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8 Wo man/frau erfährt, dass es auch eine andere Presse als die des Kleinformats gibt.

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Ich eile am Apollokino vorbei und sehe, dass heute Abend ein neuer Pasolinifilm gezeigt wird, der Titel liest sich vielversprechend und zweifelhaft. Heute Abend werde ich mir gleich was gönnen.

Ich springe zwischen den Autos auf der Draubrücke herum und bin auch schon in meiner Stammbuchhandlung in der Lederergasse.

Zielstrebig steuere ich auf die Zeitschriftenabteilung zu. Jede Menge Käseblätter gibt es hier, am meisten werden scheinbar Autozeitschriften und Klatschmagazine verkauft, aber es gibt auch den Corriere della sera und jede Menge Schundhefte.

Ganz unten rechts sehe ich die Wochenzeitschriften der seriöseren Sorte.

Die Buchhändlerin spricht mich an, ob ich etwas Bestimmtes suche, sie hätte mich bisher nur bei den Jugendbüchern gesehen.

Ich formuliere mein Ansinnen.

„Verstehe. Gute Idee. Nimm die Zeit, die ist von heute“, rät mir die Buchhändlerin.

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„Wieso nicht den Spiegel, bis fünf hab ich Zeit.“

Die Buchhändlerin zieht eine Visage als hätte ich den Faschingswitz der Saison erfunden.

Fettnäpfchen. Schon wieder ganz dickes Fettnäpfchen. Wo bitte ist hier das nächste Mauseloch in das ich mich verkriechen kann, aber bitte ein ganz tiefes.

Die Buchhändlerin behält die Fassung.

„Cool bleiben, Süße, es bleibt unter uns. Der Spiegel ist am Montag neu.“

„Na und?“

„Heute ist Freitag, der Spiegel ist vom Montag, die Zeit ist daher aktueller.“

?

„Bei Nachrichtenmagazinen kommt es auf die Aktualität an. Entscheide dich schnell, wir haben nur vier Exemplare und die sind immer gleich weg, eines ist immer für den Bürgermeister reserviert und eines holt der Superintendent der evangelischen Kirche“, sagt die Buchhändlerin und entführt gleich zwei Exemplare.

?

Ich wähle die Zeit, wer weiß, wer sie mir sonst noch raubt.

Ich schleppe meine Beute zur Kasse. Die Buchhändlerin nimmt sich ein Herz und fragt mich, was ich von dem Nachrichtenmagazin erwarte.

?

Keine Ahnung. Ich hab noch nie so eine schwere Zeitung gekauft.

Die Buchhändlerin zählt ein paar Themen auf: Politik? Nein. Wirtschaft? Nein. Reisen? Schon besser. Gesellschaft? Was ist denn das? Kochen? Völlig uninteressant. Sport? Nur Eishockey und Tennis. Kultur? Weiß nicht. Filme und Bücher? Ja, schon besser.

Die Buchhändlerin meint, dass das Nachrichtenmagazin einen breiten Kulturteil mit vielen Buch- und Filmbesprechungen veröffentlicht.

Uff. Endlich bin ich richtig.

Sie verlangt den Preis.

?

Die schwere Zeit kostet genau so viel wie ein lustiges Taschenbuch. Ich zögere einen Moment, doch ich schlage zu und ziehe mit eineinhalb Kilo bedruckten Papier von dannen, damit werden wir im Winter gut heizen können.

Mein Weg führt mich ins Secret Garden. Hier werde ich mich sicher ungestört, bei einer Tasse heißer Schokolade mit sehr viel Sahne, durch die Zeit wühlen können.

Sehr schnell bin ich platt und noch schneller mit meinem Vulgärlatein am Ende. Der politische Teil der Zeitung ist umfangreicher als das heimelige Kleinformat zusammen und nicht nur das, es gibt einen Teil, der über die deutsche und einen, der über die internationale Politik berichtet.

Die Artikel sind elendslang. Wer soll das lesen? Eine Tasse heiße Schokolade ist selbst für einen Artikel bei weitem zu wenig, außerdem schreiben verschiedene Leute, von denen ich noch nie im Leben gehört habe, über ein und dieselbe Sache.

Im internationalen Teil gibt es sehr viele ausführliche Berichte über die Kriegsverbrechen in Vietnam.

?

Ich wusste bisher nicht, dass es in einem Krieg Verbrechen gibt. Im Gymnasium haben wir nichts von davon gehört, dort hieß es nur, dass im Krieg alles erlaubt ist.

?

Ich sollte mich schnellst möglich informieren und ins Gymnasium hinüber gehen, um die müde Bande dort zur Rede zu stellen, wieso sie uns einiges vorenthalten hat, was jedoch wichtig wäre.

Ein Artikel befasst sich auch mit einem Oberlumpen, der, und ich traue meinen Augen nicht, ausgerechnet in Klagenfurt völlig unbehelligt hausen soll.

Ich kann nicht glauben was hier steht.

Ich lese den Artikel noch einmal. Der Dreckskerl hat an einer so genannten Aktion Reinhard teilgenommen, bei der zwei Millionen Leute umgebracht worden sind.

Ich lege die Zeitung zur Seite.

?

Ich werfe noch einmal einen Blick auf diese unglaubliche Zahl.

Tatsächlich. Die zwei Millionen Morde sind auf dem Papier gedruckt.

Ich lehne mich zurück. Die Tränen stehen mir in den Augen.

Zwei Millionen Tote.

Was für eine unfassbare Menge.

Und so ein Typ läuft ungehindert in Klagenfurt herum?

Den soll man sofort dingfest machen!

Wo ist die Polizei, dass sie den Lumpenhund schnappt?

Ich wische mir die Tränen von den Wangen.

„Alles in Ordnung?“

Ich sehe in ein bärtiges Gesicht.

Der Sänger von gestern Abend steht vor mir.

„Ja. Nein.“

Er setzt sich zu mir.

„Das war gestern ein tolles Konzert“, sage ich.

„Freut mich, die Texte sind von mir“, sagt der Sänger, der sich Franz nennt. „Du findest die Zeit zum Heulen?“

„Nein, gar nicht. Ich hab nur den Artikel gelesen“, sage ich.

Der Sänger wirft einen Blick in die Zeitschrift.

„KZ. Schlimme Sache.“

„Hast du schon einmal etwas davon gehört?“

„Nicht wirklich. Mit ihrer Vergangenheit gehen die Österreicher um, wie mit einer Geschlechtskrankheit.“

Ich kann es nicht glauben. Nur zu gerne wechsle ich das Thema.

Er heißt also Franz, studiert auch an der Uni in Klagenfurt Germanistik und Anglistik und ist nebenbei Schriftsteller, außerdem ist er auch Radiosprecher bei Radio Villach.

„Radio Villach ist okay. Ich mag die Morgenshow.“

„Freut mich, die moderiere ich“, sagt der Sänger.

Allmählich beruhige ich mich wieder. Von den Verbrechen im Krieg will ich so schnell nichts mehr hören und sehen.

Wir sprechen über Popmusik.

Mauz! Franz kennt sich total gut aus. Cantatori kennt er aber keine, nicht einmal Dalla und Filme hat er auch nicht viele gesehen, vor ein paar Tagen war er aber im Apollo und hat sich den ‚eiskalten Engel’ reingezogen.

Immerhin haben wir ein paar Gesprächsthemen. Er lädt mich noch auf eine zweite Tasse heiße Schokolade ein.

Franz ist nett und nur mäßig aufdringlich, zielsicher landet seine Hand auf meinem Knie und ruht dort ein gutes Weilchen.

Nach dem schweren Schock über die Vergangenheit habe ich nichts dagegen liebkost zu werden.

Wir verlassen gemeinsam das Secret Garden, er begleitet mich bis zur Gerbergasse und fragt nach meiner Telefonnummer, die ich ohne zu zicken herausrücke, weise aber gleich darauf hin, dass ich sehr leicht im Supermarkt gegenüber dem Apollo erreichbar bin, weil ich dort jobbe.

„Na, dann wohnen wir ja genau gegenüber“, sagt Franz.

„Was?“

„Ich wohne im selben Haus wie das Apollo-Kino.“

Na wenn das kein Omen ist?!

Ich bedanke mich für die Info. Franz nimmt mich ungefragt in die Arme.

Wir küssen.

Franz schmust mich nieder. Hey, was ist denn das für einer?

Keine Ahnung, jedenfalls hat er Erfahrung mit Frauen.

Obacht: ich bin nicht die einzige auf seiner Telefonliste.

Nur eine Illusion

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