu groß wird, einfach nehmen wirst - auf deine ganz eigene Art. Anderes wirst du finden, wenn der rechte Zeitpunkt gekommen bist. Aber es gibt etwas, was man dir geben muss und etwas, was du nicht erzwingen kannst. Etwas, wofür du vielleicht noch zu jung erscheinen magst. Ich habe lange mit Bohain und Wandan gesprochen, wie auch mit den anderen Cas. Sie kommen darin überein, dass du nicht mit den Maßstäben zu messen bist, die sonst Grundlage für die Beurteilung anderer Säbelschüler sind. Ich sehe das ebenso und ich bin dankbar, dass ich - auch wenn ich dein Vater bin - mit meiner Einschätzung nicht alleine stehe.

Die Ehren unseres Volkes sind an Gesetze gebunden und manche davon sehen vor, dass ein bestimmtes Alter, eine Prüfung oder eine Erfahrung nötig ist, um sich gewisse Rechte zu verdienen. Dies bedeutet aber nicht, dass Leistungen und Begabungen diese Regeln nicht außer Kraft setzen können. Mein Geschenk an dich entstammt meinem Willen und der Zustimmung Bohains und Wandans, aber auch den Händen eines weiteren Mannes." Er nickte Akosh wohlwollend zu.

"Du kennst Ascoro Min-Lyva. Du weißt um seine Fähigkeiten. Er ist derzeit wohl der beste Waffenschmied unseres Landes. Kein anderer als er kam dafür in Frage."

Und endlich legte Saton eine Hand auf das Samttuch.

"Meine geliebte Tochter, Lenyca Ac-Sarr, ...ein Jahr früher als die Jüngsten bisher, wirst du das erhalten, was du dir redlich verdient hast. Es ist dein, mit allen Rechten, die damit verbunden sind. Ehre es und schätze es. Mein Geschenk an dich."

Er zog das schwarze Tuch zur Seite.

Der Gegenstand darunter war schöner als Lennys es sich jemals hätte vorstellen können. Und Saton hatte Recht gehabt - nichts auf der Welt hatte sie mehr begehrt.

Die Sichel.

Ihr Silber leuchtete im Kerzenschein und die feinen Schriftzeichen, die darauf graviert waren, mochten für zwei der Umstehenden nur eine mystische Bedeutung haben. Eine Metapher, eine Anlehnung an Legenden. Für Lenyca, Saton und Wandan war es mehr. Es war die Wahrheit, die so offenkundig zutage trat und doch für alle Unwissenden verborgen bleiben würde:

'Ma sey Ash-Zaharr - ven toro harye!' - 'Ich bin Ash-Zaharr - gekommen, um die Strafe zu vollenden!'

Die uralte Warnung reiner Batí.

Jetzt warnte die Reinste unter ihnen. Auf keinen anderen Menschen trafen diese Worte so zu, wie auf diejenige, die nun eine wahre Sichelträgerin war.

Der Griff der Waffe war aus einer silbernen Schlange gearbeitet. Ein echtes Meisterwerk. Lennys hatte schon häufiger von Akoshs besonderem Talent gehört und auch selbst einige seiner Stücke begutachtet. Jetzt aber wusste sie, dass Saton nicht untertrieben hatte. Kein anderer Waffenschmied hätte eine solche Sichel fertigen können.

Sie ging auf den Tisch zu, streckte die Hand nach dem Griff aus, doch noch berührte sie die Gabe nicht. Es war ein besonderer Moment und eigentlich wollte sie ihn nicht teilen. Vier Augenpaare richteten sich auf die Tochter des Shajs. Sie wollten diesem wohl historischen Augenblick beiwohnen, wollten sehen, wie Lenyca Ac-Sarr, Tochter des großen Saton, womöglich zukünftige Shaj der Nacht und jüngste Sichelträgerin aller Zeiten zum allerersten Mal ihre eigene Sichel zur Hand nahm und erhob.

Nur sie, sie wollte es nicht.

"Ich wäre gern allein." sagte sie leise und wandte den Blick nicht von dem schimmernden Silber ab, das sie mehr und mehr anzog.

Saton nickte verständnisvoll. Es war keine Bitte gewesen, sondern schon geradezu eine Aufforderung, doch diese zeigte ihm nur umso mehr, dass Lennys die Bedeutung dieses Geschenks durchaus bewusst war.

"Ich verstehe das." sagte er und winkte Bohain, Wandan und Akosh hinaus. "Lass dir alle Zeit, die du haben willst. Wenn wir dann gemeinsam in den Großen Saal zurückkehren, wirst du die Sichelweihe erhalten, ganz so, wie es sich gehört. Du warst nicht darauf vorbereitet, aber du solltest es sein."

Die Tatsache, dass Lenyca bereits an ihrem sechzehnten Geburtstag in den Rang einer Sichelträgerin erhoben worden war, verbreitete sich in Semon-Sey wie auch in ganz Cycalas wie ein Lauffeuer. Allerorts beteuerten die Menschen auf der Straße, dass sie schon immer gewusst hätten, dass Satons Tochter eine herausragende Kriegerin werden würde, die vielleicht sogar noch ihren eigenen Vater übertraf. Von überall her vernahm man plötzlich, dass es keine Überraschung sei, denn es hatte ja so kommen müssen. Und doch sprach man über nichts anderes mehr. Niemand wollte sich die Blöße geben, zuzugeben, diese Entwicklung nicht erahnt zu haben.

Die einzige, die sich weder Freude noch Erleichterung oder gar Verwunderung anmerken ließ, war Lennys selbst. Große Gefühlsausbrüche waren ihr fremd und selbst ihr sonst so ausgeprägter Stolz wollte sich nicht so recht zeigen. Im Gegenteil, sie trug die Sichel mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als sei die Waffe nicht außergewöhnlicher als der Gürtel, an dem sie befestigt war.

Sie ahnte, dass sich jeder andere an ihrer Stelle bedankt hätte - beim Vater, beim Waffenschmied, beim Ausbilder und beim obersten Cas. Und alle anderen erwarteten genau das von ihr - Dankbarkeit, Ehrfurcht, vielleicht sogar Demut. Nur die, die dieses Geschenk zu verantworten hatten, taten es nicht. Vielleicht, weil sie sie inzwischen gut genug kannten. Vielleicht auch, weil sie es gar nicht wollten.

Erst spät in der Nacht jenes Geburtstages, als Lennys mit Saton allein auf dem Dach des Casflügels stand, sprach Saton sie noch einmal auf die Sichel an.

"Du hast mehr erreicht als jeder andere Krieger in deinem Alter bisher."

"Wie alt warst du?" fragte sie, wobei es nur mäßig interessiert klang.

"Siebzehn." antwortete der Shaj wahrheitsgemäß. "So, wie es unsere Gesetze vorsehen."

"Du hättest bei mir keine Ausnahme machen müssen." erwiderte Lennys zu seiner Verblüffung. "Niemandem wäre es aufgefallen."

"Mir schon. Du hast es verdient, Lennys. Du bist bereits jetzt weiter als alle anderen, die ein Jahr älter sind. Du erfüllst alle Voraussetzungen. Aber mir scheint, du bist nicht recht zufrieden damit."

"Doch..." sagte sie. "Ich bin zufrieden. Viele werden mich beneiden, aber das ist nicht entscheidend. Aber du hast mir selbst gesagt, ich müsse mich an Regeln halten, auch wenn sie mir unsinnig erscheinen. Und dennoch hast du dich gegen eine dieser Regeln gestellt, um mir die Sichel schon jetzt zu geben. Ich bin froh, dass du das getan hast, aber... ich verstehe es nicht. Es hätte niemandem geschadet, wenn ich genauso lange wie alle anderen hätte warten müssen."

"Das hätte es nicht, das ist richtig. Aber es hätte auch niemandem genutzt. Ich möchte, dass dir von nun an alle Möglichkeiten offen stehen, die dir unsere Säule bietet. Du sollst mit den Besten trainieren. Mit den obersten Klassen und - wenn du möchtest - auch mit den Cas. Ich weiß von Bohain, dass du in deiner Ausbildungsriege im Grunde unterfordert bist. Das Säbeltraining langweilt dich zusehends. Und das ist noch nicht alles. Du bist meine Tochter, Lenyca. Es wird Zeit, dass du auch die Seiten meines Schicksals kennenlernst, die ich bisher von dir ferngehalten habe."

"Welche Seiten?"

"Ich habe dich zu Ash-Zaharr gebracht. Du erhältst Unterricht und du kennst jeden Winkel der Burg. Du willst mir nicht auf den Thron folgen, denn du kennst nur langweilige Regierungsgeschäfte und reizloses Kampftraining. Aber ich glaube, dass du nun alt genug bist, um zu sehen, dass auch ich lebe. Und das Leben ist draußen, jenseits der Mauern Vas-Zaracs. Und auch jenseits unserer Grenzen."

Sie sah auf.

"Du willst mich mitnehmen? In den Süden?"

"Noch nicht, das habe ich dir bereits vor einigen Tagen erklärt. Es sind viele Schritte bis zur Abendinsel, aber zumindest einige werde ich dir zugestehen. Dann sehen wir weiter. Ich weiß sehr wohl, dass du das Umland Semon-Seys besser kennst als mir lieb ist. Ich weiß, dass du dann und wann nachts die Kasernen oder die Festung verlässt und durch die Wälder reitest. Es ist recht schwer, dich davon abzuhalten, ganz gleich, wie gut ich dich bewachen lasse..."

Er lächelte und Lennys spürte, dass er nicht allzu verärgert war.

"Es wäre dumm, zu glauben, dass ich dich einsperren kann. Und nicht zuletzt deshalb ist es mir nur recht, wenn ich weiß, dass du dich deiner Haut zu wehren weißt. Nicht ich habe entschieden, dass du alt genug für die Sichel bist - sondern du. Du hast mir gezeigt, dass du die Sichel nicht nur willst, sondern auch, dass du sie brauchst. Und jetzt, da du sie hast, sehe ich auch keinen Grund mehr, warum ich dich noch länger von dem fernhalten sollte, wofür die Klinge gedacht ist."

"Die Hantua?"

Er nickte. "Nicht nur, aber auch. Versteh mich nicht falsch, ich möchte nicht, dass du zu hohe Erwartungen hast. Ich werde dich von nun an mitnehmen, wann immer es mir richtig und möglich erscheint, aber es wird auch in Zukunft immer wieder Momente geben, in denen du zurückbleiben wirst und mir nicht folgen kannst."

"Nicht mehr lange, und ich kann selbst entscheiden."

"Du stehst dann nicht mehr unter dem Wort deines Vaters... aber immer noch unter dem deines Shajs." berichtigte Saton freundlich. "Und vielleicht auch unter dem anderer Krieger. Egal, wie hoch ich dich erhebe, Lenyca,..."

"...du wirst Wandan nicht seines Ranges entbinden." vollendete sie den Satz ohne Bitterkeit. "Das würde ich auch nie erwarten. Wirst du mich zur Cas weihen?"

Saton lächelte vielsagend. "Wenn ich keinen Zweifel an dir habe, werde ich das sicher. Doch auch bis dahin ist es für dich noch ein weiter Weg. Überstürze nichts und gehe einen Schritt nach dem anderen. Nur so erreichst du dein Ziel."

"Sichelträgerin..." seufzte Rahor. "Meinen Glückwunsch. Du hast mich also doch eingeholt. Ich dachte nicht, dass es so schnell gehen würde."

Lennys zuckte die Achseln. Sie saß mit Rahor, Garuel und einigen anderen Säbelschülern im Gras hinter der Kasernenmauer. Noch immer gehörte diese Stelle zu ihren Lieblingsplätzen und obwohl einige ihrer Ausbilder von diesem Treffpunkt wussten, legten sie es zumindest in den frühen Abendstunden nicht darauf an, hier nach möglichen Regelverstößen zu fahnden. Solange die jungen Leute sich nicht weiter von der Kaserne entfernten und sich hier keinen größeren Verfehlungen hingaben, akzeptierten sie diese Zusammenkünfte stillschweigend.

"Von 'Einholen' kann keine Rede sein." korrigierte Lennys. "Du hast deine Sichelprüfung schon vor drei Monaten abgelegt."

"Und doch trainieren wir von nun an zusammen. Und du hast deine eigene Kampfsichel und darfst sie tragen, wann immer du willst. Ich muss damit noch bis zum Winter warten. Seit wann bist du so bescheiden?"

Alle lachten. Es sah Lennys nicht besonders ähnlich, ein an sie gerichtetes Lob zu schmälern.

"Ich bin nur realistisch. Und eigentlich habe ich keine Lust mehr, über dieses Thema zu reden. Hat denn keiner etwas Interessanteres zu erzählen?"

Orcus grinste. "Rahor wüsste da schon etwas, oder? Jetzt sag schon, wie sind ihre ersten Übungskämpfe gelaufen?"

Rahor druckste herum, doch Lennys musterte ihn nachdenklich.

"Wessen Kämpfe?"

"Racyls!" sagte Orcus sofort, noch ehe Rahor den Mund öffnen konnte. "Sie soll ja ganz gut sein, habe ich gehört..."

"Halt den Mund!" ertönte eine Stimme von der Seite her. Es war Garuel, der sich bislang herausgehalten hatte. "Wenn Rahor von seiner Schwester erzählen will, soll er es tun, aber du hast dich da nicht einzumischen."

Beleidigt verdrehte Orcus die Augen.

"Ich dachte, Lennys interessiert sich dafür. Aber schön, dann eben nicht."

Womöglich dachte Orcus, jemand würde das Thema doch noch einmal aufgreifen, doch nachdem Rahor, Garuel und Lennys weiterhin schwiegen, stemmte er sich mühsam aus dem Gras hoch, klopfte sich ein paar Halme von der Kleidung und verabschiedete sich:

"Mit euch ist ja heute nicht viel los. Ich geh dann mal wieder. Vielleicht seh ich ja Racyl noch."

Er zwinkerte Rahor frech zu und noch bevor jemand etwas erwidern konnte, kletterte er schon die Mauer empor.

"Orcus ist wirklich eine Nervensäge..." sagte Rahor grimmig. "Und er klebt wie eine Klette an dir."

Lennys streckte sich wohlig aus. "Soll er doch. Er wird in seinem Leben kaum etwas erreichen, dafür ist er zu schlecht im Säbelkampf. In ein paar Wochen sind wir ihn sowieso los, ich glaube kaum, dass er die Prüfung für die nächste Riege schafft."

"Was man von euch wohl nicht sagen kann..."

Von der Stadtseite her trat Akosh, der Waffenschmied auf sie zu. Er lächelte breit und setzte sich zwischen Garuel und Rahor.

"Wo kommst du denn her?" fragte Lennys. "Ich dachte, du bist froh, die Kasernen nicht mehr sehen zu müssen?"

"So kann man das nicht sagen. Ich freue mich, dass meine Ausbildung abgeschlossen ist, aber ich habe mich hier eigentlich immer sehr wohl gefühlt. Mir fehlt das alles ein bisschen."

"Hast du als Cas denn nichts zu tun?" fragte Garuel. "Es wundert mich, dass du Zeit hast, uns zu besuchen."

"Ich bin mit Bohain verabredet, wegen eines Shajkanauftrags. Und da dachte ich, ich komme etwas früher und sehe mal nach, ob ihr hier wieder euer Abendschwätzchen haltet."

Lennys machte plötzlich ein ärgerliches Gesicht.

"Willst du dann vielleicht gleich an die große Glocke hängen, dass wir uns hier treffen?"

Doch der Schmied schüttelte den Kopf.

"Natürlich nicht. Was denkst du von mir? Übrigens soll ich dich grüßen."

"Von wem?"

"Von Juta. Ich habe ihn unten in der Schenke getroffen. Er lässt dir noch einmal seinen Dank ausrichten, dass du ihn in die Burg eingeladen hast. Und er fragt, ob er sich irgendwie revanchieren kann."

"Möglicherweise kann er das. Ich werde darüber nachdenken. Was ist das für ein Shajkan, den du für Bohain machen sollst?"

"Er ist für ihn selbst. Er hat einen recht großen Verschleiß und auch wenn Bohain nicht mehr der Jüngste ist, so ist seine Kampfkraft doch ungebrochen."

"Das werden wir ja noch sehen. Soweit ich weiß, wird er selbst die Riegenprüfungen im Säbelkampf abnehmen."

Garuel und Rahor wurden hellhörig.

"Wie? Wir sollen gegen Bohain antreten?" fragten sie fast gleichzeitig.

"Habt ihr etwa Angst? Es erwartet sowieso keiner, dass ihr gewinnt." Sie lachte bei diesen Worten.

"Wieso 'ihr'?" fragte Akosh. "Ich dachte, du bist auch für die Prüfung zugelassen?"

"Eben. Aber ich werde dafür sorgen, dass Bohain diesen Kampf nicht so bald vergisst..."

Die Wochen bis zur Prüfung vergingen rasch und schon längst hatten sich die Säbelschüler und die Bewohner Vas-Zaracs an den Anblick der sichelbewehrten Lennys gewöhnt. Inzwischen war sie ihm Training mit der heiligsten aller Waffen so weit vorangeschritten, dass sie auch hier Rahor und alle anderen Auszubildenden schlug und Saton war erleichtert, dass seine Tochter die Entscheidung für den frühen Sichelerhalt immer wieder bestätigte.

Mittlerweile hatten einige weitere Silberschiffe der Flotte das Sichelland verlassen und der Zeitpunkt, an dem der Shaj selbst auf der Abendinsel nach dem Rechten sehen wollte, rückte zusehends näher. Immer häufiger verließ er die Stadt für mehrere Tage, um das Treiben an der Küste zu überwachen oder sich zusammen mit den beiden Shajs Ron-Caha-Hel und Maliss die Arbeit in den Bergwerken anzusehen oder die Details des Unternehmens auszuarbeiten. Während seiner Abwesenheit oblag es vor allem Wandan, über die Disziplin und Ordnung in der Burg zu wachen.

Als Saton von einer dieser kurzen Reisen zurückkehrte, erwartete ihn sein oberster Cas bereits im Kaminzimmer. Sie hatten es sich schon seit geraumer Zeit angewöhnt, dort bei dem einen oder anderen Becher Sijak die Geschehnisse der letzten Tage zu diskutieren und so den Anschein von Ruhe und Gelassenheit zu erwecken. Beides kam in diesen hektischen und spannenden Wochen häufig zu kurz und Saton legte größten Wert darauf, weder sein Volk noch seine unmittelbare Umgebung zu vernachlässigen, auch wenn der Schritt, den er gerade gen Süden wagte, ein noch nie zuvor dagewesenes Ereignis darstellte.

"Ich gebe es ungern zu, aber ich scheine in Semon-Sey recht überflüssig zu sein." sagte er irgendwann halb scherzend, halb ernst. "Du ersetzt mich tadellos."

Wandan grinste.

"Nur, weil du es von mir erwartest. Ich beneide dich nicht, Saton. Nicht um deine Reisen, nicht um die Aufgaben, die sich dir hier sonst stellen und am allerwenigsten um deine Verantwortung. Und überflüssig bist du keineswegs. Ich bin ein Kämpfer, kein Herrscher. Selbst die kleinsten Schwierigkeiten verunsichern mich hier nur allzu leicht."

"Wovon man nichts merkt, wenn man herumfragt. Du hast alles fest im Griff. Dafür bin ich dir sehr dankbar. Und auch für den Umstand, dass ich überhaupt auf dich zählen kann. Diese lange Periode des Friedens erlaubt es mir, meinen obersten Krieger mit solchen wichtigen Pflichten zu betrauen. Würde Zrundir unsere Grenzen angreifen, bräuchte ich dich an meiner Seite."

"An der ich weit lieber stehe als an deiner Stelle in dieser Burg."

Beide stießen mit ihren Kelchen an und hingen eine Weile ihren Gedanken nach. Es war schließlich Wandan, der das Schweigen brach.

"Es gibt da noch etwas..." begann er etwas zögernd. "Etwas, was dich vielleicht weniger erfreuen wird."

Saton schwante nichts Gutes.

"Lenyca?"

Um Wandans Mundwinkel zuckte ein Lächeln. "Du nennst sie immer noch so. Alle sagen 'Lennys' zu ihr. Ich habe mich vielleicht schon zu sehr daran gewöhnt."

"Ich nenne sie selbst so, wenn ich mit ihr spreche. Nicht immer, aber oft. Vor allem, weil sie es so möchte. Aber ich vergesse auch ihren richtigen Namen nicht. Also, es geht um sie?"

"Ich fürchte ja."

Ein Schatten legte sich über Satons Gesicht. "Etwas Ernstes?"

"Nicht allzu sehr, denke ich. Hoffe ich. Sie ist eine exzellente Kämpferin, das weißt du. Und sie hat zumindest ein wenig gelernt, ihr Temperament zu zügeln. Aber es gibt zwei Dinge, die mir schwer im Magen liegen."

"Und die wären?"

Wandan räusperte sich, richtete sich auf und bemühte sich, sicher und überzeugt zu klingen.

"Ich glaube, dass sie nach wie vor die Kasernenregeln strapaziert und einige überhaupt nicht akzeptiert. Wie ich höre, trifft sie sich häufig mit ein paar Altersgenossen hinter der Kasernenmauer. Und es ist nach wie vor verboten, sich außerhalb des Geländes aufzuhalten. Und sie hat in letzter Zeit wieder einige Male den Unterricht geschwänzt."

Saton lachte vergnügt.

"Und deshalb machst du dir Sorgen? Wandan, fang bitte nicht an, ungerecht zu werden. Ich selbst habe in meiner Jugend viel Zeit außerhalb der Mauern verbracht und du genauso. Und wir alle hatten Tage, an denen uns ein Ausritt oder ein Spaziergang verlockender erschien als die Unterrichtsstunden."

"Das ist es nicht. Ich meine damit, dass ich sie nicht anschwärzen möchte. Aber vor uns liegen ungewisse Zeiten. Ich bin um ihr Wohl bedacht. Wenn Lennys sich jetzt zu sehr an Freiheiten gewöhnt, die sie eigentlich nicht haben sollte, könnte es später schwer werden, sie... nun ja... wieder 'einzufangen'."

"Sie kann sehr gut auf sich aufpassen. Das sagst du selbst immer wieder. Erinnere dich nur an unseren letzten Ausflug ins Grenzland. Ich glaube allmählich, der Feind, der Lennys im Zweikampf schlagen kann, muss erst noch geboren werden."

"Da gebe ich dir recht. Und damit wären wir schon beim zweiten Problem."

"Ich höre."

"Sie ist gut. Sehr gut. Vielleicht zu gut. Ich fürchte, ich habe ihr ein Zugeständnis gemacht, das ich jetzt bereue."

Saton horchte neugierig auf.

"Du? Ein Zugeständnis?"

"Ich habe mich auf eine dumme Wette mit ihr eingelassen. Manchmal hat sie eine ziemlich einnehmende Art. Sie meinte, sie würde Bohain bei der Riegenprüfung besiegen."

"Und du hast dagegen gewettet?"

"Ja. Wider besseren Wissens. Ich wollte sie eigentlich nur ins Zweifeln bringen, mehr nicht."

"Und was hast du eingesetzt?"

Wandan seufzte beklommen.

"Es ist mir so herausgerutscht. Ich... ich sagte, bevor sie Bohain im Säbelduell schlägt, würde sie eher... Cala im Sichelkampf besiegen."

Saton unterdrückte ein Grinsen. "Ein schlechter Vergleich. Es gibt nur zwei Menschen, die Cala die Sichel aus der Hand schlagen können und die sitzen beide hier."

"Sie will es darauf ankommen lassen."

"Ach, so ist das. Wenn sie also gegen Bohain gewinnt, erlaubst du ihr, mit der Sichel Cala herauszufordern?"

Wandan senkte das Haupt. "Es tut mir leid. Es war dumm von mir, mich auf so etwas einzulassen."

Nun bedeutend entspannter lehnte sich Saton wieder zurück.

"Ich sehe nicht, wo das Problem ist. Ehrlich gesagt, wäre ich auf beide Kämpfe recht gespannt. Vergiss nicht, sie ist meine Tochter. Und so sehr ich Bohain und Cala schätze, ...ich kann nicht behaupten, dass ich eine Sieg durch Lennys bedauern würde."

"Das würde ich auch nicht. Aber es wäre nicht gut für die Moral unter den Cas oder in der Kaserne, wenn die namhaftesten Krieger einer Sechzehnjährigen unterliegen."

"Nun, natürlich würde es sie frustrieren, aber sie würden auch lernen, noch mehr Respekt vor der künftigen Shaj zu haben. Es ist Lennys' Art, sich Ehrfurcht zu verschaffen. Du kannst zumindest nicht mehr behaupten, dass sie nur von ihrem Namen zehrt."

Immer noch nicht voll und ganz überzeugt, setzte Wandan noch einmal an.

"Ich verstehe dich, Saton. Sowohl deine Worte als Vater als auch deine Entscheidungen als Shaj. Aber ich sehe diese Schwierigkeiten, die für dich keine sind, in der Gesamtheit. Lennys nimmt manches noch zu leicht, sie macht sich zu wenig Sorgen um ihre eigene Sicherheit und hin und wieder tendiert sie dazu, sich zu überschätzen oder zumindest nicht mit der nötigen Bescheidenheit voranzuschreiten. In Gefahrensituationen könnte diese Kombination für sie unangenehm werden. Und wir sollten auch nicht vergessen, dass ihr Bild in der Öffentlichkeit sich nicht ändern wird, wenn sie eines Tages den Thron besteigt. Sie sollte schon vorher respektiert werden - im Volk. Nicht nur bei den Kriegern. In vielerlei Hinsicht hat sie große Fortschritte gemacht. Aber noch ist sie weit davon entfernt, eine Shaj..."

Wandan musste nicht weitersprechen. Er erkannte an Satons Blick, dass der Shaj begriffen hatte.

"Ich bin wohl auch ein wenig zu euphorisch." gestand er. "Und du hast recht. Was die Sache mit Bohain und Cala angeht, so bitte ich dich aber dennoch, dein Wort zu halten. Sie soll den Kampf mit Cala erhalten, falls es ihr gelingt, Bohain zu besiegen. Ich weiß, es gefällt dir nicht, aber vielleicht ist dieses frühe Aufeinandertreffen mit würdigen Gegnern besser für sie als wir denken."

"Wie du wünschst."

"Was diese andere Sache angeht... bitte behalte sie ein wenig im Auge. Gegen heimliche Treffen hinter der Kasernenmauer habe ich nichts einzuwenden. Aber sollte sie sich weiter entfernen, möchte ich, dass du ihr folgst. Zu ihrer eigenen Sicherheit. Erstatte mir Bericht. Umgehend. Falls möglich, würde ich mir dann auch gern selbst ein Bild davon machen."

Das Blut des Sichellands

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