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7. Tag des Wentril im 14. Jahr Satons

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Die Terrasse auf dem Dach des Cas-Flügels wurde nur selten für Zusammenkünfte genutzt. Die neun erwählten Krieger des Shajs der Nacht feierten hier dann und wann ihre derben Feste, aber noch bevor es etwas zu sehen gegeben hätte, was genügend Gesprächsstoff für die Burgdiener gab, zogen es die obersten Kämpfer vor, die Feiern in ihren Kellern fortzuführen.

Doch der Herrscher selbst mochte diesen Ort. Er konnte von hier aus weite Teile der Burg überblicken, ungestört seinen Gedanken nachhängen und sich so etwas Abstand vom Tagesgeschehen gönnen, ohne dass er von jedem, der des Weges kam, mit Fragen, Bitten oder belanglosen Mitteilungen belästigt wurde. Nur wenn die Sonne schien, mied er diesen Rückzugsort, denn wie alle Batí setzte er sich dem Licht und der Wärme nicht allzu gern aus.

Saton war froh, dass das Wetter ihm ausgerechnet an diesem Tag entgegenkam. Blauschwarze Wolken verdunkelten den Himmel und ein kühler Wind strich durch den Festungshof, auf den er herabsah. Nicht mehr lange, und es würde regnen, doch dann war er vermutlich schon wieder in Besprechungen vertieft, die heute noch im Ratssaal angesetzt waren. Er beugte sich ein wenig über die Zinnen, lächelte angesichts dessen, was er dort unten beobachten konnte, machte dann kehrt und setzte sich wieder auf einen der groben Holzstühle, die die Diener samt eines niedrigen Tisches vor einiger Zeit aufgebaut hatten.

„Und?“ fragte Wandan und wischte sich einen Sijaktropfen aus dem Mundwinkel. „Wie schlagen sie sich?“

„Gut.“ erwiderte Saton zufrieden. „Ich glaube kaum, dass ich mir bessere Krieger wünschen könnte. Sie trainieren in jeder freien Minute. Ich schulde dir meinen Dank.“

Ungerührt füllte der oberste Cas seinen Kelch erneut.

„Das liegt nicht an mir. Die Säbelmeister in den Kasernen haben den Kampfwillen in ihnen geweckt und geschürt. Ich sorge nur dafür, dass er nicht einschläft.“

„Du solltest dich nicht selbst schlechtreden. Wenn ich sehe, wie gut sich Cala entwickelt hat... Er war schon immer ein hervorragender Sichelkämpfer, aber in den letzten Jahren hat er allen anderen den Rang abgelaufen. Von dir und vielleicht noch Beleb einmal abgesehen. Und ich weiß, wer ihm all diese Kniffe beigebracht hat.“

„Cala ist begabt. Da blieb für mich nicht viel zu tun.“

„Das seid ihr alle. Begabt. Sonst wärt ihr nicht in die obersten Ränge aufgestiegen. Und du gehörst zu den wenigen, die echtes Talent erkennen. Früh erkennen. Erinnere dich an Celdros.“

„Celdros...“ Wandan brummte unzufrieden. „Niemand schwingt den Säbel wie er. Darauf bestehe ich.“

„Oh ja, daran habe ich auch keinen Zweifel. Doch du hast auch seine Schwäche erkannt. Die Sichel liegt ihm nicht. Es wäre ein Fehler gewesen, ihn von seinem Posten zu nehmen.“

„Trotzdem sehen es manche als Strafe, dass er nicht in den Kreis der Neun aufsteigen durfte.“

„Manche vielleicht. Er selbst aber nicht. Er hat sich bei mir für deine Einschätzung bedankt. Celdros ist zufrieden, da wo er jetzt ist. Und er hat so mehr Zeit für seinen Sohn.“

„Den wir im Auge behalten sollten. Geschickter Junge.“

Saton runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich werde es mir merken. Wie war doch gleich sein Name?“

„Rahor. Rahor Req-Nuur.“

„Und wie alt ist er?“

„Acht oder neun Jahre. Ich müsste nachfragen. Er soll nächstes Jahr die ersten Probestunden erhalten.“

„Ich werde ihn mir ansehen.“ nickte Saton.

„Celdros' Frau ist schwer krank. Sie kann sich kaum noch um die Kinder kümmern.“

„Ich habe davon gehört. Halte mich auf dem Laufenden. Die Req-Nuurs können sich stets meiner Aufmerksamkeit sicher sein.“

Sie sprachen noch eine Weile über den einen oder anderen Kämpfer, als plötzlich aufgeregte Stimmen vom Hof heraufschallten. Neugierig stand Saton wieder auf und sah hinunter.

„Die Anweisungen deines Vaters waren eindeutig!“ rief gerade jetzt eine Frau. „Außerdem ist es schon viel zu spät, du wirst Ärger bekommen, wenn du nicht pünktlich zu Tisch bist!“

Ein andere, viel hellere Stimme, deren Urheber von Satons Blickwinkel aus nicht zu sehen war, erwiderte etwas, das er nicht verstehen konnte, aber das musste er auch nicht. Er hatte eine ziemlich deutliche Vorstellung vom Inhalt dieser Entgegnung.

Mit einem leisen Seufzen kehrte er zu Wandan zurück.

„Lenyca?“ fragte der Cas.

Saton nickte, halb resigniert, halb belustigt. „Aber lass sie das nicht hören. Sie mag ihren Namen nicht besonders.“

„Ja, ich weiß. Die anderen rufen sie 'Lennys'. 'Ohne Licht'. Hat sie sich das ausgesucht?“

Der Shaj zuckte die Achseln. „Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, wo sie das her hat. Aber es ist auch nicht so wichtig. Vielleicht ist es sogar besser so. Sie ist noch zu jung für die große Bedeutung ihres Namens.“

„Das ist sie allerdings. Und doch wirkt sie reifer als andere Kinder in ihrem Alter. Und ich glaube, auch du vergisst manchmal, wie alt sie ist.“

„Wie könnte ich das vergessen? Wie könnte ich vergessen, dass Cureda vor sechseinhalb Jahren starb?“

„Verzeih, so war das nicht gemeint. Saton, sie ist ein Kind. Sie sollte draußen in den Gärten spielen und nicht...“

Unten im Hof klirrte etwas, gerade so, als ob ein Tonkrug zerbrochen worden wäre.

Wandan grinste. „Weiß Alasna, dass du hier oben bist?“

Laute Schritte auf der Treppe kamen Saton in seiner Antwort zuvor.

„Sie weiß es...“ seufzte er leise und schon stürmte eine junge Frau aus der Turmpforte, die auf die Terrasse führte.

„Hoher Shaj...“ stieß sie atemlos hervor. „Hoher Shaj, verzeiht, dass ich eure Ruhezeit störe, aber... eure Tochter...“

Erneut klirrten Tonscherben, diesmal aus dem Treppenhaus des Turms.

„Meine Tochter ist gerade ohne Aufsicht, wie mir scheint...“ fiel der Shaj Alasna ruhig ins Wort.

„Hoher Shaj, vergebt mir, wenn ich so offen spreche, aber das spielt wohl kaum eine Rolle. Auch meine Anwesenheit beeindruckt sie nicht und sie...“

„Sollte sie nicht um diese Zeit beim Abendessen sein?“

Die Wangen der jungen Frau färbten sich dunkelrot.

„Ja, Herr, das sollte sie, aber....“

„Und sollte sie nicht davor eine Reitstunde erhalten?“

„Ja, Herr, aber...“

„Also sage mir, Alasna, wie kommt es, dass du dich mit meiner Tochter in diesem Teil der Burg aufhältst, der sowohl vom Speisezimmer als auch von den Ställen recht weit entfernt ist und noch nicht einmal in der Nähe des Weges liegt, den ihr dazwischen überbrücken müsstet?“

Der Shaj sprach freundlich, aber mit Nachdruck und er konnte der Dienerin ansehen, dass sie sich eine patzige Antwort nur mit Mühe verbiss. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihm in dieser Hinsicht Widerworte gab, doch bislang hatte er sie immer in ihre Schranken weisen können.

„Also? Ich höre...“

„Es ist.... also... eure Tochter... Lenyca...“

„Lennys.“ berichtigte Wandan wie von selbst und Alasna sah ihn erstaunt an.

„Nun ja... also... Lennys... sie... sie hört nicht auf mich!“ Und dann sprudelten die Worte wie ein Sturzbach aus ihr hervor. „Sie will auf einem Mondpferd reiten und auf nichts anderem! Und wenn ich ihr sage, dass das nicht geht, dann tobt sie und weigert sich, auf ein anderes Tier zu steigen! Ich wollte sie zum Speiseraum bringen, aber sie läuft einfach weg und sieht den Cas beim Kämpfen zu! Ich weise sie zurecht, aber sie beachtet mich gar nicht! Und wenn ich sie an die Hand nehme, um sie mit mir mit zu ziehen, fängt sie an, um sich zu schlagen und...“

Wandan konnte sich nicht mehr beherrschen und verfiel in brüllendes Gelächter. Auch Saton glitt ein Schmunzeln über die Lippen, aber dann besann er sich und warf seinem Freund einen warnenden Blick zu.

„Ich verstehe.“ sagte er schlicht. „Du wirst mit ihr nicht fertig.“

„Hoher Shaj... es ist nicht so, dass ich mich nicht bemühe. Ich versuche, Geduld zu haben, ich versuche, sie zum Spielen zu überreden, ich...“

„Es ist gut, Alasna. Wie gesagt, ich habe dich verstanden. Du kannst jetzt gehen. Wir reden morgen darüber.“

Entgeistert starrte sie den Herrscher an.

„Aber...“

„Nichts aber. Morgen. Du musst dich heute nicht weiter um meine Tochter kümmern. Bleibe in der Burg, ich werde dich zu mir rufen lassen, sobald es meine Zeit erlaubt. Das wäre alles. Und wenn du hinunter gehst, schicke mir Lenyca nach oben.“

Nun wagte Alasna kein „Aber...“ mehr, zwang sich zu einer tiefen Verbeugung und verschwand wieder in den Turm.

„Sie hat es wirklich nicht leicht.“ versuchte Wandan, die Dienerin in Schutz zu nehmen.

Saton antwortete nicht darauf. Nur wenige Augenblicke später öffnete sich die Pforte erneut und ein schwarzhaariges Mädchen erschien auf der Terrasse. Ihre Augen funkelten und sie wirkte nicht im Mindesten eingeschüchtert. Schnurstracks marschierte sie auf ihren Vater zu, stemmte die Arme in die Hüften und sah den Shaj der Nacht verärgert an.

„Sie hat mich 'ungezogen' genannt!“ beschwerte sie sich.

Saton setzte sich wieder und betrachtete sie nachdenklich.

„Bist du denn ungezogen gewesen?“

„Sie darf mich nicht so nennen!“

„Warum hat sie es getan?“

„Ich habe nicht getan, was sie wollte!“ erwiderte Lenyca, ohne zu zögern.

„Und was wollte sie?“

„Sie wollte, dass ich auf diesem alten braunen Pferd sitze!“

„Ich dachte, du reitest gerne?“

„Ich will ein Mondpferd!“

„Nicht jeder darf ein Mondpferd reiten, Lenyca. Sie sind den höchsten Kriegern vorbehalten.“ erklärte Saton geduldig.

„Ich bin deine Tochter! Ich will ein Mondpferd!“

„Mondpferde sind stark und sehr schnell. Du musst mehr üben, wenn du ein so schwieriges Tier beherrschen willst.“

„Ich will es aber! Ich kann das! Alle sagen es! Ich muss nicht mehr üben! Ich reite auf einem Mondpferd oder gar nicht mehr!“

Fast erwartete Saton, das Mädchen würde wütend mit den Füßen aufstampfen, aber sie rührte sich nicht von der Stelle, und verlieh ihrer Forderung allein durch ihren zornigen Blick noch mehr Ausdruck.

„So so. Und wenn ich dir sage, dass du dafür noch zu jung bist?“

„Ich will es aber! Ich bin nicht zu jung!“

„Du bist sechs Jahre alt. Der jüngste Reiter eines Mondpferdes ist fast dreimal so alt wie du.“

„Dann ist er eben dreimal so schlecht!“

„Er ist einer der besten Reiter in diesem Lande.“

„Aber ich bin eine Ac-Sarr!“

Wandan konnte nicht anders als Lennys mit offenem Mund anzustarren. Er kannte sie seit ihrer Geburt, aber seit einiger Zeit überraschte sie ihn immer wieder aufs Neue.

„Ja, das bist du.“ sagte Saton ungerührt. Er sah kurz zu Wandan hinüber, als er erwarte er einen Rat, doch der Cas verfolgte die Szene weiterhin sprachlos.

„Lenyca, ich kann dir kein eigenes Mondpferd geben. Aber wenn es dir so wichtig ist, dann werde ich dir erlauben, meine eigene Stute zu reiten. Allerdings nur, wenn ich dabei bin. Du wirst also warten müssen, bis ich genug Zeit habe.“

Das Mädchen schnaubte abfällig.

„Dann warte ich eben. Ich will kein anderes Pferd!“

„Gut, dann wäre das also geklärt. Und jetzt wirst du mir verraten, warum du nicht mit Alasna zum Speisesaal gehen wolltest.“

Die Antwort kam prompt.

„Sie hat mir gar nichts zu sagen! Sie ist nur eine Dienerin!“

„Das war keine Anweisung von ihr.“ berichtigte Saton ruhig. „Es ist keine drei Tage her, dass ich dir gesagt habe, dass ich wünsche, dass du pünktlich zu deinen Stunden und zu den Mahlzeiten erscheinst.“

„Ich will aber nicht zu diesem blöden Abendessen! Ich hab keinen Hunger! Der Stallmeister hat mir etwas zu essen gegeben!“

„Manchmal muss man sich an Regeln halten, auch wenn man das nicht so schön findet.“

„Warum denn? Du hast doch selber gesagt, dass du diese Sachen nicht magst! Diese Regeln! Und dass mich keiner hier zu etwas zwingen kann! Und ich will nicht, dass Alasna mir sagt, was ich tun soll! Wenn ich nicht will, dann gehe ich auch nicht!“

„Ich habe dir aber auch gesagt, dass du mich verärgerst, wenn du dich Alasna ständig widersetzt. Und auch, dass ich von dir erwarte, dass du dich an unsere Abmachungen hältst. Die Mahlzeiten und Unterrichtsstunden gehören zu diesen Abmachungen. Und Alasna hat von mir die Anweisung erhalten, dafür zu sorgen, dass du pünktlich bist.“

„Sie ist eine blöde Ziege!“ entgegnete Lennys und fügte dann noch trotzig hinzu: „Sie hat mir nichts zu befehlen!“

Der Drang, über den Auftritt seiner Tochter zu lachen, schwand allmählich aus Satons Gemüt. Er dachte kurz nach, doch bevor Lennys ihrem Unmut weiter Luft machen konnte, traf er eine Entscheidung.

„Ich werde jetzt einen Diener rufen, der dich in dein Zimmer bringt. Und du wirst mit ihm gehen, ohne Widerrede. Du hast schon gegessen, also spricht nichts dagegen, dass du dich gleich schlafen legst. Ich erwarte dich morgen zum Frühstück. Pünktlich. Haben wir uns verstanden?“

Lennys zuckte die Achseln.

„Meinetwegen.“

„Wandan, würdest du sie bitte hinunter zu Jakven bringen? Er soll sich bis morgen früh um sie kümmern.“

Sofort stand der Cas auf.

„Natürlich.“

Er wollte Lennys an die Hand nehmen, doch das Mädchen stolzierte bereits recht selbstbewusst auf die Turmpforte zu.

Die Ratssitzung dauerte länger als erwartet und obwohl sie zermürbend gewesen war, fühlte sich Saton zufrieden. Die Berichte der Handwerker und Priester waren vielversprechend und er hatte das Gefühl, in einigen wichtigen Fragen gute Fortschritte erzielt zu haben. Trotzdem wollte ein schaler Beigeschmack nicht weichen und erst als er Wandan an der Treppe zu seinen Privatgemächern warten sah, keimte eine stille Ahnung über den Ursprung dieses Gefühls in ihm auf.

„In der Burg ist es ruhig?“ fragte der Shaj wie beiläufig.

„Alles in bester Ordnung.“ bestätigte der Cas. Hinter ihm wachten Cala und Faragyl an den Treppenaufgängen. Wandan war also nicht hier, weil sein Dienst es verlangte.

„Du bist sicher müde.“ fuhr der Krieger fort. „Aber wenn du es erlaubst, würde ich gerne kurz sprechen.“

Saton nickte ergeben. Er hatte schon länger damit gerechnet, dass sein Freund sich auch als ein solcher erweisen würde und mit seiner ehrlichen Meinung nicht allzu lange hinter dem Berg hielt. Kurz war er versucht gewesen, die Unterredung auf den nächsten Tag zu verschieben, aber dann hatte er sich eines Besseren besonnen. Er hatte schon zu viele Dinge zu lange aufgeschoben.

In seinem Arbeitszimmer war Saton stets ungestört. Nur sein Hauptkämmerer, der oberste Cas und seine eigene Tochter hatten zu den Räumlichkeiten dieses Flügels Zugang und da der Kämmerer und Lennys längst schliefen, konnte er sich sicher sein, dass er und Wandan von niemandem unterbrochen oder gar belauscht wurden.

Obwohl er ziemlich genau zu wissen glaubte, was der Anlass des Gespräches war, tat der Shaj zunächst ahnungslos.

„Also, worum geht es?“

Wandan fackelte nicht lange.

„Lennys.“

„Ahh...“ Saton gab auf. „Ich dachte mir so etwas. Nun gut. Was möchtest du mir sagen?“

„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht so recht, wo ich anfangen soll.“

„Wie wäre es mit 'Ich will ein Mondpferd'?“ schlug Saton vor.

„Ich könnte auch einen Schritt weitergehen.“ Wandan stand auf, stemmte die Hände genauso in die Hüften, wie er es einige Stunden zuvor bei dem kleinen Mädchen gesehen hatte und ahmte ihren recht überzeugten Tonfall sehr treffend nach: „'Ich bin eine Ac-Sarr'!“

„Sie ist eine.“

„Und sie weiß es.“ gab der Cas zurück. „Das ist das eigentliche Problem.“

„Willst du mir vorwerfen, dass meine eigene Tochter ihre Abstammung kennt?“

„Ich will dir überhaupt nichts vorwerfen. Und das würde ich auch nie. Du bist mein Herr, auch wenn ich noch so offen zu dir sprechen darf. Aber ich fürchte, das, was ich sagen möchte, wirst du nicht hören wollen.“

„Du denkst, ich verziehe sie.“

„Nein. Das würde ich so nicht sagen. Du bemühst dich sehr um sie. Aber sie bekommt zu oft ihren Willen. So wie die Sache mit dem Mondpferd. Sie will etwas. Und sie bekommt es. Entweder sofort oder spätestens nach einem Wutanfall. Sie ist gerade erst sechs Jahre alt, aber sie hat schon eines gelernt: Dass es für sie keine Grenzen gibt.“

„Was die Sache mit dem Pferd angeht, gebe ich dir zum Teil recht. Aber eben nur zum Teil. Auch wenn sie erst sechs ist, bedeutet das nicht automatisch, dass sie im Unrecht ist. Sie ist eine Ac-Sarr. Und sie hat das Recht auf ein Mondpferd. Mehr als jeder andere in diesem Land.“

„Saton, sie ist ein Kind! Der einzige Mensch, dem sie sich vielleicht ein klein wenig fügt, bist du. Aber nur weil sie weiß, dass alle Sichelländer tun, was du willst. Sie sieht dich mehr als ihren Herrscher als ihren Vater. Und sie hat keinerlei Respekt. Weder vor den Cas, noch vor ihrem Kindermädchen, noch vor sonst irgendwem.“

„Und du denkst, dass ich das zu verantworten habe.“

„Mit Verlaub, mein Freund, aber du hast ihr stets vor Augen gehalten, wie sehr du sie vergötterst. Und dass alle anderen das auch tun sollten. Sie weiß, dass du ein Herrscher dieses Landes bist und sie weiß, dass sie deine Tochter ist. Für Lennys ist es selbstverständlich, dass sie sich niemandem beugen muss und dass der einzige Mensch, der ihr etwas zu sagen hat, ihrem Willen nachgibt.“

Ärgerlich verschränkte Saton die Arme.

„Du redest, als wäre sie eine Tyrannin.“

Wandan verdrehte die Augen.

„Um Himmels Willen, nein. Aber sie hat nicht nur einen sehr starken Charakter, sondern auch ein ausgesprochen ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Ich wiederhole mich nur ungern, aber sie ist ein Kind! Ein Kind, dass deine gesamte Dienerschaft und den ganzen Hausstand Vas-Zaracs fest im Griff hat. Und dich auch! Siehst du das denn nicht? Sie bekommt alles, was sie will. Von dir und von jedem anderen.“

„Also verziehe ich sie doch.“

„Wenn du so willst: Ja. Sie ist verzogen, verwöhnt und für ihr Alter viel zu sehr von sich eingenommen. Es tut mir leid, aber du wolltest meine ehrliche Meinung hören.“

Saton schwieg und sah Wandan durchdringend an. Der Cas kannte diesen Blick, es war genau jener, mit dem der Shaj stets zu erkennen versuchte, ob sein Gegenüber aus vollem Herzen die Wahrheit sagte. Eine Gabe und Angewohnheit, die mittlerweile sogar schon bei der kleinen Lennys zu beobachten war.

"Versuchst du mich zu provozieren?" fragte Saton irgendwann.

"Nein. Ich sage dir, was ich denke."

"Du sprichst, als wäre sie... Nein, ich verstehe dich nicht, Wandan. Du selbst bist von ihr hingerissen, denkst du, ich sehe das nicht? Auch du versuchst keineswegs, sie zu zügeln. Was ist also so falsch daran, wenn ich sie nicht durch ständige Grenzen einengen will? Sie soll glücklich sein! Das ist das Wichtigste!"

"Sie wird so nicht glücklich, Saton. Sie kann sich über nichts freuen. Nicht über Erfolge, nicht über Geschenke, nicht über Zugeständnisse. Weil es nichts Besonderes für sie ist, sondern alltäglich. Und ich habe nicht gesagt, dass sie nicht auch gute Seiten hätte. Lennys ist sehr intelligent, sie ist, da hat sie leider recht, jetzt schon eine ausgezeichnete Reiterin, und sie zeigt bereits in ihren jungen Jahren eine deutliche Verbindung zum Sichel- und Säbelkampf, auch wenn wir diese Waffen noch von ihr fern halten. Und solange sie ihren Willen bekommt, ist sie sogar recht umgänglich - meistens."

"Sie sieht aus wie ihre Mutter." bemerkte Saton und es klang wehmütig.

"In der Tat. Sie wird eine Schönheit werden. Aber Saton, wach endlich auf. Lennys ist nicht Cureda. Und sie wird es nie sein. Und wenn man sie weiter so gewähren lässt wie bisher, dann wird sie all den Respekt, die Ehrerbietung und das Ansehen, dass sie als deine Tochter erhält, schneller verlieren als dir lieb ist."

"Ich kann nicht immer um sie sein! So gern ich das täte. Ich muss sie an Diener und Kinderfrauen übergeben. Manchmal glaube ich, es wäre besser, wenn sie von Kriegern wie uns erzogen werden würde, aber ich will ihr nicht im Weg stehen. Vielleicht wird sie doch eine Priesterin, wie Cureda. Sie soll die Wahl haben."

"Sie hat die Wahl, Saton. Aber sei versichert, sie wird sich nicht dem Himmel zuwenden. Die Nacht ist viel zu stark in ihr."

"Würdest du es tun?" fragte der Shaj plötzlich.

"Was?"

"Ich kann, wie gesagt, nicht immer um sie sein. Aber auf dich hört sie beinahe ebenso wie auf mich. Und..."

Hastig wehrte Wandan ab. "Oh nein, mein Freund. Das ist doch nicht dein Ernst? Ich soll deine Tochter erziehen? Ich soll Lennys Benehmen beibringen?"

"Ich könnte dich von anderen Aufgaben freistellen..."

Der Cas grinste.

"So, könntest du das? Ich sage dir, was dein Problem ist. Nicht, dass du keine Zeit für sie hast. Kein Feind dieser Welt könnte dich davon abhalten, dich um dein Kind zu bemühen. Und um uns herum herrscht Frieden. Nein, Tatsache ist ja wohl, dass du gerade versuchst, die unangenehmen Dinge auf andere abzuwälzen. Du willst mit ihr Ausritte machen, ihr irgendwann selbst die Grundlagen des Säbelkampfs beibringen. Du willst ihr die Welt zeigen und ihre Fortschritte bewundern. Aber du bringst es nicht über dich, ihr auch die weniger schönen Seiten des Lebens zu zeigen. Tadel. Kritik. Grenzen. Und Strafen. Das möchtest du anderen überlassen und jetzt gerade versuchst du, mir das Ganze zuzuschieben, weil du siehst, dass deine Dienerschaft damit überfordert ist. Das, verehrter Saton, solltest du endlich einmal erkennen."

Am nächsten Morgen stand Saton unschlüssig vor der Schlafzimmertür seiner Tochter. Er hatte nach dem wenig erfreulichen Gespräch mit Wandan keinen Schlaf mehr gefunden und die Nachtstunden damit zugebracht, über die Worte seines Freundes nachzudenken. Und er war zu einer Entscheidung gekommen, die aufrechtzuerhalten ihm schon jetzt mehr als schwer fiel.

Es war noch früh. Jakven, der Diener, der Lennys wecken und zum Frühstück bringen sollte, würde frühestens in einer Stunde kommen, doch der Shaj wollte nicht länger warten. Sechs Jahre waren schon zu lang gewesen.

Er atmete tief durch und öffnete die Tür ohne zu klopfen. Und hielt erstaunt inne.

Davon überzeugt, sein Kind würde noch wohlig in die Laken gekuschelt träumen und ihm die unerwartete Störung übelnehmen, war er nun umso überraschter, als er Lennys bereits vollständig angezogen in der Mitte des Raumes stehen sah. Was ihn aber beinahe gänzlich aus der Fassung brachte, war der Gegenstand, den sie in der Hand hielt.

"Wo hast du den her?" fragte er, sogar noch eine Spur barscher als beabsichtigt.

Lennys, nicht minder erstaunt über das plötzliche Erscheinen ihres Vaters, betrachtete unwillkürlich den kleinen Shajkan, den sie gerade noch durch die Luft geschwungen hatte. Ihre Wangen nahmen einen Hauch von Rosa an.

"Das ist meiner!"

Noch ehe das Mädchen reagieren konnte, nahm Saton ihr die Waffe ab.

"Ich habe gefragt, wo du ihn her hast!" wiederholte er streng, doch Lennys stampfte trotzig auf.

"Und ich habe gesagt, es ist meiner! Du darfst ihn mir nicht wegnehmen! Er gehört mir!"

"Nein, das tut er nicht. Die heiligen Waffen dieses Landes gehören allein den Gebietern der Nacht und das bist du nicht. Also?"

Er sah an ihren Augen, dass sie unmittelbar davor war, sich in einem ihrer berühmten Wutanfällen zu ergehen und dieses eine Mal versuchte er nicht, ihn abzuwenden. Und tatsächlich brach der Zorn des Mädchens nun aus ihr heraus.

"Ich bin deine Tochter! Wenn du so etwas haben kannst, kann ich das auch! Gib ihn mir wieder!"

"Nein."

"Ich will ihn wiederhaben!" schrie Lennys jetzt. "Du hast selber einen! Alle hier haben einen! Ich will ihn sofort zurück!"

Saton fragte sich einen Moment lang, ob sie versuchen würde, sich den Säbel mit Gewalt zu holen. Das wagte das Kind aber dann doch nicht. Stattdessen starrte sie ihn wütend an und suchte offenbar nach Argumenten, die ihre Forderung noch deutlicher machen konnten. Er nutzte die kurze Pause in ihrem Ausbruch.

"Solange du mir nicht sagst, woher du ihn bekommen hast, bleibt er bei mir."

Doch kaum, dass er dies ausgesprochen hatte, erkannte er den Fehler in seinen Worten.

"Vom Hufschmied unten bei den Ställen!" antwortete Lennys sofort und streckte verlangend ihre kleine Hand aus. "Gib ihn mir zurück!"

"Vom Hufschmied?" Saton besah sich den Shajkan genauer. Er war zweifellos für Lennys angefertigt worden, denn er hatte genau die richtige Größe. Aber er war ansonsten nicht mit den edlen Säbeln dieser Art vergleichbar. Mit stumpfer Klinge, aus einfachem Eisen und ohne die kunstvollen Verzierungen, die man sonst von den Waffenschmieden der Burg kannte, wirkte diese Klinge eher wie ein Spielzeug. Und doch war sie keines. Gelogen hatte Lennys offenbar nicht. Ein Hufschmied hätte durchaus das Wissen und die Fertigkeiten gehabt, deine solche Waffe herzustellen.

"Du hast gesagt, du gibst ihn mir, wenn ich dir sage, woher ich ihn habe!" Noch immer streckte Lennys ihrem Vater störrisch die Hand entgegen. "Gib ihn mir!"

"Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, du bekommst ihn auf keinen Fall vorher. Das ist etwas anderes."

"Ich will ihn zurück!"

"Du wirst ihn nicht zurückbekommen. Vorerst nicht." Saton war plötzlich ganz ruhig geworden, doch dieser sachte Ton erzürnte Lennys nur noch mehr.

"Du musst ihn mir geben!" schrie sie und Saton zuckte in Anbetracht der Lautstärke unwillkürlich zusammen. "Es ist meiner! Man darf ihn mir nicht stehlen!"

Auf dem Gang ertönten Schritte und der Diener, der eigentlich noch gar nicht erwartet wurde, stolperte in das Zimmer.

"Herrin Lennys, ist alles in... oh." Als er die Anwesenheit des Shaj bemerkte, wich Jakven erschrocken zurück. "Verzeiht, hoher Shaj, ich wusste nicht, dass ihr hier seid."

"Davon gehe ich aus." nickte Saton. "Du kannst wieder gehen, ich werde mich heute selbst um meine Tochter kümmern."

"Wie ihr wünscht."

"Aber vorher wüsste ich gern, wer dich angewiesen hat, sie 'Herrin' zu nennen."

Der Diener lief rot an. "Nun, hoher Shaj... ich dachte... nun, sie hat es sich gewünscht und da sie ja eure Tochter ist, dachte ich..."

"Ich verstehe. In Zukunft lässt du das. Nenne sie bei ihrem Namen und nichts weiter. Und jetzt lass uns bitte allein."

"Sehr wohl, hoher Shaj, sehr wohl. Verzeihung..."

Kaum dass sich die Tür hinter Jakven wieder geschlossen hatte, begann Lennys erneut zu toben.

"Gib mir meinen Shajkan zurück!" forderte sie, als seien sie gar nicht unterbrochen worden.

"Genug jetzt!" Nun war es Saton, der laut wurde. "Ich denke, es ist Zeit, dass wir uns einmal ausführlich unterhalten, junge Dame. Und du wirst mich nicht unterbrechen, sondern mir zuhören. Hast du mich verstanden?"

"Ich habe Hunger!" war die patzige Antwort.

"Das ist dein Problem. Wärst du gestern zum Abendessen gegangen, wie ich es von dir erwartet habe, dann würde dir das Warten jetzt nichts ausmachen. Setz dich da hin!"

Er deutete auf den Rand ihres Bettes und stellte erleichtert fest, dass sie seiner Anweisung Folge leistete, wenn auch höchst widerstrebend.

Es fiel ihm schwer, sie anzusehen. Jahrelang hatte er den Anblick ihrer schwarzen Augen in sich aufgesogen, hatte darin jene erkannt, die er einst so sehr geliebt hatte und sich dabei stets in Gedächtnis gerufen, dass ein Teil Curedas immer noch lebte. Doch jetzt ertrug er dieses Funkeln nicht. Er ertrug es nicht, jenem kleinen Geschöpf, das vor ihm saß, weh tun zu müssen und mit ihr zu streiten.

Lenyca war sein ein und alles. Und genau das war das Problem. Sie wusste es. Sie wusste, dass er alles für sie tun würde, dass er ihr alle Fehltritte verzeihen und alle Wünsche gewähren würde und dass er ihr nie wirklich böse sein konnte. Und doch hatten Wandans Worte in der vergangenen Nacht etwas in ihm bewegt.

So konnte es nicht weitergehen.

Er zog einen Stuhl heran und setzte sich direkt vor sie.

"Lenyca..."

"Lennys!" konterte sie, ohne zu zögern.

"Nein. Lenyca. Das ist dein Name. Wie du dich von anderen rufen lässt, ist deine Sache. Aber ich werde dich bei deinem Namen nennen, wann immer ich es will. Und jetzt bist du mal einen Moment still."

In seiner sanften, tiefen Stimme lag eine Endgültigkeit, die keine Widerworte mehr duldete.

"Ich denke, ich muss dir dringend einige Dinge erklären. Und du musst dringend einiges lernen. Es ist mein Fehler, dass dir manches nicht früher klargemacht wurde. Ich gebe dir keine Schuld. Trotzdem musst du mir zuhören. Und du bist klug genug, um mich zu verstehen, auch wenn dir einiges von dem, was ich dir jetzt sage, nicht gefallen wird."

Sie öffnete den Mund, doch Saton schüttelte nur den Kopf und sie schloss ihn wieder.

"In deinem Leben gibt es einige Dinge, die nicht zu ändern sind. Dinge, für die du nichts kannst, weder im Guten noch im Schlechten. Du bist die Tochter eines sehr mächtigen Mannes. Meine Tochter. Du lebst in Reichtum, umgeben von Dienern und von Menschen, die dich schon allein deshalb verehren, weil du mein Kind bist. Und der große Dämon hat dich mit außergewöhnlichen Gaben beschenkt. Du solltest für alle diese Dinge sehr dankbar sein. Aber das bist du nicht, denn du kennst es gar nicht anders. Für dich ist das alles normal. Du weißt nicht, dass man für alles, was man im Leben erhält, auch etwas geben muss. Man muss etwas leisten und man muss sich die schönen Dinge verdienen. Sieh mal, wenn ich meinen Kriegern Befehle gebe, dann befolgen sie sie. Aber nicht, weil ich reich bin oder weil ich eine Krone trage, sondern, weil ich mir ihren Respekt verdient habe. Weil ich ihnen bewiesen habe, dass sie mir vertrauen können und dass ich weiß, wovon ich rede. Für alles, was man bekommt, muss man etwas zurückgeben. Leistung. Kraft. Anstrengung. Manchmal sind es Dinge, die einem leicht fallen und manchmal nicht. Man kann nicht einfach tun, was man will. Und schon gar nicht, wenn man sich dieses Recht nicht verdient hat."

Er hielt ihr den Shajkan vors Gesicht und sofort versuchte das Mädchen danach zu greifen, doch er zog ihn zurück.

"Was hast du dem Hufschmied gesagt, damit er dir diesen Säbel macht?" fragte Saton freundlich.

"Dass er es tun soll." war die schlichte Antwort.

"Du hast ihm also gesagt: 'Mach mir einen Shajkan.'"

"Ja."

"Und was hast du ihm dafür gegeben?"

Überrascht starrten ihn die schwarzen Augen an.

"Nichts. Wieso auch? Er muss doch tun, was ich will."

"Nein, das muss er nicht. Wenn überhaupt, dann muss er tun, was ich will."

"Ich bin deine Tochter!"

"Das allein reicht nicht, Lenyca. Wenn ich möchte, dass der Hufschmied etwas für mich herstellt, dann gehe ich zu ihm und gebe ihm den Auftrag. Aber er bekommt auch seinen Lohn dafür. Er hat eine Unterkunft und bekommt Essen und Kleidung und er erhält auch Silber für seine Arbeiten. Und all das bezahle ich. Er beschlägt meine Pferde und tut all die Dinge, die ein Hufschmied tun muss und wenn ich es möchte, dann macht er auch so etwas." Er hob wieder den Säbel.

"Das hier ist keine besonders gute Arbeit, aber viele Menschen in unserer Stadt könnten es sich trotzdem nicht leisten. Das Eisen, aus dem er gemacht ist, ist teuer. Der Schmied hat wohl mehrere Stunden daran gesessen. In dieser Zeit konnte er nichts anderes tun. Nichts von dem, für das ich ihn bezahle. Und wenn ich ihn nicht bezahle, dann kann er sich nichts zu essen kaufen. Keine Kleidung. Wenn du so etwas wie diesen Shajkan haben willst, dann musst du dem, der ihn macht, etwas dafür geben. So ist das Leben."

"Dann hole ich ihm eben ein Stück Fleisch aus der Küche!" erwiderte Lennys gelangweilt.

"Und was gibst du den Menschen in der Küche für dieses Fleisch?"

"Nichts! Es gehört nämlich uns!"

Saton seufzte.

"Gut, dann werde ich ganz von vorn beginnen. Das Fleisch gehört mir, weil ich auch dafür bezahle. Überall in Cycalas gibt es Bauern, die Vieh halten und schlachten. Und Jäger, die Hirsche erlegen. Diese Leute arbeiten den ganzen Tag, bei jedem Wetter, von früh bis abends, damit die Menschen in den Städten Fleisch essen können. Sie verkaufen es. Und mit diesem Silber, das sie bekommen, bezahlen sie wieder andere Händler. Bäcker und Schneider und auch Hufschmiede. Und wir hier in Vas-Zarac kaufen dieses Fleisch. Weil wir es essen wollen. Wenn du also in die Küche gehst, um ein Stück Fleisch zu holen, muss irgendjemand hier auf diesen Anteil verzichten. Du oder Wandan oder ich oder einer der Diener. Ich bezahle dafür, dass ihr alle zu essen habt, aber irgendjemand bekommt nichts, obwohl ich bezahlt habe. Weil du sein Fleisch dem Hufschmied gegeben hast. Verstehst du mich jetzt?"

Lennys überlegte eine Weile, dann schüttelte sie den Kopf.

"Nein. Es ist doch trotzdem genug da! In den Vorratskammern ist immer etwas! Da fällt es gar nicht auf, wenn etwas fehlt und auch wenn ich etwas davon nehme, bekommen trotzdem alle zu essen."

"Das liegt daran, dass wir hier so viele Menschen leben. Und dass wir mehr kaufen, als wir unbedingt brauchen. Aber das bedeutet nicht, dass das, was zu viel ist, wertlos ist und du es dir einfach nehmen kannst. Noch einmal, Lenyca. Wenn du etwas haben willst, dann musst du dafür auch etwas geben. Und genau deshalb bekommst du diesen Shajkan auch nicht zurück. Er gehört dir nicht, weil du ihn nicht bezahlt hast. So einfach ist das."

"Ich will ihn aber!"

"Ich halte es für keine gute Idee, wenn du in deinem Alter schon so etwas besitzt. Und wie ich dir bereits sagte, dürfen nur die Gebieter der Nacht einen Shajkan haben. Auch wenn dieser hier nicht scharf ist, so ist es doch gefährlich, damit umzugehen. Das musst du erst lernen."

"Dann lern' ich es eben!" sagte Lennys ungerührt und machte nun keinen Hehl mehr daraus, dass sie dieses Gespräch für reine Zeitverschwendung hielt.

Saton lächelte.

"Also gut. Dann mache ich dir jetzt einen Vorschlag. Du bekommst diesen Säbel zurück, wann immer jemand dabei ist, der dir zeigt, wie man damit umgeht. Und ... wenn du ihn bezahlt hast. Denn solange du das nicht tust, gehört er nicht dir, sondern dem Hufschmied."

"Und wenn er ihn mir schenkt?"

"Das wird er nicht. Ich werde ihm verbieten, dir irgendetwas zu schenken. Ihm und jedem anderen in dieser Burg. Keine Geschenke mehr, Lenyca. Alles, was du haben willst, wird dich von nun an etwas kosten. Du wirst etwas dafür tun oder auf etwas verzichten müssen. Ohne Ausnahme. Manchmal sind das nur ganz kleine Dinge, die ich als Gegenleistung erwarte. Und manchmal wird es dir sehr schwerfallen. Dann musst du dich entscheiden, wie viel dir das, was du haben möchtest, wert ist."

"Ich will den Shajkan!" wiederholte das Mädchen unerbittlich und Saton fragte sich, wie viel sie von dem, was er gesagt hatte, begriffen hatte und ob sie sich der Tragweite seiner Anordnung wirklich bewusst war.

"Und was gibst du dem Hufschmied dafür?"

Sie sah sich in dem Zimmer um. Da lagen allerlei Dinge, für die sie keine Verwendung mehr hatte. Spielsachen, Kleidungsstücke, bekritzeltes Pergament. Im Ganzen herrschte ein recht beeindruckendes Chaos.

"Er kann sich etwas aussuchen."

"Ich fürchte, dafür wird der Hufschmied kaum Verwendung haben." lächelte Saton. "Und du würdest den Verlust nicht bemerken, wenn etwas fehlt. Ich möchte aber, dass du etwas für diesen Shajkan tust oder etwas dafür gibst, was dir klar macht, wie wertvoll er ist."

"Dann gib mir Silber, dann bezahl' ich ihn damit!" forderte sie.

"Das wäre natürlich eine Möglichkeit. Aber du vergisst, dass du auch für dieses Silber etwas tun musst. Du musst dafür arbeiten, so wie der Schmied für das Silber arbeiten musste, dass er von dir erhalten soll."

"Ich soll arbeiten?"

Saton unterdrückte angesichts des entrüsteten Tonfalls ein Lachen.

"Ganz recht, Lenyca." Sein Blick schweifte über den Spielzeughaufen, die Pergamentfetzen und das durchwühlte Bett. "Und da ich der Meinung bin, dass du alt genug dafür bist, bestimmte Dinge selbst zu tun, schlage ich vor, dass du ganz einfach dein Zimmer aufräumst."

Sie schnaubte.

"Dafür haben wir Diener!"

"Ab sofort wirst du für einige Aufgaben keine Diener mehr haben. Du räumst dein Zimmer auf. Allein. Ohne Hilfe. Und wenn du fertig damit bist, werde ich dir für diese Arbeit das Silber geben, das du brauchst, um den Shajkan zu bezahlen."

"Ich will aber nicht aufräumen!"

"Dann bekommst du keinen Shajkan!"

"Ich will ihn aber!"

"Dann tu, was ich dir gesagt habe. Es bleibt dabei. Ich werde den Säbel jetzt wieder zum Hufschmied bringen und ich werde ihm sagen, dass er ihn dir erst geben soll, wenn du ihn bezahlst. Und ich werde auch mit allen anderen Menschen in Vas-Zarac reden und sie anweisen, dass du nichts mehr ohne Gegenleistung bekommst. Keine Geschenke. Keine Dienste. Du wirst dein Zimmer von nun an selbst aufräumen. Du wirst selbst zum Brunnen gehen, wenn du etwas trinken möchtest und du wirst lernen, um Hilfe zu bitten und sie nicht zu fordern."

"Ich soll... was?" Lennys glaubte, sich verhört zu haben.

"Auch das ist eine Art von Bezahlung. Wenn du möchtest, dass jemand etwas für dich tut, musst du lernen, ihn darum zu bitten. Du musst sehr viel in deinem Leben leisten, um dir genug Respekt zu verdienen, der es dir erlaubt, Dienern einen Befehl zu geben. Bis jetzt hast du aber nichts dergleichen getan. Und deshalb musst du dasselbe tun, wie alle anderen. Du musst darum bitten."

"So etwas mache ich nicht!"

"Dann wirst du in Zukunft sehr vieles ohne fremde Hilfe regeln müssen. Auch das tut dir nur gut."

Er stand auf.

"Aber..."

"Ich denke, es ist alles gesagt. Und du bist nicht dumm, Lenyca. Du hast mich sehr wohl verstanden. Wenn ich sehe, dass du meine Anweisungen befolgst und ein bisschen weniger fordernd wirst, werde ich dir auch wieder etwas mehr entgegenkommen."

Er ging zur Tür.

"Muss ich für das Essen auch bezahlen?" fragte Lenyca plötzlich.

Saton hielt inne. Sie war ein Kind. Zugegeben, ein verzogenes Kind. Aber das war nicht ihre Schuld.

"Nein, das musst du nicht. Das einzige, was du dafür tun musst, ist, pünktlich zu den Mahlzeiten zu erscheinen. Wenn du zu spät kommst und dich nicht dafür entschuldigst, bekommst du nichts. Das ist alles was ich erwarte."

"Ich soll mich... entschuldigen?" Sie klang nicht minder entsetzt als in dem Moment, in dem Saton gefordert hatte, sie solle bitten.

"So ist es. Du musst noch vieles lernen."

Die folgenden Tage und Wochen kosteten Saton weit mehr Kraft, als er erwartet hatte. Es verging kaum eine Stunde, in der er nicht Lennys' wütende Schreie durch die Burg hallen hörte oder in denen ein völlig entnervter Diener den Shaj um seinen Rat bezüglich seiner Tochter bat. Hätte Wandan ihn nicht fortwährend in seiner Unerbittlichkeit bestärkt, wäre Saton vielleicht schnell wieder weich geworden. Doch er musste auch einsehen, dass sein Freund recht hatte. Wovor er jahrelang die Augen verschlossen hatte, trat nun immer offensichtlicher in Erscheinung. Lenyca Ac-Sarr hatte bereits mit sechs Jahren gelernt, die gesamte Dienerschaft zu kontrollieren, Befehle zu erteilen und ihr ganzes Leben darauf auszurichten, dass alles nach ihrem Willen geschah.

Aber es gab auch kleine Erfolge zu verzeichnen. Das Mädchen hatte tatsächlich noch am selben Tag, an dem Saton ihr zum ersten Mal in ihrem Leben Grenzen aufgezeigt hatte, ihr Zimmer in einen recht ansehnlichen Zustand versetzt, wobei sie allerdings zu dem Schluss gekommen war, dass es einfacher war, Dinge wegzuwerfen, als sie in Ordnung zu bringen. Dass sie noch am selben Abend von Wandan ihren Shajkan zurückbekam und zudem noch die ersten Grundlagen der Säbelhaltung erlernte, hätte sie in der Richtigkeit ihres Tuns bestätigen sollen, doch sie nahm den Besuch des obersten Cas eher gelassen und wie selbstverständlich hin. Saton ließ es vorerst dabei bewenden. Dass seine Tochter zum ersten Mal überhaupt eine Forderung erfüllt hatte und eine von ihm erwünschte Leistung erbracht hatte, freute ihn und er wollte sich diesen Erfolg nicht zunichte machen, indem er kleinlich auf Einzelheiten pochte. Diese Großzügigkeit rächte sich allerdings umgehend, als Lenyca bereits am nächsten Tag nach Wandan und der Fortführung des Trainings verlangte.

Und so hatte Saton noch strenger werden müssen. Die Dienerschaft Vas-Zaracs wie auch die Cas staunten nicht schlecht, als der Shaj verlauten ließ, wie seine Tochter fortan zu behandeln sei, doch die Strenge seiner Worte ließen keinen Zweifel daran, wie ernst ihm die Angelegenheit war. Jedoch hatten diese konsequenten Erziehungsmethoden eben jenen hohen Preis, der sich jetzt auf die ganze Burg auswirkte. Diener, deren Nerven blank lagen, trotziges Geschrei auf den Gängen, allerlei zerbrochenes Geschirr und drei Kinderfrauen, die den Shaj weinend um ihre Versetzung in ein anderes Aufgabengebiet baten.

Wohl zum hundertsten Male frage sich Saton, ob es nicht für alle Beteiligten einfacher und friedvoller wäre, Lennys ein für alle mal nachzugeben. Aber die Natur hatte den Shaj mit zu viel Vernunft gesegnet und er war sich sicher, dass er ein weiteres Zurückweichen seinerseits ein Leben lang bereuen würde.

Müde rieb er sich die Augen. Vor ihm lag ein Schreiben des Batí-Priesters Mondor. Er war nicht mehr in der Lage, dem Brief die volle Aufmerksamkeit zu schenken, doch das musste er auch nicht. Er kannte den Inhalt. Schon seit Jahren. Eine einst verwegene Idee, die inzwischen jedoch weniger phantastisch erschien und schon bald konkretere Formen annehmen würde. Ein Schritt, der Geschichte schreiben würde. Und der die volle Konzentration aller drei Shajs forderte.

Konzentration, die Saton im Augenblick nicht aufbringen konnte. Er rollte das Pergament wieder zusammen. Noch war genug Zeit. Er musste und durfte nichts überstürzen. Vielleicht würde es sogar noch Jahre dauern, bis er sich wirklich mit diesem Problem auseinandersetzen musste. Selbst Mondor gab zu, dass man langsam vorgehen müsse.

Sein Blick fiel auf die Scherben eines Kristallkelchs, die ausgebreitet auf einem Stück Tuch vor ihm lagen. Sie waren das Ergebnis eines Streits gewesen, der an diesem Nachmittag zwischen Lennys und Alasna stattgefunden hatte. Alasna, die sich schon längst von ihrem Dienst als Kinderfrau losgesagt hatte, auf Satons Drängen hin aber noch einmal zurückgekehrt war, weil die eigentlich zuständige Dienerin plötzlich erkrankt war.

Erkrankt.

Saton seufzte. Bisher war keine der "Erkrankten" wieder zurückgekehrt, sondern hatte sich lieber eine andere Arbeit gesucht.

Alasna ließ sich von Lennys vielleicht weniger gefallen als ihre Vorgänger und Nachfolger, aber ihr fehlte auch das Geschick im Umgang mit dem Mädchen. Nur allzu schnell verlor sie die Geduld, wenn es um die Launen der Kleinen ging und sorgte so dafür, dass die lautstarken Auseinandersetzungen nur noch schneller und heftiger hervorbrachen.

Es war um nichts Besonderes gegangen. Das tägliche Spiel. Lennys testete ihre Grenzen, mit Vorliebe, wenn es um die Essenszeiten ging. Entweder erschien sie pünktlich oder gar nicht, doch nicht ein einziges Mal nach jenem denkwürdigen Gespräch in ihrem Schlafzimmer, hatte sich das Kind für seine Versäumnisse wie gefordert entschuldigt.

Und Alasna hatte sie, wie so oft, zurechtgewiesen. Vielleicht etwas lauter als angemessen. Die Antwort wurde ihr in Form des Kelchs entgegengeschleudert.

Wie so oft.

"Ich frage mich, von wem sie das hat...." sagte der Shaj leise zu sich selbst und er fuhr überrascht zusammen, als eine bekannte Stimme antwortete.

"Das dürfte doch offensichtlich sein."

"Meine Güte, Wandan, du hast mich erschreckt. Kannst du nicht anklopfen?"

"Verzeih. Die Tür stand halb offen. Darf ich eintreten?"

"Natürlich... natürlich." Der Shaj klang müde. "Was meinst du damit, es sei offensichtlich?"

"Das muss ich dir doch nicht sagen. Du kannst es kontrollieren. Du hast es gelernt. Sie noch nicht. Er ist in euch beiden und ich muss sagen, bei deiner Tochter ist das kaum zu übersehen."

"Möglich." Saton behielt seine wahren Gedanken für sich. Er hatte noch nie mit jemandem über das gesprochen, was Cureda ihm kurz vor ihrem Tode gestanden hatte. Auch nicht mit Wandan. Lenyca war die Erbin der Nacht, das wussten Mondor, Wandan und ein weiterer Cas, der gemäß der alten Gesetze nach Curedas Tod in den Kreis der "Drei" aufgenommen worden war. Doch was die Himmelslinie anging, so kannte nur er, der Shaj, das Geheimnis. Eines Tages musste er es Lenyca sagen. Wenn sie soweit war. Wandan hingegen konnte es nicht ahnen. Für ihn lag der Grund für Curedas Tod in einer gefährlichen Krankheit und nicht in der Vermischung der heiligen Linien.

"Warum bist du hier?" fragte er den Krieger matt. "Willst du mir von ihren neuesten Wutausbrüchen berichten? Was ist diesmal zu Bruch gegangen? Oder hat Alasna das Weite gesucht?"

Wandan grinste. "Weder noch. Du wirst es nicht glauben, aber eigentlich wollte ich dich ein wenig aufmuntern."

"Mich aufmuntern? Schwierig. Weißt du, ich ärgere mich am meisten über mich selbst. Ich hätte früher auf dich hören sollen. Viel früher. Und ich kann nur mir selbst einen Vorwurf machen. Das ist das Allerschlimmste."

"Ich glaube, du siehst das alles ein wenig zu düster. Manche Dinge wirst du nicht ändern können. Nicht, weil es zu spät wäre, sondern weil es nie möglich war. Du musst einige Seiten deiner Tochter auch einfach akzeptieren können."

Saton runzelte die Stirn. "Hast nicht gerade du behauptet, ich würde ihr zu viel durchgehen lassen? Und jetzt verlangst du genau das Gegenteil?"

"Nein, ganz sicher nicht. Aber zuerst wolltest du nicht erkennen, wie viel bei ihr aufzuholen ist. Und jetzt siehst du nichts anderes mehr."

"Nichts anderes?"

Wandan lehnte sich zufrieden zurück.

"Was würdest du zum Beispiel sagen, wenn ich dir erzähle, dass sie heute - ohne dass jemand es von ihr verlangt hat - ihre Schreibübungen fertiggestellt hat? Ganze drei Tage früher als abgemacht. Oder dass sie ihren Shajkan nach der Trainingsstunde freiwillig an mich übergeben hat, ohne dass ich sie dazu auffordern musste?"

"Ohne Widerworte?"

"Ohne Widerworte."

Ein wenig hoffnungsvoll horchte Saton auf.

"Ich warte auf das 'Aber'." sagte er dann.

"Oh, da gibt es einiges. Grundsätzlich muss ich jedoch sagen, dass Lennys durchaus in der Lage ist, sich an Regeln zu halten - wenn es Bereiche betrifft, die ihr wichtig sind und die ihr Spaß machen."

"Ich hatte bislang nicht den Eindruck, dass sie gerade am Schreiben Freude hat."

"Das nicht. Aber sie hat festgestellt, dass es ihr Vorteile bringt. Wenn sie ihre Übungen frühzeitig fertigstellt, hat sie mehr Zeit für das Säbeltraining. Und für andere Dinge. Lennys ist nun wirklich nicht dumm, Saton. Das wissen wir beide. Sie tut nur das, was sie muss, das aber richtig. Denk nur an ihr Schlafzimmer. Sie hat fast alles weggeworfen. Ihre ganzen Spielsachen. Nur, damit sie in Zukunft schneller mit dem Aufräumen fertig ist. Überleg dir das einmal. Sie ist sechs Jahre alt! Die meisten Erwachsenen wären nicht so konsequent."

Ein Hauch von Stolz stieg im Shaj auf und er war begierig, noch mehr gute Nachrichten zu hören.

"Erzähl mir von ihrem Training."

Wandan lachte.

"Da muss ich dir nichts erzählen. Du hast sie selbst beobachtet. Gib ihr noch ein paar Wochen und sie ist besser als Rahor Req-Nuur und der ist zweieinhalb Jahre älter als sie. Ehrlich gesagt, macht sie mir fast ein wenig Angst. Ich werde in den nächsten Jahren wohl alle Hände voll zu tun haben, sie von den Sicheln fernzuhalten. Sie wird einmal eine große Kriegerin, dessen kannst du dir sicher sein."

"Aber sie hat ihren eigenen Kopf."

"Und ob sie das hat. Und an manchen Dingen werden wir nie etwas ändern können. Sie ist durchaus in der Lage, sich an bestimmte Regeln zu halten. Aber um ehrlich zu sein, fürchte ich, dass es auch einiges gibt, wozu sie nicht bestimmt ist. Manches... wird sie vielleicht nie tun..."

"Und das wäre?"

"Bitten. Weder um Hilfe, noch um Verzeihung."

"Das fällt schwer. Jedem. Besonders einer Ac-Sarr. Ich habe nicht erwartet, dass sie ausgerechnet auf diesem Gebiet große Fortschritte macht."

"Gar keine, um genau zu sein. Aber möglicherweise musst du dich mit dem Gedanken anfreunden, dass es auch so bleibt."

"Ich will keine kriecherisches Kind. Trotzdem wird der Tag kommen, an dem sie auch das lernen muss. Bis dahin bin ich froh, dass unsere Mühe nicht vergebens zu sein scheint."

"Zeit, einen Schritt weiter zu gehen."

"Weiter?"

Wandan deutete auf die Scherben.

"Sie ist eine kleine Furie, wenn ihr etwas nicht passt. Es ist nicht zu überhören, wenn man durch die Festung geht und das Ergebnis liegt auf deinem Schreibtisch."

"Ich habe bereits versucht, ihr klarzumachen, was die Worte 'Besitz' und 'Bezahlung' bedeuten. Meinst du nicht, dass es noch ein wenig zu früh ist, ihr jeden Kelch sozusagen 'in Rechnung' zu stellen? Im Augenblick freue ich mich schon über kleine Erfolge, ich möchte nicht zu viel erwarten."

"Das verstehe ich. Aber bislang lernte Lennys nur, dass sie einen Vorteil daraus hat, wenn sie das tut, was du möchtest. Was sie aber noch nicht weiß, ist, dass es ein Nachteil sein kann, wenn sie dir nicht gehorcht."

"Du sprichst von Strafe."

"So leid es mir tut, Saton. Aber ja, genau das meine ich. Und wir beide wissen, dass sie sich daran gewöhnen wird. Und gewöhnen muss. Du hast nicht nur ein Kind zu erziehen. Sie ist eine Ac-Sarr."

"Sie ist ein Kind."

"Das ändert nichts."

Im Gegensatz zu den Kinderfrauen nahmen die neun Cas Lennys' überschäumendes Temperament zumeist mit Wohlwollen hin. Selbst Wandan, der Saton immer wieder zur Strenge und Konsequenz mahnte, hatte längst seine Schwäche für das Mädchen entdeckt und genoss es, sie beim Säbeltraining zu fordern und stillschweigend ihre Fortschritte zu bewundern. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor eine so junge Schülerin gehabt zu haben, die zugleich derartige Leistungen brachte. Dazu kam, dass Lennys nie die Lust an den Kampfübungen verlor, ganz gleich, wie erschöpft sie von ihrem Unterricht oder den Reitstunden auch sein mochte.

Umso überraschter war er, als er an diesem Tag an ihrem üblichen Treffpunkt hinter den Rosenhecken eintraf. Wie immer trug er den Shajkan des Mädchens bei sich und erwartete jeden Moment, dass Lennys wie sonst auch auf ihn zugerannt kam, um sofort mit den Übungen zu beginnen.

Doch sie war nicht da.

Beunruhigt sah er sich um. Das Säbeltraining war vermutlich die einzige Lehreinheit, zu der Lennys noch nie zu spät gekommen war, geschweige denn, dass sie sie geschwänzt hätte. Das Mittagessen war seit mehr als einer Stunde vorüber und soweit er sich erinnern konnte, hatte Satons Tochter jetzt keinerlei andere Verpflichtungen, denen sie nachgehen musste. Wo also war sie?

Nachdenklich setzte er sich auf einen Mauervorsprung und wartete. Vermutlich hatte sie eine gute Ausrede und auch wenn sie sich bislang bei den Treffen mit ihm als zuverlässig erwiesen hatte, musste er wohl oder übel darüber nachdenken, wie er diese Verfehlung ahnden konnte.

Aber je mehr Zeit verstrich, desto mehr schwand auch seine Enttäuschung und machte ernsthafter Sorge Platz. Es war niemand in der Nähe, den er nach ihrem Verbleib fragen konnte, die meisten Krieger befanden sich auf einer Zusammenkunft in den Kasernen und die Diener gönnten sich um diese Zeit entweder einen kurzen Mittagsschlaf oder waren in den Wirtschaftsräumen beschäftigt.

Schon halb bereit, sofort Saton von Lennys Versäumnis in Kenntnis zu setzen, zögerte Wandan plötzlich. Mittagsschlaf. Die Diener. Was, wenn die Tochter des Shajs einfach eingeschlafen war? Es passte nicht zu ihr, aber er konnte es auch nicht ganz ausschließen.

Er machte kehrt und eilte auf die Pforte zu, die zu dem kleinen Trakt führte, in dem sich Lennys' Zimmer befand. Auch hier waren die Gänge wie ausgestorben.

Angespannt klopfte er an die Tür.

Keine Antwort.

"Lennys? Bist du da?"

Nichts.

Er drückte vorsichtig die Klinke nach unten und lugte durch den Türspalt. Erleichterung durchströmte ihn.

Das Mädchen saß auf ihrem Bett, hellwach, aber ohne auf das Quietschen der Tür zu reagieren. Verwirrt ging Wandan auf sie zu.

"Da bist du ja! Wieso bist du nicht zu den Übungen gekommen?"

Sie antwortete nicht, sondern starrte nur an die gegenüberliegende Wand. Doch da gab es nichts, was sie hätte ansehen können, außer nackten, dunkelgrauen Stein.

"Lennys? Ist alles in Ordnung?"

Sie nickte kaum merklich, aber Wandan war keineswegs beruhigt.

"Was ist los? Fühlst du dich nicht wohl?"

Sie schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.

"Tut dir etwas weh? Ist dir schlecht?"

Es dauerte einen Moment, dann sagte sie, so leise, dass Wandan es kaum hören konnte:

"Ist sie weg?"

"Wer? Alasna?"

"Nein..."

"Wer soll weg sein?" Er sah sich noch einmal um. "Hier ist niemand, Kleines. Hast du vielleicht schlecht geträumt?"

"Ich habe nicht geträumt. Sie war da."

"Wer war da?"

Er griff nach ihrer Hand und als er sie berührte, fühlte er nur eisige Kälte.

"Die Schlange..." sagte sie tonlos.

Wandan fühlte sich wie von einem Schlag niedergestreckt.

"Was hast du gesagt?"

"Sie war hier... ist sie weg?"

Der Krieger sprang auf, packte das Mädchen, nahm sie auf den Arm und stürmte mit ihr nach draußen. Auf dem Weg zu den Ratssaal schossen ihm tausende Gedanken durch den Kopf.

"Sie ist weg..." sagte er immer wieder. "Mach dir keine Sorgen, sie ist weg, Lenyca. Es ist alles in Ordnung."

Nichts war in Ordnung.

Gar nichts.

Er spürte, wie das Kind sich an ihn drückte und allein das beunruhigte ihn mindestens genauso sehr wie ihre Worte. Sie hatte Angst. Und sie hatte noch nie Angst gehabt.

Dann endlich, die große Doppelflügeltür zum Ratssaal. Ein Diener, der davorstand, machte Anstalten, anzuklopfen, um Wandan anzukündigen, doch der oberste Cas schob ihn einfach zur Seite und stieß das Portal auf.

Um einen langen Tisch saßen beinahe zwanzig Personen. Wandan kannte sie alle. Es waren vor allem Dunen, also die obersten Händler, Handwerker und Bauern des Landes, aber auch zwei Rechtsprecher und - natürlich - der Shaj Saton, der am Kopfende der Tafel Platz genommen hatte. Die Köpfe flogen herum und eine Frau, die anscheinend gerade einen Bericht vorgetragen hatte, verstummte.

"Saton!" rief Wandan, ohne für sein Stören um Verzeihung zu bitten. "Saton! Du musst kommen. Schnell!"

Erst jetzt erkannte der Herrscher, dass Wandan seine eigene Tochter auf den Armen hielt. Diese klammerte sich inzwischen an der Lederkleidung des Kriegers fest und vergrub ihr Gesicht darin.

Ohne weiter nachzufragen oder sich der Versammlung zu erklären, sprang Saton auf und eilte auf Wandan zu.

"Was ist passiert?" fragte er kreidebleich und versuchte, Lennys von Wandan zu lösen, aber das Mädchen schien ihren Vater gar nicht zu bemerken.

Doch Wandan wollte nicht antworten. Nicht jetzt, nicht hier, nicht vor all diesen Menschen. Saton schien zu verstehen.

"Nach oben." sagte er nur.

Im Schlafgemach des Shaj war es dämmrig und still. Er empfing niemals Besuch in diesem Raum und er konnte sich nicht erinnern, wann Wandan ihn zuletzt hier in seiner Ruhe gestört hatte, um ihm einen Angriff durch Feinde oder ähnliche unaufschiebbare Meldungen zu überbringen. Es musste Jahre her sein.

"Sie schläft." sagte der Heiler. "Mindestens bis morgen früh. Das Mittel wirkt. Hoher Shaj, ich könnte vielleicht mehr für sie tun, wenn ich wüsste, was..."

"Du kannst nicht mehr für sie tun. Lass uns jetzt allein."

Der Mann nickte und verschwand.

Saton und Wandan blieben zurück und ihr beider Blick ruhte jetzt auf dem schlafenden Mädchen, das sich unter einer Wolldecke auf Satons Bett zusammengerollt hatte. Der Shaj beugte sich hinunter, gab ihr einen Kuss auf die Wange und streichelte ihre Schulter.

"Es war kein Traum." sagte er leise.

Wandan nickte.

"Ich weiß."

"Sie sagte, die Schlange hätte ihr wehgetan."

"Sie hat keine Verletzungen."

Saton schüttelte den Kopf.

"Das hatte ich auch nie. Aber... so früh... es ist doch viel zu früh..."

"Wie alt warst du damals?"

"Fast elf."

"Kannst du dich noch daran erinnern?"

"Wie könnte ich es je vergessen? Ich glaube nicht, dass sie große Schmerzen hatte. Das hatte ich auch nicht. Er hat mir auch wehgetan, ja. Aber nicht sehr. Aber, meine Güte, sie ist erst sechs!"

"Warum zeigt er sich ihr so früh?"

Obwohl der Shaj die Antwort zu kennen glaubte, sagte er nichts. 'Ist das deine Rache, Ash-Zaharr?' fragte er sich. 'Es ist nicht ihre Schuld. Lass sie nicht für etwas bezahlen, das andere getan haben. Sie ist doch noch ein Kind.'

"Wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein, Wandan. Er hat sie erschreckt. Ich habe sie nicht darauf vorbereiten können, weil ich niemals geglaubt habe, dass er sie jetzt schon... War das ein Fehler?"

"Du konntest es nicht wissen."

"Wirklich nicht? Vielleicht hätte ich es wissen müssen. Ich werde es ihr erklären müssen. Alles. Aber ich wünschte, ich hätte es vorher getan. Ich habe wohl mit allem... zu lange gewartet."

Das Blut des Sichellands

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