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Das Blut des Sichellands 11. Tag des Sis im 8. Jahr Satons

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Kaum ein Sonnenstrahl fiel durch die dichten Kronen und Äste der Kiefern, Fichten und Eiben und am Waldboden herrschte ein dunkelgrünes Dämmerlicht, selbst in den Sommermonaten. Dann roch es nach Moos und Farn, nach Pilzen und Beeren.

Im Sommer.

Aber der war noch fern.

Weiter oben, dort wo der Forst das geheimnisvolle Yto Te Vel schützte, lag sogar noch Schnee. Schnee, der hier gar nicht erst bis zum Boden gelangte, sondern nur die höchsten Baumwipfel bestäubte.

Im Sommer war es hier, im fortwährenden Schatten, angenehm kühl.

Im Sommer.

Jetzt kämpfte Mensch wie Tier gegen eisige Kälte. Die Bäume schützten vor Regen, Schnee und Wind. Aber nicht vor dem Frost. Gerade an Tagen wie diesen, wenn die Sonne hoch über dem Wald scheinheilig am milchigen Winterhimmel strahlte, schnitt diese Kälte besonders unbarmherzig ins Fleisch. Man fühlte, sah und hörte sie, wenn man durch das gefrorene Unterholz wanderte und der Atem sich in glitzernde Nebelwolken verwandelte.

Aber es kam selten jemand in diese so stille Gegend. Nur hin und wieder suchten einzelne Menschen den Weg durch den Forst und sie verharrten nie lange, sondern mühten sich, die Reise rasch hinter sich zu bringen. Nicht, weil sie sich vor Wölfen und anderem Getier fürchteten und auch nicht, weil sie der Düsternis des Waldes entfliehen wollten, sondern weil es sie zu ihrem Ziel zog und es nur wenige, dann aber umso dringlichere Gründe gab, Yto Te Vel zu besuchen oder zu verlassen.

Doch dieses eine Mal ließen sie sich Zeit, die Menschen, die vom Süden hergekommen waren. Vier an der Zahl und sie ritten auf Mondpferden, von denen ein jedes so schön gewachsen war, dass es dem gemeinen Volk auf den Straßen Semon-Seys die Sprache verschlug, wenn sie sich dort zeigten.

Beinahe eine Stunde war es nun her, dass die Gruppe eine Rast beschlossen hatte. Drei Männer und eine Frau waren abgesessen und einer von ihnen, ein wahrer Hüne, hatte sich sofort daran gemacht, ein Feuer zu entfachen, an dem sich die erschöpft wirkende Gefährtin aus ihrer Mitte wärmen konnte. Ein anderer nahm seinen eigenen Umhang ab und legte ihn ihr zusätzlich zu ihrem eigenen über die Schultern.

"Früher hat mir diese Kälte nichts ausgemacht. Und auch das Reiten nicht." sagte die Frau leise und obwohl sie sich um einen scherzhaften Ton bemühte, entging ihren Begleitern nicht die Sorge, die darin mitschwang. Sie begriffen nicht ganz, woher sie entstammte, denn der Grund für die fehlende Kraft lag auf der Hand und eigentlich hätte die Geschwächte gerade deshalb fröhlich sein müssen. Doch schon seit geraumer Zeit wich das strahlende Lächeln häufig einem traurigen Ausdruck, den sich niemand so recht erklären konnte.

Auch nicht der, der sich am meisten um sie bemühte.

"In Yto wartet ein warmes Haus auf uns. Es tut mir leid, dass ich dir diese beschwerliche Reise zumute. Wir hätten früher gehen sollen."

Sie schüttelte sachte den Kopf.

"Wir konnten nicht früher gehen. Du wurdest gebraucht und du wirst es immer noch. Und ich weiß, wie wichtig es ist, dass es in Yto Te Vel geschieht und nirgendwo sonst."

Sie zog seinen Umhang noch enger um sich und presste die Lippen zusammen, damit sie nicht zitterten. Im selben Moment durchfuhr ein heftiger Schmerz ihren Leib und sie zuckte unwillkürlich zusammen. Sofort hob ihr Beschützer den Kopf.

"Alles in Ordnung." versuchte sie, ihn zu beschwichtigen, konnte aber nicht verhindern, dass ihr Atem sich beschleunigte. "Das ist ganz normal. Sie... sie hat manchmal ein ziemliches Temperament." Jetzt lächelte sie wieder.

"Bist du dir wirklich sicher? Ich meine, es könnte auch ein 'er'..."

"Ich bin mir sicher, Saton. Und die Heiler sind es auch." Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: "Bist du enttäuscht?"

Doch Saton lachte.

"Enttäuscht? Darüber, dass ich eine wundervolle Tochter bekomme, die uns schon vor ihrer Geburt auf Trab hält? Niemals! Sie wird ihrer Linie alle Ehre machen!"

"Das wird sie...." bestätigte die Frau leise. "Eine wahre Tochter der Nacht. Sie lässt mich kaum schlafen.“

„Das zeigt, wie gesund sie ist.“ erwiderte Saton stolz. Doch dann wurde er nachdenklich. „Es ist eine schwere Zeit für dich. Ich sehe, dass du oft Schmerzen hast. Die Heiler...“

„... können das nicht verhindern. Nein, Saton, kein Heiler kann das. Aber nicht mehr lange, und dann...“

Sie sprach den Satz nicht zu Ende, doch aus irgendeinem Grund schien sie das Vergehen ihrer Beschwerden eher zu fürchten, denn herbeizusehnen. Saton hatte es längst aufgegeben, seine Gemahlin nach dem Ursprung ihrer Traurigkeit zu fragen und er war sich sicher, dass sie bald zu ihrer alten Zuversicht zurückfinden würde, wenn das Kind erst geboren war.

Einige Schritte vom Feuer entfernt standen die beiden Männer, die das Paar begleiteten. Sie zogen sich während der Ruhepausen stets ein wenig zurück und mühten sich darum, den werdenden Eltern die eine oder andere Gelegenheit zu einem unbelauschten Gespräch zu geben. Jetzt beugte sich der Hochgewachsene, der die Flammen entfacht hatte, zu seinem nur wenig kleineren Kameraden hinüber.

„Mit der Nacht nimmt die Kälte zu. Und Yto Te Vel ist noch weit.“

Der andere nickte stumm.

Auch Saton hatte die Worte vernommen.

„Geduld, Wandan! Allein Cureda entscheidet, wann sie bereit ist, weiterzureiten.“

„Aber er hat recht...“

Zaghaft löste sich Cureda aus Satons Arm, der auf ihren Schultern lag. „Wir sollten nicht länger hierbleiben. Das Reiten schmerzt, aber die Kälte der Nacht würde mich nur noch mehr schwächen.“

Sie rief ihr Pferd herbei, doch selbst mit Satons Hilfe fiel es ihr schwer, wieder aufzusitzen. Unter ihrem weiten, schwarzen Ritualgewand und dem Wollumhang war kaum zu erkennen, wie nah die Geburt schon war. Nur wenn sie, wie jetzt, im Sattel saß und der Stoff sich glatt um ihren Leib spannte, zeichnete sich darunter der runde Bauch der Schwangeren ab. Sie legte eine Hand darauf und griff mit der anderen nach den Zügeln.

„Du darfst dich nicht überanstrengen.“ sagte Saton, während seine eigene Stute auf ihn zutrabte. „Wir könnten auch ein Lager aufschlagen und mehrere Feuer anzünden. Wenn du dich mit unseren Umhängen wärmst...“

„Das kommt nicht in Frage. Ich schaffe es bis Yto. Noch heute. Und ich möchte, dass Wandan und Cala mich antreiben, wenn ich zu langsam bin. Keine falsche Rücksicht. Bitte.“

Sie sprach mit Nachdruck und Saton gab sich vorerst geschlagen. Das zarte Erscheinungsbild Curedas hatte ihn schon oft über ihre eigentliche Stärke hinweggetäuscht, auch wenn ihre Kraft in den letzten Wochen zunehmend bröckelte.

Cala und Wandan, die beiden Männer, die ihnen zur Seite standen, wirkten erleichtert und nickten sich in stillem Einverständnis zu, bevor auch sie sich auf die Pferde schwangen.

„Sie ist hart im Nehmen.“ meinte Cala leise.

„Das ist sie.“ stimmte Wandan zu. „Aber sie leidet. Auch wenn sie versucht, es zu verbergen.“

„Ist das ein Wunder? So kurz vor der Geburt....“

„Kurz? Die Heiler sagen, das Kind kommt im Rin zur Welt. Und jetzt ist noch nicht einmal die Hälfte des Sis vorüber. Also kann durchaus noch ein ganzer Monat vergehen... Und ist dir nicht aufgefallen, wie sehr ihr die Schwangerschaft zusetzt? Andere blühen auf, aber Cureda...“

Cala runzelte die Stirn.

„Machst du dir Sorgen?“

Wandan antwortete mit einem grimmigen Schnauben.

„Natürlich. Und nicht nur ich. Das ganze Sichelland wartet auf dieses Kind. Und Saton denkt an nichts anderes. Es ist gut, dass sie nach Yto gehen. Dort haben sie Ruhe. Beide. Cureda und Saton. Aber ich denke, sie hätten früher gehen sollen.“

Eine ganze Weile ritten sie schweigend nebeneinander her, nur wenige Meter hinter denen, die sie beschützen sollten. Sie kannten diesen Wald, hier drohte keine Gefahr durch Angreifer, aber trotzdem wollten sie sich nicht zu weit entfernen.

„Sie sind ein schönes Paar.“ sagte Cala nach einer Weile. Sein Blick galt immer noch Saton und Cureda. Beide hatten ihre langen schwarzen Haare offen über die Schultern gebreitet und sahen sich so auffällig ähnlich.

„Sind sie.“ brummte Wandan.

„Wie füreinander geschaffen.“

„Sind sie. Wirst du jetzt melancholisch?“

„Vielleicht. Ich frage mich, wie ihre Tochter wird. Eine stille Priesterin wie Cureda oder eine mächtige Kriegerin mit den Fähigkeiten Satons.“

Wandan zuckte die Achseln.

„Lass sie erst mal zur Welt kommen. Sie wird ihren Weg schon gehen.“

Satons Anwesen in Yto Te Vel lag abseits der anderen Gebäude, umgeben von einem kleinen Garten und hohen Bäumen. Die Dienerschaft, die hier während seiner Abwesenheit alles hegte und pflegte, hatte jeden Raum besonders herausgeputzt und war nun peinlich darauf bedacht, dem Hausherrn, seiner Gemahlin und den beiden mitgereisten Gästen jeden Wunsch zu erfüllen.

Obwohl bei ihrer Ankunft die Nacht bereits hereingebrochen war, hatte Saton Wandan noch in sein Arbeitszimmer gebeten. Beide waren noch nicht wirklich müde und ihrer beider Pflichten boten nur selten Zeit für zwanglose Gespräche. Aber noch ehe sie es sich bequem gemacht hatten, platzte Wandan mit dem heraus, was ihn schon seit einigen Stunden beschäftigte.

„Ich könnte bleiben. In Vas-Zarac kommt man auch ohne mich aus.“

„Nein, Wandan.“ Saton winkte ab. „Ich weiß dein Angebot zu schätzen. Und glaub mir, ich hätte dich gern in meiner Nähe, in diesem besonderen Moment. Gerade dich. Aber ich darf nicht egoistisch sein. Geh nach Semon-Sey zurück und sorge dort für Ordnung. Es darf nicht zum Chaos kommen, nur weil der Shaj Vater wird.“

„Das täte es sicher nicht. Also gut, du willst es nicht anders. Aber du lässt es mich wissen, wenn du mich brauchst? Ich kann, wenn es sein muss, innerhalb eines Tages hier sein.“

„Das weiß ich.“ Er klopfte seinem Freund auf die Schulter, dann wies er zu zwei Sesseln, die vor dem Kamin standen.

„Sijak?“

Wandan nickte. „Gern.“

Saton reichte ihm einen Kelch, den er zuvor mit einer blutroten Flüssigkeit aus einer Kristallkaraffe gefüllt hatte.

„Möchtest du, dass ich heute noch zurückreite?“

„Nein. Du und Cala, ihr solltet euch ausruhen. Morgen oder übermorgen. Wir sind alle müde von der Reise.“

Wandan sah sich in dem holzgetäfelten Raum um.

„Es ist ein schönes Haus. Ich bin lange nicht hier gewesen.“

„Ebenso lange wie ich.“ lächelte Saton. „Ich liebe Vas-Zarac, aber ich vermisse Yto Te Vel, wenn ich dort bin. Diese Stille hier. Die Natur rund um uns herum. Die Mondpferde und die Batí-Priester. Und hier habe ich Cureda gefunden. Das werde ich nie vergessen.“

„Wie geht es ihr?“

Saton seufzte. „Den Umständen entsprechend. Der lange Ritt hat sie sehr angestrengt. Sie schläft jetzt und ich musste all meine Überredungskunst aufbringen, um sie zum Essen zu bewegen.“

„Was sagen die Heiler?“

„Nicht viel. Sie meinen, dass die erste Schwangerschaft häufig schwierig verläuft. Und ich fürchte, unsere Tochter macht es ihr nicht leicht. Wer es nicht besser weiß, denkt wohl, dass wir stündlich mit der Geburt rechnen. Ich bin froh, dass sie sich hier in den letzten Wochen ein wenig erholen kann. Vas-Zarac hält ständig Aufgaben für sie bereit und ich kann sie nicht immer davon abhalten, ihnen nachzugehen.“

„Sie ist deine Gemahlin. Die Gemahlin des Shaj. Das ist kein leichtes Leben. Du gebietest über die Krieger des Sichellandes. Es ist sicher nicht einfach an deiner Seite.“

Wandan hatte freundlich gesprochen, doch Saton erkannte den Ernst der Worte.

„Nein, das ist es nicht. Und doch hat sie dieses Schicksal angenommen. Ich hätte es verstanden, wenn sie sich davor gescheut hätte.“

„Sie liebt dich. So wie du sie. Sie wusste, was sie erwartet. Und sie ist stark. Eigentlich bist du zu beneiden. Nicht wegen der Krone, sondern wegen Cureda.“

Der Shaj runzelte die Stirn.

„Wenn du nicht mein bester, vielleicht sogar mein einziger wahrer Freund wärst, müsste ich jetzt wohl aufhorchen. So allerdings kann ich dir für diese Verbundenheit nur dankbar sein. Du dienst Cureda ebenso ergeben und treu wie mir und ich hoffe, dass ich auch auf dich zählen kann, wenn es um meine Tochter geht.“

„Selbstverständlich. Es wird mir eine Ehre sein, die Familie Ac-Sarr zu beschützen. Auch wenn unsere gemütlichen Abende in den Cas-Kellern jetzt wohl nur noch selten stattfinden werden. Vaterpflichten, Saton. Ich werde an dich denken, wenn ich den Kelch auf dich erhebe, während du deiner Tochter den...“

„Ich warne dich...“ unterbrach Saton lachend. „Glaube ja nicht, dass ihr mich so einfach loswerdet. Im Augenblick zählt für mich nur die Geburt meines Kindes, seine Gesundheit und natürlich das Wohlergehen Curedas. Aber wenn unsere Kleine erst einmal auf der Welt ist, werde ich mich nicht mehr länger vor meinen anderen Aufgaben drücken können.“

Wandan nickte.

„Irgendwann wirst du ihr sagen müssen, was sie ist. In welches Schicksal sie geboren wurde. Eine echte Ac-Sarr. Das ist nicht nur ein Geschenk.“

„Sie wird es dennoch annehmen. Sie ist stark. Wie ihre Mutter. Aber noch muss ich nicht daran denken. Vielleicht gönnt mir Ash-Zaharr ein paar friedliche Jahre, bevor diese Wahrheit ans Licht kommen muss. Meine Güte, Wandan, ich habe mir so lange ein Kind gewünscht. So lange... Ist es falsch, wenn ich im Augenblick nichts anderes als Freude empfinden kann? Kann nicht auch meine Linie einmal...?"

Doch ein Klopfen ließ Saton verstummen und gleich darauf trat ein Diener ein. Er wirkte nervös.

„Verzeiht, hoher Shaj. Eure... Eure Gemahlin...“

Sofort richtete sich Saton auf. Er wirkte alarmiert.

„Ja?“

„Sie... sie ist soeben erwacht und... sie... sie wünscht, den hohen Herrn Wandan zu sprechen.“

„Mich?“ Überrascht erhob sich der Krieger und sah Saton fragend an. Der jedoch atmete erleichtert auf, vielleicht, weil er mit schlimmeren Nachrichten gerechnet hatte.

„Sie wird dir für deinen Begleitschutz danken wollen. Geh nur. Aber sorge dafür, dass sie danach weiter ruht.“

Wandan nickte und folgte dem Diener nach draußen.

Für Cureda brachte die Rückkehr nach Yto Te Vel nicht nur Freude mit sich. Sie liebte diesen Ort, das herrschaftliche Haus und die Menschen, die hier lebten und die viel stiller und geheimnisvoller waren als die restlichen Sichelländer. Aber anders als Saton dachte sie auch einen Schritt weiter und das war es, was ihr zugleich Kummer bereitete und Angst einflößte. Angst, über die sie mit niemandem sprach, auch nicht mit dem, der Teil ihres Lebens geworden war. Noch nicht.

Bald schon musste sie es ihm sagen. Vielleicht morgen. Vielleicht in einer Woche. Vielleicht in einem Monat. Aber dann...

Das Herz wurde ihr schwer und mit der Bitte, Wandan rufen zu lassen, hatte sie bereits einen ersten Schritt in diese Richtung getan. Einen unabwendbaren Schritt, einen, der ihr die Endgültigkeit einer Entscheidung, die sie vor nicht einmal einem Jahr getroffen hatte, noch einmal verdeutlichte und die Wahrheit, die sie mit sich brachte, besiegelte.

Lange hatte sie überlegt, ob sie Wandan eine solche Bürde zumuten konnte. Doch wem, wenn nicht ihm? Natürlich war es gefährlich, neben Saton noch einen weiteren Menschen ins Vertrauen zu ziehen, aber Wandan musste ja nie erfahren, was dahintersteckte. Er musste nichts wissen. Er musste nur ihrer Bitte nachkommen. Und vielleicht, vielleicht... war das Schicksal gnädig genug, ihn diese Bitte vergessen zu lassen. Vielleicht würde er nie erfahren, wie gewaltig die Verantwortung war, die er trug und er würde stets glauben, es handle sich um eine kleine, fast schon symbolische Gefälligkeit. Vielleicht war es einfach das Beste, wenn diese letzte Sicherheit nicht in Satons Händen lag, sondern in denen eines Ahnungslosen.

Sie hörte Schritte.

"Komm herein." sagte sie, noch ehe Wandan anklopfen konnte und als der einzige Mann, den Saton je als 'wahren Freund' bezeichnet hatte, eintrat, setzte sie sich auf und bemühte sie sich um ein entspanntes Lächeln, das die düsteren Gedanken, mit denen sie kämpfte, verbarg.

"Geht es dir besser?" fragte er verlegen. Er war nur selten mit Cureda allein und jetzt, da sie geschwächt in ihrem Bett lag, hatte er das Gefühl, in etwas Intimes einzudringen, das ihm eigentlich verwehrt bleiben sollte.

"Kein Grund zur Sorge." erwiderte sie. "Bitte setz dich. Ist Saton noch wach?"

"Ja, das ist er. Ich war gerade bei ihm. Er ist wohl zu nervös, um Schlaf zu finden."

"Es tut mir leid, dass ich euch gestört habe. Mir scheint, dass alles, was ich über werdende Väter gehört habe, auf ihn im besonders hohen Maße zutrifft. Wenn er könnte, würde er unsere Tochter wohl am liebsten selbst zur Welt bringen."

"Nur, um dir die Schmerzen abzunehmen."

Sie lachte.

"Saton ist ein Krieger, Wandan. Er muss genug Schmerz und Verletzungen in seinem Leben hinnehmen. Im Vergleich dazu ist das, was ich verspüre, nicht der Rede wert."

"Ich glaube, dass du mehr ertragen musst, als du zugibst." sagte Wandan ernst.

"Nicht mehr, als ich auch ertragen kann. Ihr solltet euch beide nicht so viele Gedanken machen. Sag, wirst du bei uns bleiben? Oder schickt Saton dich zurück?"

"Er will, dass ich nach Semon-Sey gehe und dort für Ordnung sorge. Ich wäre gern bei euch geblieben, aber vielleicht hat er recht. Und bei der leisesten Nachricht werde ich sofort nach Yto kommen, das verspreche ich."

"Das wissen wir. Dass wir uns auf dich verlassen können. Und wir sind hier auch nicht allein. Es leben so wunderbare Menschen hier, sie alle werden sich um uns bemühen. Sie verehren Saton."

"Wie jeder in unserem Lande. Und so wie auch jeder dich verehrt. Aber ehe ich es vergesse,... Mondor hat für morgen seinen Besuch angekündigt. Ich glaube, er kann es kaum erwarten, dich zu sehen."

Jetzt leuchtete echte Freude in Curedas pechschwarzen Augen.

"Mondor! Oh, wie schön. Ich habe ihn so vermisst. Am liebsten hätte ich ihn noch heute nacht begrüßt, aber..."

Wandan räusperte sich.

"Cureda... verzeih, wenn ich so offen bin. Aber du mutest dir wohl ein bisschen zu viel zu. Mondor wird kommen. Aber er wird es auch akzeptieren, dass du Ruhe brauchst. Und Saton ist trotz aller Vorfreude nicht blind. Ich habe nicht das Recht, dich um etwas zu bitten, aber wenn ich es könnte, so würde ich mir wünschen, dass du auf dich acht gibst. Nicht nur um des Kindes Willen. Sondern auch für dich."

Sie nickte nachdenklich.

"Danke für deine Fürsorge. Glaub mir, ich weiß das zu schätzen. Trotzdem freue ich mich auf Mondor. Und vielleicht kann ich schon allein deshalb heute nacht besser..."

Ein plötzlicher Stich ließ sie zusammenfahren und sie krümmte sich unwillkürlich.

Erschrocken sprang Wandan auf.

"Was...?"

"Nichts...." keuchte sie und atmete mehrmals tief durch. "Es ist nichts.... Ich glaube... da hat jemand andere Pläne, was die Nachtruhe angeht."

Immer noch verunsichert beobachtete der Krieger, wie Cureda sich langsam wieder entspannte. Auf ihrer Stirn standen Schweißperlen, aber ihre Züge waren nicht mehr schmerzverzerrt.

"Vielleicht liegt es... an seinem Blut..." sagte Wandan leise. "Es heißt, dass diese Linien nur einen Nachkommen haben. Vielleicht..."

"Ich kenne diese Geschichten. Aber es gibt auch andere Familien, die mit schweren Schwangerschaften zu kämpfen haben."

"Natürlich. Du hast recht, ich sollte nicht überall ein böses Omen wittern. Und sie wird sicher etwas ganz Besonderes. Jeder sagt das."

Um Curedas Mund zuckte erneut ein Lächeln. "Vor allem Saton. Hoffentlich lässt er sie das nicht unentwegt spüren. Ich habe die leise Befürchtung, dass er unsere Tochter ein bisschen zu sehr verwöhnen wird."

"Du wirst ihn schon in Schach halten." lachte Wandan. "Wenn er überhaupt auf jemanden hört, dann auf dich. Ich hoffe, ich bin nicht hier, damit du mich darum bittest, Saton bei seiner Erziehung auf die Finger zu sehen."

Doch Cureda wurde schlagartig wieder ernst.

"Um ehrlich zu sein, doch."

"Wie bitte?"

"Natürlich nicht nur. Ich meine,... also, was ich sagen will, Wandan, ...ich bin vielleicht nicht immer da. Vielleicht... kann ich nicht so auf sie achten, wie ich es möchte und... also... ich wäre um einiges beruhigter, wenn ich wüsste, dass du ein Auge auf sie hast."

Etwas erstaunt zog Wandan die Brauen hoch.

"Ein Auge auf sie haben? Auf die Tochter von Saton Ac-Sarr? Auf deine Tochter? Ich werde natürlich alles dafür tun, um Unheil von ihr fernzuhalten, aber ich kenne Saton. Er wird ein wundervoller Vater sein, so wie du eine wundervolle Mutter sein wirst."

"Das meine ich nicht. Und... das ist auch nicht alles. Es gibt noch etwas, worum ich dich bitten möchte und es wird dir vielleicht etwas merkwürdig vorkommen. Aber es ist mir sehr wichtig und... ich möchte, dass du mich nicht nach den Gründen fragst."

Sie holte einen Samtbeutel hervor, den sie irgendwo am Körper getragen hatte und reichte ihn Wandan.

Verwirrt nahm er ihn an sich, öffnete ihn aber nicht.

"Was ist das?"

"Etwas, das mir gehört. Ein Schmuckstück. Ein Erbe aus meiner Familie. Es ist sicher nicht viel wert, aber ...ich möchte, dass du es für sie aufbewahrst."

"Für... sie?"

"Für mein Kind."

"Aber... warum...?"

"Nimm es. Und zeige es niemandem sonst. Erzähle keinem davon. Aber vielleicht kommt der Tag, an dem du es brauchst, und dann wirst du es auch wissen. Trage es bei dir, wenn du sie begleitest und wann immer ihr eine Gefahr drohen könnte."

Jetzt doch recht beunruhigt machte Wandan Anstalten, die Kordel zu lösen, mit der der Beutel verschlossen war, doch Cureda winkte ab.

"Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht, bevor sie auf der Welt ist. Und egal was kommt, du darfst es ihr nicht geben. Erst, wenn du es brauchst. Erst, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt. Sie wird wissen, was es ist. Eines Tages wird sie es wissen."

"Du sprichst in Rätseln, Cureda. Warum behältst du es nicht? Oder Saton? Ich glaube wirklich nicht, dass ich der Richtige..."

"Du bist der einzige Mensch außer Saton, den ich darum bitten kann. Und ich kann dir nicht erklären, warum es so wichtig ist, dass ein anderer... Bitte versprich es mir einfach, Wandan. Es darf niemals verlorengehen. Niemals. Sorge dafür."

"...Na... na gut."

"Vielleicht wirst du nie erfahren, worum ich dich hiermit gebeten habe und dann kannst du dankbar dafür sein. Aber vielleicht kennst du irgendwann die Antworten auf all deine Fragen. Und dann wirst du mich verstehen. Vertrau mir."

"Das tue ich. Ich werde es verwahren und behüten wie du es verlangt hast und niemand wird es jemals wissen. Aber wenn deine Tochter mich danach fragt..."

"Sie wird dich nicht danach fragen. Noch ist sie nicht geboren, aber ich glaube, so gut kenne ich sie jetzt schon."

In den nächsten Tagen verbrachten Cureda und Saton viel Zeit im Garten. Obwohl der Winter in Yto Te Vel noch nicht ganz verklungen war und Cureda sich zwei Wollumhänge umlegen musste, um nicht zu frieren, zog es sie immer wieder nach draußen und Saton wich ihr nur selten von der Seite.

Er redete mehr als üblich. Der sonst recht schweigsame Shaj konnte seine Nervosität vor niemandem mehr verbergen. Immer wieder legte er seine Hand auf Curedas gewölbten Leib, um das Leben zu spüren, das darin heranwuchs. Und er malte sich dabei aus, welch ein Mensch seine Tochter wohl werden würde.

"Sicher wird sie genauso schön wie du." sagte er immer wieder und weidete sich dabei an Curedas Anblick. Das lange, glänzend-schwarze Haar, die tiefschwarzen Augen, das schmale Gesicht mit den feinen Zügen und ihre alabasterfarbene Haut waren für ihn der Inbegriff von Vollkommenheit. "Und sie wird deine Klugheit erben und deinen Sanftmut..."

"Besonders sanftmütig scheint sie mir im Augenblick nicht gerade." stöhnte Cureda und hielt sich den Bauch. "Ich glaube, sie kommt nie zur Ruhe. Letzte Nacht hat sie geradezu getobt und in der Nacht davor auch."

Saton strahlte. "Ein gesundes, temperamentvolles Mädchen! Und eine echte Batí!"

"Ja, das ist sie." Ein Schatten legte sich über Curedas Gesicht. "Und manchmal, da ist sie still. So still, dass ich Angst habe, sie könnte... Aber dann macht sie sich nur umso deutlicher bemerkbar. Wie ein Feuersturm."

"Und doch willst du mir noch nicht sagen, welchen Namen du ihr geben möchtest..."

Cureda seufzte.

"Es ist auch deine Tochter. Und du bist der Shaj der Nacht. Eigentlich solltest du entscheiden..."

"Das habe ich doch schon längst. Du trägst sie in dir. Du spürst sie. Niemand kennt sie besser als du. Und deshalb wirst du mir und allen Sichelländern sagen, wie wir sie nennen sollen. Das ist meine Entscheidung. Ich wünschte nur, du würdest mich nicht so lange zappeln lassen."

"Bald, Saton. Sehr bald."

Eine leise krächzende Stimme mischte sich in die Unterhaltung.

"Sehr bald? Drängt es die jüngste Ac-Sarr nun doch in die große Welt?"

Saton lachte immer noch.

"Mondor! Wie schön, dass du noch einmal zu uns gefunden hast! Ich fürchtete schon, du wärst bereits im Tempel!"

"Wie du siehst, habe ich meine Pläne etwas geändert. Der junge Yachemon vertritt mich recht ordentlich und ich dachte, es könnte nicht schaden, wenn ich der Stille der Priester noch einige Tage fernbleibe. Um ehrlich zu sein, kann ich mir in diesen Tagen keinen Ort vorstellen, an dem ich lieber wäre als hier in Yto Te Vel. Auch wenn der Tempel nicht weit entfernt ist, so möchte ich mir nicht vorstellen, erst dann von der Geburt zu erfahren, wenn alle anderen, die hier leben, es schon vor mir wissen."

Mühsam stützte sich Cureda aus ihrem Sessel aus Korbgeflecht auf, rutschte in eine etwas bequemere Haltung und ließ sich dann wieder zurücksinken.

"Eine Geburt kann lange dauern, Mondor. Von den ersten Wehen an können noch viele Stunden vergehen, bis es wirklich ernst wird. Genug Zeit also. Aber ich bin froh, wenn du hier in meiner Nähe bleibst. Wir haben uns so lange nicht gesehen..."

"Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Und wenn du dich wieder besser fühlst, musst du auch unbedingt den Tempel besuchen. Alle Priester fragen mich ständig nach dir. Sie haben mir nie verziehen, dass ich dich gehen ließ."

Saton schnaubte.

"Das klingt, als hättest du deine Erlaubnis geben müssen."

"Natürlich nicht. Aber ich habe selten eine so fähige Priesterin in meinen Reihen gehabt. Sie hätte das Zeug zu meiner Nachfolge gehabt. Und dann kommst du und entführst sie nach Semon-Sey. Eine Schande ist das..."

Doch Mondor zwinkerte bei seinen Worten. Sein Leben lang würde er sich mit Freude an den Tag erinnern, an dem Saton den Batí-Tempel zu einer rituellen Reinigung aufgesucht hatte und dort so zum ersten Mal seine jetzige Gemahlin getroffen hatte. Sechs Jahre war dies nun her und niemals zuvor hatte er Saton und auch Cureda so glücklich gesehen wie in dieser Zeit. Und jetzt endlich würde diese Verbindung durch ein gemeinsames Kind gekrönt werden.

Eine Ac-Sarr.

Ein weiterer Zweig der legendären Linie.

Satons Tochter würde Geschichte schreiben. Womöglich wider Willen. Aber sie würde es tun.

Ob es eine gute, eine glanzvolle oder eine kurze Geschichte war, konnte niemand mit Gewissheit vorher sagen. Doch Mondor hatte keine Zweifel. Saton und Cureda. Ein gewaltiger Krieger, der beste seines Landes und zugleich weise, beherrscht und von edlem Charakter. Eine Priesterin mit einer Gabe zum Göttlichen, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte, sanftmütig, freundlich, klug und von starkem Willen. Es war keine Frage, ob sie ein besonderes Kind gebären würde. Die Frage war lediglich, in welcher Form sich diese Besonderheit äußerte. Kriegerin oder Priesterin? Eine wahre Tochter des Shaj der Nacht oder eine der seltenen Batí, die sich dem Tempeldienst verschrieben?

Die Vorzeichen waren eindeutig. Ein Feuer loderte in Curedas Leib und es war nicht dasselbe, das in ihren Augen leuchtete. Dennoch... der Wille Ash-Zaharrs war unergründlich.

Wohlig in seine eigenen Gedanken vertieft, räkelte sich Mondor im Sessel und sah einem Diener zu, der heiße Getränke brachte.

"Hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?" fragte er dann wie beiläufig.

Saton nickte.

"Nachgedacht... ja, das habe ich. Aber noch immer bin ich nicht zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen. Es wäre ein großes Wagnis."

"Es könnte auch ein großer Erfolg sein."

"Aber sich auch ins Gegenteil verkehren."

"Die Gefahr ist gering. Verschwindend gering."

"Der Weg ist weit."

"Was sind schon Entfernungen?"

Ungeduldig pochte Saton mit seinen Fingerknöcheln auf die Sessellehne.

"Warum jetzt, Mondor? Warum hat es nicht Zeit? Ein paar Wochen, ein paar Monate, kommt es darauf wirklich an? Hier sitzt meine Frau, sie erwartet unser erstes gemeinsames Kind. Und wir alle, die hier sitzen, wissen, dass es unser einziges sein wird. Nur wir und Wandan kennen die Wahrheit. Ihr seid die Drei. Du, Cureda und Wandan. Ich habe immer Respekt gehabt vor deinen Pflichten und Cureda versteht dich wohl noch besser als ich. Aber ich bin auch nur ein Mensch. Ein Mann, der in Kürze den wohl glücklichsten Moment seines Lebens zu erwarten hat. Ist es zuviel verlangt, dass ich mich nur darauf konzentrieren möchte?"

"Keineswegs, mein Freund. Ich bitte dich nur, mein Ansinnen nicht ganz zu vergessen. Wenn deine Tochter erst einmal geboren ist, wirst du stolz nach Semon-Sey zurückkehren, du wirst sie deinem Volke zeigen und ihr all deine Aufmerksamkeit widmen. Und das sollst du auch. Aber für mich bist du dann nicht mehr greifbar und es gibt Dinge, die ich lieber mit dir persönlich kläre als über einen Boten, egal wie zuverlässig er auch sein mag."

"Niemand zwingt dich, hierzubleiben. Du könntest nach Semon-Sey kommen. Allein deine Sturheit bindet dich an Yto Te Vel, aber das heißt noch lange nicht..."

"Hört auf zu streiten." warf Cureda leise ein. Sie war noch blasser als sonst und augenblicklich vergaß Saton die Diskussion mit Mondor.

"Verzeih. Das war rücksichtslos von uns. Fühlst du dich nicht wohl? Komm, ich bringe dich hinein, dann kannst du dich hinlegen."

Diesmal widersprach sie nicht. Als er ihr ihren Arm anbot, stützte sie sich darauf und es schien, dass sie ohne diese Hilfe kaum hätte gehen können.

Es dauerte lange, bis Saton in den Garten zurückkehrte, wo Mondor immer noch geduldig wartete und an seinem Tee nippte. Er ließ sich nichts anmerken und überließ es seinem Freund und Shaj, das Gespräch wieder aufzunehmen.

"Sie verweigert die Schmerzmittel." erklärte Saton plötzlich und es klang schon fast entschuldigend. "Die Heiler bieten ihr Tees und Pulver, aber sie will nichts davon nehmen. Sie meint, es würde eher schaden als nützen."

"Damit könnte sie recht haben." nickte Mondor. "Mit der Heilkunst der Cycala ist es nicht weit her. Und wer eine so schwere Schwangerschaft durchsteht, sollte nicht riskieren, die Probleme noch zu vergrößern."

"Ich fühle mich schuldig. Manchmal glaube ich, dass ich sie zu sehr gedrängt habe. Dass ich mir dieses Kind zu sehr gewünscht habe."

"Ich dachte, ihr wolltet es beide?"

Saton zuckte die Achseln. "Ja, so ist es ja auch. Zumindest sagt sie das. Aber ich habe immer mehr das Gefühl, dass sie sich längst nicht so freut wie ich. Sie würde das nie sagen. Und es liegt auch nicht an ihren Beschwerden. Es war von Anfang an so. So, als hätte sie irgendwelche Befürchtungen oder Ängste, die ich nicht kenne."

"Ängste? Vor dem, was in ihr wächst?"

"Sie liebt unsere Tochter. Ebenso wie ich. Das ist nicht das Problem."

"Dann sprichst du nicht von dem, was in ihr ist, sondern eher, was in eurem Kind ist, nehme ich an?"

"Das klingt, als wäre es etwas Schlechtes. Nein, Mondor, das ist es nicht. Das Blut der Sarr ist nicht böse oder gar eine Last. Es ist etwas Besonderes. In ihm ruht eine Spur des Großen, reiner als in dem aller Batí. Aber muss man davor Angst haben? Ich trage es mein Leben lang in mir. Und ja, es bescherte mir Momente, die ich keinem anderen aufbürden möchte, am wenigsten meinem eigenen Kind. Aber ich kann es nicht verhindern. Und ich habe eine Pflicht. Die Pflicht, dieses Erbe weiterzugeben. Und Cureda wird eine unsagbare Ehre zuteil. Das weiß sie. Ich habe ihr versprochen, dass sie vor meinem Blut keine Angst haben muss. Und ich hätte es ihr nicht versprochen, wenn ich mir nicht sicher wäre."

"Vielleicht hat sie auch Angst vor dem, was dein Kind erwartet. Du sagtest selbst, dass manche Momente..."

"Sie wird stark sein. Unsere Tochter wird so stark wie ihre Mutter und vielleicht um einiges stärker als ich selbst. Sie wird diese Last tragen können. Ertragen können. Und dieses Erbe ist nicht nur eine Bürde, es ist auch ..."

"Ein Segen?"

"So weit würde ich nicht gehen. Aber sieh, Mondor. Ich bin der oberste Gebieter der Nacht. Der Herr der Krieger. Vielleicht wird sie einmal den gleichen Weg einschlagen. Und vielleicht wird sie auch den Thron erhalten. Ehrlich gesagt, dieses Schicksal ist wohl weit grausamer als das Bluterbe selbst. Aber wenn es sie ereilt, dann wird ihr Blut ihr helfen, es anzunehmen. Da bin ich sicher."

Am dritten Tag des Monats des Rin erwachte Cureda lange vor Sonnenaufgang. Ihr war es, als wäre sie eben erst eingeschlafen, doch wie schon in all den Nächten zuvor war es nicht ihre Entscheidung, wann die Ruhe ein Ende hatte.

Ihr Laken war schweißdurchtränkt und obwohl draußen ein eisiger Wind pfiff, glaubte sie, vor Hitze zu zergehen. Auslöser war ein glühendes Pochen in ihrem Bauch.

Das Baby bewegte sich nicht, aber es fühlte sich beinahe so an, als ob allein sein Herzschlag die Schmerzen auslöste. Cureda kannte dieses Gefühl bereits seit einiger Zeit, doch nie war es so unerträglich gewesen wie jetzt.

Sie legte eine Hand auf die Stelle, als ob sie sie damit beruhigen oder kühlen konnte, doch sie wusste, dass es keine Linderung verschaffen würde.

"Wie lange noch?" fragte sie leise. "Wie lange müssen wir noch warten? Wie lange wirst du dich noch gegen diese Gefangenschaft wehren? Wie lange lässt er das noch zu?"

Sie klammerte sich an einen Bettpfosten und stand auf. In den letzten Tagen hatte sie ihr Schlafzimmer so gut wie nicht verlassen und die meiste Zeit liegend auf ihrer Schlafstatt verbracht. Und allein gestern hatte sie zweimal geglaubt, das Kind wolle plötzlich nach draußen drängen, ohne Wehen, ohne weitere Verzögerung. Doch noch ehe sie nach Saton oder auch nur einem Diener hätte rufen können, war der Moment vorüber.

Saton.

Sie musste mit ihm reden. Nichts war wichtiger, aber immer, wenn sie glaubte, der rechte Zeitpunkt sei gekommen, hatte er sie wieder angelacht und seine Freude über das nahende Ereignis kundgetan. Sie brachte es nicht über sich, ihm diese Gefühl zu nehmen und ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren, die mit der Geburt einherging.

Mit schweren Schritten tastete sie sich zum Fenster. Es hatte wieder geschneit. Nicht viel, nur eine dünne, weiße Pulverdecke lag auf den Bäumen und der immer noch gefrorenen Erde. Es hatte nichts zu bedeuten. Noch zwei Tage zuvor war es so warm gewesen, dass alle geglaubt hatten, der Frühling hätte gesiegt. Das Wetter wechselte beinahe täglich und man war leicht versucht, in Hoffnung oder Trübsinn zu verfallen, um schon wenige Stunden später eines Besseren belehrt zu werden.

Etwas regte sich in ihr.

Der brennende Herzschlag schwand etwas, dafür begann das Mädchen jetzt, vehement zu strampeln. Cureda sank stöhnend auf einen Hocker, der am Fenster stand.

"Warte noch..." flüsterte sie ihrem Bauch mit bebender Stimme zu. "Ich muss es ihm erst sagen..."

Beinahe eine ganze Woche verstrich und mit jedem Tag wurden die Stunden, die Cureda außerhalb ihres Bettes verbrachte, weniger. Auf ihren Wunsch hin kam nur ein einziger Diener zu ihr, der das Essen und Getränke brachte, das Bettzeug wechselte und das Zimmer reinigte. In diesen Augenblicken biss sie die Zähne zusammen und tat, als wäre sie nur müde, denn sie wollte nicht, dass der Untergebene Saton berichtete, wie sehr sie sich quälte.

Der Shaj selbst besuchte sie, so oft er konnte. Am liebsten wäre er unentwegt bei ihr geblieben, doch sie bat ihn um Ruhe. Nicht, weil sie ihn nicht gern bei sich hatte. Es tat ihr weh, ihn fortzuschicken, aber noch unerträglicher war ihr der Gedanke, dass er zusah, wie sie mit schmerzverzerrtem Gesicht da lag und vor Anstrengung keuchte und sich auf den Laken wand.

Der einzige Heiler, der noch Zutritt zu ihrem Gemach hatte, musste nach seinem täglichen, stets recht kurzem Besuch immer ratlos von dannen ziehen und er konnte dem Shaj, der erwartungsvoll auf dem Flur wartete immer nur dasselbe berichten:

"Es ist bald soweit. Ich kann nichts für sie tun."

Immer, wenn dies geschah, fragte sich Cureda, wie oft sie noch diese gedämpften Worte durch die Tür hindurch vernehmen musste. Sie kämpfte nicht nur gegen das Unwohlsein, die Schmerzen und die Erschöpfung, sondern auch gegen ihren Stolz, denn all die Vernunft, mit der sie beschenkt worden war, schrie danach, das Gespräch mit ihrem Gemahl zu suchen, das sie nun nicht mehr länger hinauszögern konnte.

Gerade schlüpfte wieder der Diener durch die Tür. Er brachte Wasser und eine Schale mit getrockneten Blüten, die einen angenehmen Duft verströmten.

"Welcher Tag ist heute?" fragte sie matt.

"Der neunte Tag des Rin, hohe Herrin."

Sie nickte schwach und mühte sich, nicht auf den Druck in ihrem Unterleib zu achten, der seit diesem Morgen immer stärker wurde. Jetzt ging gerade die Sonne unter und sie fühlte sich nicht mehr in der Lage, sich auch nur aufzusetzen.

"Ich möchte Saton sehen..." sagte sie leise.

"Sehr wohl, Herrin. Habt ihr noch weitere Wünsche?"

"Nein... nur Saton. Ich will ihn sprechen."

Der Diener verneigte sich kurz und verschwand.

Erstaunlich schnell ertönte das von ihr ersehnte und doch zugleich gefürchtete Klopfen. Es gab kein Zurück mehr. Sie musste es tun. Jetzt.

Unter Satons Augen lagen dunkle Schatten. Einen Moment lang stellte sie sich vor, dass sie gewiss noch mehr von der Anstrengung gezeichnet sein musste, doch es war ihr gleich. Die Zeiten, in denen sie die Sorgen von ihrem Mann hatte fernhalten können, waren nun endgültig vorüber.

"Wie fühlst du dich?" fragte der Shaj, setzte sich auf die Bettkante und ergriff ihre Hand.

"Ich muss dir einige Dinge sagen." erwiderte sie, ohne auf die Frage zu antworten. "Dinge erklären."

Saton runzelte die Stirn.

"Ich möchte nicht, dass du dich anstrengst. Alles, was du mir zu sagen hast, hat doch Zeit. Wenn erst einmal unsere Tochter.."

"Hör mir zu." unterbrach sie ihn bestimmt. "Wir haben keine Zeit. Ich habe keine. Ich muss es dir sagen. Bevor sie geboren wird."

Ein Schauer kroch über Satons Haut. Er hatte Cureda noch nie so ernst, noch nie so unerbittlich gesehen. Was immer sie auch auf dem Herzen hatte, es belastete sie mehr, als er hatte ahnen können.

"Geht es... um den Grund, weshalb du in den letzten Monaten manchmal so traurig warst?"

Sie nickte.

"Saton... es gibt... vieles, was du nicht weißt. Ich hätte es dir nicht verschweigen dürfen, aber ich ... ich konnte es dir auch nicht sagen. Das war mein Fehler. Ich war so egoistisch. An dem Tag, als wir uns zum ersten Mal begegneten, wusste ich, dass du der einzige Mann in meinem Leben sein wirst. Und schon damals wollte ich dir alles erklären. Aber dann bist du mir zuvor gekommen und... und ich hatte nicht mehr den Mut dazu."

"Dir zuvorgekommen?"

"Du wirst mir vielleicht niemals verzeihen, wenn du die Wahrheit erfährst. Du wirst mir nicht verzeihen, dass ich dich so lange... belogen habe. Denn die Wahrheit zu verschweigen, kommt einer Lüge gleich..."

"Verzeihen? Cureda... es gibt nichts auf dieser Welt, was ich dir nicht verzeihen würde..." Er strich ihr lächelnd über das Haar. "Was auch immer du mir sagen willst, du brauchst keine Angst zu haben. Es wird nichts ändern, verstehst du?"

"Es wird alles ändern. Wenn du... wenn du mir helfen willst, dann erlaube mir, zu dir zu sprechen, bis ich alles gesagt habe. Stell keine Fragen. Unterbrich mich nicht. Und ... und berühre mich nicht."

"Ich soll dich nicht...?"

"Ich könnte es nicht ertragen, wenn deine Hand vor mir zurückweicht, aus Entsetzen oder Wut. Nimm sie von mir, solange ich dich noch darum bitten kann. Damit machst du es mir leichter. Und verzeih, wenn ich dich nicht ansehe, während ich rede."

Widerstrebend ließ Saton seine Hand auf ihre Schulter sinken, strich ihr kurz darüber und zog sie dann zurück.

"Nun... gut. Wenn du mich darum bittest... und wenn es dir hilft. Ich verspreche dir, ich werde dir zuhören, was auch immer du mir zu sagen hast und ich werde mein Wort erst wieder erheben, wenn du es mir gestattest. Und wenn du möchtest, werde auch ich dich nicht ansehen."

Sie nickte.

Dann richtete sie ihren Blick auf die schmucklose Wand gegenüber ihres Bettes und begann.

"Ich bin Cureda Ac-Zyr. Ich kannte meine Eltern nicht, denn sie starben als ich klein war und ich wurde großgezogen von einer alten Frau im Dorf Bara-Im. Sie erzählte mir die Geschichte meiner Herkunft, aber auch wenn sie es nicht getan hätte, hätte ich davon erfahren. Als ich alt genug war, einer Säule beizutreten, entschied ich mich für den Weg des Himmels und besuchte die Tempelschulen in Zarcas und Semon-Sey. Aber bald schon sagte man mir, ich müsse nach Yto Te Vel gehen, denn dort würden die reinen Batí gelehrt und ich war eine von ihnen. Also verließ ich Bara-Im und meine Ziehmutter. Sie weinte, weil sie mich verlor, aber sie war auch froh, dass ich meine Bestimmung gefunden hatte.

In Yto Te Vel war ich glücklich. Es war meine Heimat, vielleicht mehr als es Bara-Im jemals gewesen war und ich liebte den Tempel und die Priester und den Dienst an Ash-Zaharr. Eines Tages kam Mondor zu mir und sagte, der Shaj der Nacht wäre auf dem Weg zu uns, denn er müsse sich einer Reinigung unterziehen, die nur im Batí-Tempel vollzogen werden kann. Natürlich war ich nervös. Ich hatte nie zuvor einen Shaj gesehen. Und dann... dann kamst du. Und ich wusste nicht, wie mir geschah. Nie zuvor hat mich ein Mensch so gefesselt, allein durch seinen Blick und seine Anwesenheit. Und als ich erfuhr, dass du dasselbe von mir dachtest, da... schwebte ich geradezu vor Glück. Du fragtest mich, ob ich mit dir mitkommen wolle, nach Semon-Sey. In deine Stadt. In deine Burg Vas-Zarac. Ob ich an deiner Seite bleiben wolle, mein Leben lang. Und ich konnte mir kein schöneres Leben vorstellen als eines, das ich mit dir teilen durfte.

Und ich ging mit dir. Eines Tages besuchte ich meine Ziehmutter und sie freute sich für mich und auch darüber, dass sie mich nun wieder öfter sehen konnte, denn Bara-Im war nicht weit von Semon-Sey und alle... alle waren glücklich. Und ich dachte, dass es nun an der Zeit sei, dir mein Geheimnis zu offenbaren und ich war mir sicher, dass es eigentlich unwichtig sei und dass es keinen Einfluss auf unser Leben haben könne. Aber dann... dann hast du mir ein Geheimnis verraten. Das Geheimnis deines Blutes. Du hast mich zu einer der Drei gemacht, nachdem Assa-Pal gestorben war. Das Blut der Sarr. Das Blut Ash-Zaharrs. Du, mein Gemahl, der Shaj der Nacht. Einer der Blutsträger. Der Erbe der Nacht. Von diesem Moment an... konnte ich dir nicht mehr die Wahrheit sagen. Du hast mir die Geschichte der Erben erzählt. Dass sie immer nur ein Kind zeugen, dass das Blut fortgeführt werden muss. Und mir war klar, dass du gar nicht anders konntest. Auch du wolltest dieses Kind. Nicht nur wegen deiner Linie, nicht nur wegen des Bluterbes. Du hast es dir so sehr gewünscht.

Also bin ich nach Yto Te Vel gegangen. Das war vor einem Jahr. Du hast dich immer gefragt, was ich dort getan habe. Und wahrscheinlich hast du mir meine Ausreden nie so recht glauben wollen. Mondor zu besuchen, die Priester wiederzusehen, meine Riten zu vollziehen. Nein, Saton. Das waren nicht die Gründe. Ich bin dorthin gegangen, weil ich eine Antwort brauchte. Ich habe eine Frage gestellt und eine Antwort erhalten. Ich wollte wissen, ob ich dir den Nachkommen schenken kann, nachdem du dich so sehnst. Und ...nach dem auch ich mich gesehnt habe."

Sie atmete mehrmals tief durch und wieder verstärkte sich der schmerzhafte Druck in ihrem Leib.

"Und ich traf eine Entscheidung. Es war ein Fehler, denn ich hätte es niemals allein tun dürfen. Ich hätte mit dir sprechen müssen. Ich habe es getan, weil ich dir... uns diesen Wunsch erfüllen wollte, ganz gleich, wie hoch der Preis sein mochte. Doch ich habe die Gefahren, die Konsequenzen, ausgeblendet. Ich habe das Schicksal herausgefordert und ich habe es in eine Richtung gelenkt, die vielleicht nie hätte sein dürfen. Aber ich bereue es nicht. Bis heute nicht.

Ich bin Cureda Ac-Zyr. Doch ich bin etwas, was du nicht wissen konntest. Ich bin die Erbin des Himmels. Ich bin die Trägerin des heiligen Blutes. Der letzten Linie neben der deinen. Das ist es, was ich nie gewagt habe, dir zu sagen."

Sie hörte wie Saton entsetzt um Atem rang, doch noch immer hielt sie ihren Blick fest ins Leere gerichtet.

"Ich bin wie du und doch völlig anders. Und das Kind, das ich unter meinem Herzen trage, wird sein wie wir und doch viel mehr. Es wird die beiden Linien vereinen, die nie vereint werden durften. Es wird das Erbe der Nacht und das Erbe des Himmels in sich tragen. Es wird dem Großen näher sein als je ein Mensch zuvor und es wird mehr wert sein als unser ganzes Volk."

Sie wartete einen Moment, als wolle sie Saton die Gelegenheit geben zu sprechen. Doch noch ehe er ansetzen konnte, rang sie sich dazu durch, ihm auch die letzte, die entscheidende Wahrheit zu enthüllen.

"Es gab nur einen, der mir antworten konnte. Nur einen, dessen Wort ich als Gesetz anerkennen konnte. Ich ging nach Yto Te Vel und rief den Einen an, dessen Antwort entscheidend war. Und ich fragte ihn, was geschehen würde."

Sie schluckte.

"Er sagte, was ich wusste. Dass dieses Erbe nicht vereint sein dürfe. Dass es mächtig und besonders sein würde. Und dass er dafür strafen müsse, denn ein solcher Frevel könne nicht ungesühnt bleiben. 'Wenn du die Schuld auf dich nimmst für das Leben, das du entstehen lassen willst, dann musst du sie begleichen.' Und ich ... war bereit dazu. Und deshalb... deshalb konnte ich nicht warten, Saton. Ash-Zaharr wird den Preis verlangen. Ich habe ein Leben geschaffen, das nicht sein sollte... und ... er... wird dafür eines nehmen. Wenn unsere Tochter geboren wird.... dann ist das mein Tod."

Winterrosen blühen nur im Nordwald. Sie sind selten - so selten, dass sogar die Menschen, die dort wohnen, innehalten und ihre Schönheit bewundern, wenn sie sie entdecken. In manchen Dörfern weiter südlich sagt man, sie würden nur an einem einzigen Tag des Jahres ihre Farben zeigen und dann verdorren, doch die Batí von Yto Te Vel wussten es besser. In den Wochen, in denen der Winter wich und der Frühling kam, konnte man sie finden - nachtblau und silbern, wie das Banner des Sichellandes und umgeben von einem Licht, das dem des Mondes ähnelte. Doch wenn der letzte Tag des Winters gekommen war, dann starben sie.

Saton stand vor einer der letzten Winterrosen dieses Jahres. Er hätte sie fast übersehen als er ziellos durch den Wald gegangen war. Sie war nicht groß, die Blüte hätte er in seiner Hand umschließen können. Aber er tat es nicht.

Es war der elfte Tag des Rin.

Einige silberdurchwirkte Blütenblätter waren schon zu Boden gefallen. Ein oder zwei Tage noch. Dann siegte der Frühling. Dann starb die Rose.

Dann starb Cureda.

Die letzten beiden Tage hatte er wie im Traum durchlebt.

Er war ein Batí und zum ersten Mal seit langer Zeit wusste er wieder, was dies bedeutete. Hunderte, tausende, zehntausende Cycala hätten an seiner Stelle den Schmerz und den Zorn aus sich herausgeschrien. Sie hätten geweint und den Gott verflucht, der ihnen ein solches Leid brachte. Ihr Wehklagen hätte die Straßen erfüllt und ihre Wut hätte sich gegen alles und jeden gerichtet, am meisten wohl gegen sich selbst.

Doch er war ein Batí.

Nicht fähig, seiner Trauer und seinem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Beides brannte in ihm, versengte seine Seele und loderte unerträglich wie die Flammen eines Feindes, doch er konnte nicht dagegen kämpfen. Er konnte sie nur verdrängen. Kurz. Für einige wertvolle Momente, in denen er frei war. Dann kehrten sie zurück.

Der Shaj versuchte nicht, sich die Worte der Sterbenden ins Gedächtnis zu rufen. Wie sie ihn angefleht hatte, dem Kind nicht die Schuld zu geben. Wie sie ihn beschworen hatte, Ash-Zaharr nicht zu verfluchen. Wie sie ihm nahegelegt hatte, sie zu verstoßen in den letzten Stunden ihres Lebens, aber doch die Tochter willkommen zu heißen, die an ihrer Statt in das seinige treten würde.

'Du musstest mich nicht um solche Dinge bitten.' dachte er und war erstaunt, wie leicht ihm der Gedanke fiel. Es stimmte. Er würde dem Kind niemals die Schuld geben. Er würde es annehmen, es beschützen mit seinem Leben und es war ihm nicht nur genauso viel, sondern weit aus mehr wert als sein eigenes. Und er würde auch nicht den Gott verfluchen, denn nicht er war schuld an dem Leid, denn es waren die Menschen, die gegen seine Gesetze verstoßen hatten.

Verstoßen.

'Nein, Cureda.' dachte er weiter. 'Wie könnte ich das tun? Von allen Sichelländern hast du am meisten Mut bewiesen. Wer bin ich, dass ich dir jemals einen Vorwurf machen könnte?'

Und auch das war die Wahrheit. Und zugleich das einzige, was er für seine Gemahlin tun konnte. Ihr schwören, dass er ihr nicht verzeihen musste. Weil es nichts zu verzeihen gab. Er hätte an ihrer Stelle vermutlich genauso gehandelt. Wenn er den Mut dazu gehabt hätte. Nicht den Mut zu sterben, aber den zu schweigen. Den Mut, eine solche Last zu tragen und zu verbergen und zu alledem noch etwas so Unglaubliches auf sich zu nehmen.

Die Vereinigung der letzten Linien.

Und doch war das einzige, was er in diesem Moment empfand, viel menschlicher, viel einfacher und weniger erhaben.

Cureda würde sterben. Er würde sie verlieren. Für alle Zeit.

Er stellte sich immer wieder die gleiche Frage. 'Was hätte ich getan, wenn sie mich vorher gefragt hätte? Hätte ich ihren Tod in Kauf genommen - für dieses Kind?' Aber es war nicht seine Entscheidung gewesen und dass Cureda sie ihm abgenommen hatte, war wohl ihre größte Tat gewesen.

Der Lohn war der Tod.

Heute. Oder morgen.

In der vergangenen Nacht hatten die Wehen eingesetzt. Kein Heiler, kein Diener hätte dies bestätigen können, denn schon seit jenen Stunden, die auf Curedas Geständnis gefolgt waren, wand sie sich unter unentwegten Schmerzen und dem schier unaufhaltsamen Drang, das neue Leben zur Welt zu bringen. Ein jeder war sich sicher, es könne sich nur noch um wenige Stunden handeln.

Und doch irrten sie.

Erst heute morgen, vor Erschöpfung schon der Bewusstlosigkeit nahe, hatte Cureda die erlösende Nachricht verbreiten lassen.

"Es beginnt."

Erlösend für das Sichelvolk.

Nicht für Saton. Mit niemandem hatte er bislang die bitteren Erkenntnisse geteilt. Immer wieder war er kurz davor gewesen, Mondor einzuweihen, doch stattdessen hielt er sich von dem Priester fern und zog sich immer mehr zurück. Jetzt schickte Cureda ihn nicht mehr fort, jetzt ließ sie ihn an ihrer Seite zu, aber sie bestand darauf, dass er immer wieder für kurze Zeit hinaus ging, um durchzuatmen, um Kraft zu tanken und sich auf das Kommende vorzubereiten. So wie jetzt.

"Geh nach draußen." hatte sie gesagt und er hatte sie kaum noch hören können. "Du brauchst eine ruhige Stunde... Sie kommt... aber nicht jetzt... ein wenig noch... bitte... geh hinaus... und komme wieder."

Es gab keine Bitte mehr, die er ihr abschlagen konnte. Und so war er gegangen. Nicht weit, er konnte das Haus noch sehen. Nur eine Reihe Kiefern trennte ihn von dem Anwesen.

Und hier blühte die Winterrose, die ebenso im Begriff war zu sterben wie diejenige, die nicht weit entfernt sein Kind zur Welt brachte.

"Hoher Shaj!"

Saton wirbelte herum. Ein Diener eilte auf ihn zu.

"Gibt es etwas...?"

"Nein, Herr, sie... es dauert noch immer an. Aber... der hohe Herr Wandan ist eingetroffen."

Saton nickte.

"Schick ihn in das Besprechungszimmer. Ich komme sofort."

Wandan. Der Mann, den er als einzigen einen "wahren Freund" nannte. Auch Wandan konnte nichts tun, aber er musste ihn hier haben. Nicht wegen des Versprechens, dass er dem Krieger abnehmen würde und nicht wegen des Schutzes, den er bieten konnte, sondern ganz einfach, weil er den Gedanken nicht ertrug, allein zu sein. Gerade in dem Moment, in dem sein Glück hätte vollkommen sein müssen, würde es ihn verlassen und obgleich er als Shaj der Nacht kein Gefühl besser kannte als das der Einsamkeit, wusste er, dass sie nicht sein durfte. Nicht jetzt.

In dem kleinen Zimmer gab es nur zwei Lehnstühle, einen Kamin und einen niedrigen Tisch, auf dem eine Karaffe mit Wasser stand. Keine Teppiche, keine Bücher, keine Kerzenhalter. Der Shaj kam nur hierher, wenn er über besonders ernste Dinge sprechen oder nachdenken wollte und keinerlei Ablenkung duldete. Wandan wusste nicht, wann Saton zuletzt jemanden hier empfangen hatte. Es musste Jahre her sein.

Und nun saß er dort und doch war er es nicht. Es war nicht der Saton, den Wandan kannte. Jegliche Fröhlichkeit, jede Zuversicht und alles Beruhigende, das den Shaj der Nacht sonst ausgemacht hatte, war verschwunden. Stattdessen blickte ein Mann ins Feuer, der aussah, als hätte er nie auch nur im Entferntesten von Dingen wie Glück oder Freude gehört.

Wortlos setzte sich Wandan auf den freien Stuhl und wartete.

Den ganzen Weg über hatte er sich ausgemalt, was ihn wohl erwartete, doch nichts in Yto Te Vel oder auch in diesem Hause deutete darauf hin, dass etwas nicht in Ordnung war. Jeder, der das große Glück hatte, in diesen Tagen hier zu verweilen, genoss dies offenbar in vollen Zügen.

"Was ich dir jetzt sage, weiß noch niemand sonst."

Wandan durchfuhr es eiskalt. Satons Stimme klang hohl und fremd und hatte alle Wärme verloren.

Der Shaj sah ihn nicht an.

"Eines Tages wirst du vielleicht sagen: Ja, ich wusste davon. Und vielleicht wirst du der Meinung sein, es sei an der Zeit, das Wissen mit jemandem zu teilen. Es wird ein Tag sein, an dem du mich nicht mehr um Rat fragen kannst, sondern selbst entscheiden musst. Schwöre mir, dass du nie mit jemandem darüber sprichst, solange du nicht weißt, was es bedeutet. Schwöre es, Wandan."

Und Wandan schwor, ohne so recht zu wissen, was er da sagte.

Doch Saton erklärte sich nicht weiter. Dann stand er auf, stellte sich vor seinen Cas und sagte:

"Cureda wird nicht nach Semon-Sey zurückkehren. Sie wird sterben. Sie wird unser Kind zur Welt bringen und es wird ihr Tod sein. Sie wusste es die ganze Zeit, doch erst jetzt konnte sie es mir sagen. Sie gibt ihr Leben für das Kind, das ich mir so sehr gewünscht habe."

Wandan wusste nicht, wie ihm geschah. Tausende Fragen formten sich in seinem Kopf und zerfielen wieder.

"Saton..."

"Nein, Wandan. Ich kann dir nicht mehr sagen. Ich werde das verlieren, was mir in meinem Leben das Wichtigste war. Und ich werde etwas erhalten, was an seine Stelle tritt. Niemand hat schuld. Weder sie noch ich und am allerwenigsten meine Tochter. Ja, es wird ein Mädchen sein, Wandan. Die Heiler sind sich sicher. Sie wird etwas Besonderes sein. Doch sie kann nur leben, weil ihre Mutter für sie stirbt. Das macht sie wertvoller als du jetzt ahnst. Du bist der oberste Cas und deine höchste Pflicht ist es, mein Leben zu beschützen. Dennoch muss ich von dir verlangen, dass du eine weitere auf dich lädst. Deine Treue gilt mir nur dann, wenn sie auch meinem Kind gilt."

"Du hast mein Wort."

Saton nickte, doch er bedankte sich nicht.

Die Stunden verstrichen und wollten doch kein Ende nehmen. Der Heiler stand rat- und hilflos in einer Ecke des Schlafzimmers und betete im Stillen, die Nacht möge bald vorüber sein, doch was, so fragte er sich, würde geschehen, wenn das Kind dann immer noch nicht da war? Die junge Frau, die es gebar, würde diese Strapazen nicht mehr lange überstehen.

An ihrer Seite saß der Shaj der Nacht. Ihm war keine freudige Erwartung mehr anzusehen, keine Nervosität, keine Hoffnung. Nur eine unerklärliche Bitterkeit und eine angsteinflößende Ruhe. Immer wieder nahm er seine Gemahlin in die Arme, wenn die Wehen ihr diesen kurzen, erholsamen Moment gönnten, doch gleich darauf bäumte sie sich schon wieder auf und versuchte, mit der letzten ihr verbliebenen Kraft das Kind auf den Weg zu schicken.

Mitternacht war längst vorüber.

Der zwölfte Tag des Rin war angebrochen.

Wandan ging auf dem Flur vor dem Schlafzimmer auf und ab. Er war der einzige, der dem Geschehen so nah kommen durfte und gleichzeitig wünschte er sich, weit davon entfernt zu sein. Er hörte Curedas Schreie, die sie nicht mehr länger unterdrücken konnte. Und er hörte Satons Gemurmel, das seine sonst beruhigende Wirkung längst verloren hatte und er hörte das Winseln des Heilers, der die Szenerie nicht mehr länger mit ansehen wollte.

Und er dachte an die, die im weiter entfernten Kaminzimmer warteten. An die Diener, die unablässig für das Leben der Mutter und des Kindes beteten und nicht ahnten, dass zumindest ein Teil dieser Gebete nicht erhört werden würde. An Mondor, der längst erkannt hatte, dass etwas Finsteres über ihnen lag und der, obgleich Wandan ihm kein Wort von Satons Offenbarung verraten hatte, schon am Blick des Kriegers gesehen hatte, dass dieser eine entsetzliche Wahrheit kannte.

Bald würde die Sonne aufgehen. Der zwölfte Tag des Rin. Manche vermeintlichen Seher hatten für heute den letzten Wintertag vorhergesagt. Der Tag an dem die Rosen des Nordens starben.

Der oberste Cas horchte auf. Ihm war, als hätte Saton eine barsche Anweisung gerufen, vermutlich an den nutzlosen Heiler. Dann hastige Schritte. Eine schwache Stimme... Cureda?

Plötzlich war alles still.

Entsetzlich still.

Unsicher legte Wandan die Hand auf die Türklinke.

Und dann kam der Schrei.

Aber es war nicht der Schmerzensschrei der Mutter und auch kein wütender oder entsetzter Ausruf des Shajs. Für Wandan war es vielleicht der schönste, den er je gehört hatte.

Es war der Schrei eines Kindes.

Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag und er zog seine Hand ruckartig zurück. Gleich darauf stürmte der Heiler aus dem Schlafzimmer.

"Ein gesundes Mädchen!" rief er und schüttelte Wandan die Hand, so dass der Krieger ihn verwirrt ansah. Hatte dieser Mann denn immer noch nicht erkannt, was geschehen würde? Aber noch ehe er etwas erwidern konnte, hastete der Heiler schon die Treppen hinab zum Kaminzimmer und ließ die Zimmertür weit offen stehen.

Wandan wusste, dass er diesen Anblick sein Leben nicht vergessen würde.

Curedas Gesicht schien im Licht der Kerze zu glühen. Sie wurde halb von Saton verdeckt, der sich jetzt über sie beugte und sie küsste. Doch er war vorsichtig. Sehr vorsichtig. Da war noch etwas. Zwischen ihnen.

Cureda hielt es im Arm.

Es lag vollkommen still, schrie nicht, weinte nicht. Aber es lebte.

Plötzlich sah Saton über die Schulter zur Tür.

Wandan wünschte sich in diesem Moment an jeden anderen Ort der Welt. Wie tief musste die Trauer in einem Menschen toben, dass sogar ein Mann wie Saton, ein Mensch, der vom reinen Blut Zaharrs durchdrungen war... dass sogar dieser Mensch weinte?

Es war Zeit zu gehen.

Mit einer ergebenen Verbeugung, die viel tiefer war als sonst und die nicht nur dem Shaj sondern auch der Mutter und auch dem Kind galt, zog sich Wandan zurück. Gerade als er die Tür schloss, hörte er Satons erstickte Stimme:

"Du musst ihr noch ... einen Namen geben."

Der Krieger ließ niemanden mehr in den Gang. Nicht die Diener. Nicht den Heiler. Mondor... da wäre vielleicht etwas anderes gewesen. Doch Mondor kam nicht.

Die ersten Sonnenstrahlen des letzten Wintertages fielen durch das kleine Fenster am Flurende.

Er ging darauf zu und sah hinaus. Es war ein schönes Bild. Rauhreif lag über Yto Te Vel und ließ es funkeln wie ein Juwel und zwischen den dunklen Ästen der Nadelbäume hielten Silberraben Wache. Wer ihnen zusah, vergaß die Zeit. Warum nur die Zeit? Warum nicht auch alles andere?

Hinter ihm öffnete sich eine Tür, doch er drehte sich nicht um. Schritte näherten sich. Jemand stand hinter ihm und die Kälte, die er mitbrachte, war ebenso endgültig wie seine Worte.

"Sie kann diese Sonne nicht mehr sehen."

Endlich schaffte es Wandan, die Hände vom Fenstersturz zu lösen und dem Bild Yto Te Vels den Rücken zuzuwenden.

Er hätte Saton beinahe nicht erkannt. Das Funkeln in den schwarzen Augen des Shajs war erloschen, so als sei ein Teil von ihm für immer gegangen.

Wandan wollte etwas sagen, doch aus seinem geöffneten Mund kam kein Laut. Stattdessen wanderte sein Blick hinab auf das in weiche Tücher eingeschlagene Bündel, das Saton in den Armen hielt.

Das Mädchen schlief. So seelenruhig, dass niemand hätte erahnen können, wie wenig friedlich sie in den letzten Wochen gewesen war. Er konnte zwischen den Tüchern nicht viel erkennen, aber er vermutete, dass es ein sehr hübsches Kind war.

"Ich wäre jetzt gern allein." sagte Saton, mit einer Stimme, die nicht seine eigene war. "Allein mit... ihr." Er nickte seiner Tochter zu.

"Natürlich."

"Könntest du... ich meine... ich glaube, dass Mondor..." Der Shaj suchte selten nach den richtigen Worten, doch diesmal fand er sie nicht.

"Ich werde dafür sorgen, dass Mondor sich ihrer annimmt." half Wandan ihm und obwohl er Curedas Namen nicht mehr auszusprechen vermochte, gab es keinen Zweifel, wen er meinte.

"Danke."

Ohne noch einmal aufzusehen, machte Saton kehrt und ging auf die andere Seite des Ganges zu, wo sich sein eigenes Schlafzimmer befand.

Wandan kämpfte mit sich.

"Saton?"

Der Shaj blieb stehen.

"Wie... wie ist ihr Name?"

Die Antwort war eisig.

"Len-Y-Ca. Das Ende bringend. Das scheint ihr Schicksal zu sein."

Das Blut des Sichellands

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