Читать книгу Ishama - Daniela Jodorf - Страница 14

Achtes Kapitel

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Victor hatte alle Ärzte, Schwestern, Pfleger und Helfer zu einer wichtigen Besprechung gebeten. Er wirkte nervös. Ich suchte nach Ian, fand ihn aber nicht. Ruhig setzte ich mich an meinen Platz und wartete. Ian kam als Letzter herein: „Was ist denn hier los?“

„Ich habe keine Ahnung“, gestand ich.

Victor ergriff das Wort. „Ich habe heute Morgen alle zusammengerufen, weil es wichtige Veränderungen gibt. Unsere Mission wird ausgeweitet. Das bedeutet, dass wir neues Personal aus Europa und den USA bekommen. Neue Hilfsgüter treffen ein und – damit hätte ich zu diesem Zeitpunkt niemals gerechnet – die ersten Psychologen.“

Alle applaudierten. Das waren großartige Neuigkeiten.

„Und daher müssen wir umstrukturieren. In einem Gespräch mit den Koordinatoren der Hilfsorganisationen haben wir gestern Abend beschlossen, unsere ärztliche Nothilfe auf die ländlichen Regionen auszuweiten. In den Bergdörfern südöstlich von hier ist bis heute keine Hilfe angekommen. Das Gebiet umfasst etwa dreihundert Quadratkilometer. Wir werden mobile Trupps mit Helikoptern der internationalen militärischen Kräfte aus Afghanistan losschicken. Diese Aufgabe werden die neuen Kollegen übernehmen, weil wir hier schon perfekt eingespielt sind. Wir bilden also die Basisstation. Die meisten Straßen sind beschädigt und es wird nicht leicht sein, bis zu den kleinen Höhenorten vorzudringen, von denen einige total zerstört sind. Jedes Team wird aus drei Personen bestehen, einem Arzt, einem Anästhesisten und einer Schwester. Wichtig ist, dass wir vom ersten Tag an versuchen, örtliche Sachkundige oder Lernfähige in unsere Arbeit mit einzubeziehen. Unser oberstes Gebot lautet wie bei jedem Hilfseinsatz: Hilfe zur Selbsthilfe. Unser Ziel ist, Kashmir in sechs Monaten wieder zu verlassen. Ich verteile nun die Arbeitspläne.“

Victor gab Zettel durch die Reihen.

„Wir brauchen heute jede Hand. Wir müssen das gesamte Arbeitsmaterial für vorerst vier mobile Teams zusammenpacken, bevor die Kollegen morgen eintreffen: Medikamente, Instrumente, Infusionen, Narkosemittel. Und noch etwas ... Dank unserer Kollegin Ellen werden in zwei bis drei Tagen tausend Zelte, Decken und Öfen aus Deutschland eintreffen.“

Wieder applaudierten alle.

Schwester Baquiya und ich packten die medizinischen Kisten für die mobilen Einsatzgruppen. Andere sortierten Lebensmittel, Gaskocher, Zelte und Schlafsäcke für die Mannschaften. Baquiya arbeitete ruhig und sehr schnell. Wir verstanden uns blind.

„Woher kommst du, Baquiya?“, fragte ich in einer kurzen Arbeitspause.

„Aus Hafizabad, in der Nähe von Lahore. Aber ich lebe schon lange in Muzzaffarabad. Ich habe hier in einem Krankenhaus am anderen Ende der Stadt gearbeitet, als das Beben kam und ich war schon häufiger für DoctorsAid in Indien und Bangladesh.“

„Hast du Familie? Was ist mit eurem Haus?“

„Ich habe in einem Schwesternheim gelebt, das völlig zerstört wurde. Jetzt wohne ich hier im Notfallhospital.“

„Und wie alt bist du?“

„Dreißig.“

„Hast du Angst davor, wie es weitergeht, wenn wir alle wieder fort sind?“

„Angst? Nein, Doktor Ellen. Angst habe ich nicht. Bisher ging es stets weiter in meinem Leben. Krankenschwestern werden immer und überall gebraucht und ich liebe meine Arbeit.“

Aus ihren wenigen Worten hörte ich heraus, dass ihr etwas eine besondere Kraft verlieh, ein ungewöhnlich tiefes Vertrauen, das sie sehr gelassen und selbstbewusst wirken ließ. Das beeindruckte mich, vor allem, weil sie noch recht jung war. „Musst du nicht regelmäßig beten, Baquiya? Du weißt, dass du das hier darfst. Es ist dein gutes Recht.“

„Ja, Doktor Ellen. Ich weiß. Es ist sehr nett, dass du danach fragst. Das Salat, das tägliche Gebet, ist zwar ein wichtiges Ritual und oberste Pflicht für alle volljährigen Muslime, doch es gibt Situationen, in denen es nur hinderlich ist. Wer verlangt denn wirklich von mir, mich fünf Mal am Tag zu verneigen: Allah oder die Religionsführer? Der Allmächtige erwartet nichts von mir, schon gar nicht, dass ich mich von den Kranken abwende, um ihn im Gebet zu suchen. Nein, er zeigt mir in den Kranken sein verletzliches Gesicht – nicht nur fünf Mal, sondern zwanzig, dreißig, fünfzig, hundert Mal am Tag. Es ist ein bisschen so, wie Schwester Irene gesagt hat, und doch ganz anders. Ich bin immer bei ihm und er ist bei mir.“

Ich schwieg und blickte stumm auf den Boden, während mein Herz weich und weit wurde.

„Ich habe gesehen, dass du meditierst, Doktor Ellen. Ist das ein christlicher Brauch?“

„Ich glaube nicht, Schwester Baquiya. Ich weiß nicht einmal, ob man das Meditation nennen kann. Ich bin erst hier in Pakistan dazu gekommen. Es geschah irgendwie von selbst. Ich habe mich hingesetzt und mein Geist wurde leer – leer von Gedanken, leer von Bildern, leer von mir. Seitdem ich diesen Zustand einmal zugelassen habe, geschieht es immer öfter. Fast jedes Mal wenn ich allein bin und still dasitze ...“

„Aber du bist doch Christin. Welche Rituale habt ihr Christen im täglichen Leben? Alle westlichen Ärzte, die ich sehe, arbeiten nur, denken nur und schlafen nur. Niemand betet, niemand geht in die Kirche, niemand spricht mit Gott und sucht Rat und Hilfe bei ihm.“

„Ja, so ist das wohl in unserer Kultur, Schwester Baquiya. Die Religion ist nicht mehr Teil des Alltags. Ich weiß nicht einmal, ob sie das jemals war.“

„In den islamischen Ländern wird jeder dazu erzogen, Allah und dem Propheten einen Platz in seinem Alltag zu geben. Wir lernen früh, mit Gott Zwiesprache zu halten.“

„Wenn ich recht darüber nachdenke, dann kenne ich nur Menschen, für die das Göttliche eine Täuschung ist. Es ist der Zufluchtsort für Versager, die auf göttliche Hilfe und Erlösung hoffen, weil sie ihr Leben allein nicht geregelt kriegen. Religiosität ist in meiner Welt eine Art Kapitulation.“

„Das verstehe ich nicht. Wie kann denn so etwas aus eurer Religion geworden sein?! Sie ist doch erst zweitausend Jahre alt. Ihr hattet so einen starken religiösen Führer. Wie kann man vergessen, was der Nabi, der Prophet Issa, Jesus, gesagt und gelebt hat. Er hat nur für euch gelebt. Sein Leben ist ein herausragendes Beispiel.“

„Der Prophet Jesus?“

„Ja. Wusstest du das nicht? Issa selbst nennt sich im Koran bereits als Neugeborener so: „Ich bin der Diener Gottes, abd allah. Er ließ mir das Buch zukommen und machte mich zu einem Propheten.“ Issa ist ein göttlicher Gesandter, ein Rasul. Er hat das Kommen unseres Propheten Mohammed angekündigt.“

„Woher weißt du das, Baquiya?“

„Die Stellen im Koran über Jesus gehören zu meinen Lieblingsstellen. Issa sagt dort: „Gott ist mein Herr und euer Herr, so dienet ihm. Das ist ein gerader Weg.“ Seit ich diesen Satz das erste Mal gelesen habe, habe ich versucht, diesen Weg zu gehen.“

Wieder berührten Baquiyas Worte und die Aufrichtigkeit, mit der sie sie sprach, mein Herz. Ich fröstelte und zog meine Jacke unwillkürlich enger um die Schultern. „Ich kenne niemanden, der die Bibel gelesen hat. In der Schule haben wir einige Geschichten und Psalmen gehört und auswendig gelernt. Ich glaube, die meisten von uns haben nie darüber nachgedacht, dass sie einen Sinn für unser persönliches Leben haben könnten. Keiner von uns hätte sie freiwillig in die Hand genommen. Nur auf dem Sterbebett habe ich so machen Patienten nach ihr greifen sehen und nach einem Geistlichen rufen hören. Ist das nicht eigenartig?“

„Ja, das ist es, denn die heiligen Bücher lehren uns das richtige Leben.“

„Steht im Koran noch mehr über Jesus, über Issa?“ Baquiya hatte mein Interesse geweckt. Ich hatte das Gefühl, zum ersten Mal in meinem Leben mit einem Menschen zu sprechen, der wirklich etwas über Jesus wusste.

„Nun, im Koran steht auch, dass Issa nicht am Kreuz gestorben ist.“

„Was? Das kann nicht sein!“, rief ich ungläubig aus.

„Doch, so ist es. Laut Koran erschien den jüdischen Kreuzigern eine „ihm ähnliche Gestalt“. Den Propheten Issa selbst hat Allah vorher zu sich erhoben. Glaubst du etwa, Gott hätte zugelassen, dass seinem Diener so etwas Grausames wie eine Kreuzigung geschieht? Was für ein Gott wäre das? Sicher kein allmächtiger. Und ... was wäre der Sinn dieses furchtbaren Leids?“

„Ja ...nein ... ich weiß nicht ... Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Ich meine, ich habe die Kreuzigung Jesu niemals angezweifelt. Sie ist ein so elementarer Bestandteil der christlichen Lehre. Was würde das bedeuteten, wenn ein anderer an seiner statt gekreuzigt worden wäre. Einer, der aussah wie er?“

Diese Frage schien mir absolut undenkbar und schon gar nicht beantwortbar.

Als ich später mit Ian noch eine Operation durchführte, musste ich unbedingt wissen, was er darüber dachte. „Hast du schon einmal gehört, dass Jesus im Islam Issa heißt und im Koran erwähnt wird, Ian?“

„Nein. Wie kommst du darauf?“

„Schwester Baquiya hat es mir erzählt.“

„Ich habe keine Beziehung zur Religion. Weder zur christlichen noch zu irgendeiner anderen.“

„Ich auch nicht, aber ich finde das unglaublich. Warum weiß das bei uns niemand? Warum denkt keiner laut darüber nach? Das müsste doch öffentlich diskutiert werden. Laut Koran ist Issa nicht Gottes Sohn, sondern ein Prophet wie Mohammed. Issa sei nicht am Kreuz gestorben, sondern ein anderer, der ihm ähnlich sah. Das bedeutet keine Auferstehung am dritten Tage nach dem Kreuzestod und keine Himmelfahrt, denn Gott hat Jesus direkt zu sich genommen und ihm jegliches Leid erspart. Ich finde das unvorstellbar. Ich meine ... gerade die Leidensgeschichte Jesu ist doch für unsere Religion essenziell.“

„Das ist doch alles nicht so wichtig, Ellen. Die Religion hat nur für bestimmte Menschen Bedeutung. Sie suchen einen Sinn. Diese Leute wollen an etwas glauben, das man nicht wissen und nicht beweisen kann. In der Religion wird es nie Gewissheit geben. Ich glaube, Religion entsteht nur da, wo es keine Gewissheit geben kann.“

„Ich glaube nicht, dass das so einfach ist. Die gesamte abendländische Kultur basiert auf der Kreuzigungsgeschichte – Kunst, Musik, Literatur. Das Weltbild unserer Kultur beruht auf ihr und auch das Selbstbild der Menschen.“

„Ach, Ellen, mach die Sache doch nicht so groß. Ich wäre kein anderer, wenn ich glaubte, Jesus sei nicht am Kreuz gestorben, und du wärst auch keine andere. Wir leben ein modernes Leben, das von den christlichen Lehren unbeeinflusst ist.“

„Nein, Ian. Genau das glaube ich nicht. Als Schwester Baquiya mir so leidenschaftlich von Issa erzählte, hat mein weltanschauliches Fundament gewackelt. Mir ist zum ersten Mal klar geworden, dass ich eine sehr wichtige Vorstellung blind angenommen habe. Ich habe begriffen, dass ich vom Christentum geprägt bin, obwohl ich mich nicht für eine Christin halte.“

„Wenn die Frage dich so sehr beschäftigt, musst du dir selbst ein Bild machen. Du weißt doch, wie das ist: Frage zwei Leute, was bei einem Unfall geschehen ist, und beide werden dir eine völlig unterschiedliche Version erzählen. Wahrnehmung ist immer selektiv und subjektiv. Das lernt man in den ersten Tagen als Unfallarzt.“

Ian hatte recht. Und plötzlich begriff ich, was das alles bedeutete. Warum Schwester Baquiya mir gerade jetzt von Issa erzählt hatte. Meine Entlassung in Frankfurt, meine Trennung von Niki, die Erlebnisse in Kashmir, Iman, die Veränderung meines Bewusstseins und nun Issa. All das hing irgendwie zusammen. Mir war, als gäbe mir das Leben ein Rätsel auf, eine sehr persönliche Denkaufgabe, die mich an die Grenzen des mir Bekannten brachte. Alles, was ich erlebte, schien mir eine Frage zu stellen, und ich konnte mich nicht mehr länger dagegen wehren, die Frage zu hören und eine Antwort darauf zu suchen.

„Glaubst du an Gott, Ian?“ Er sah mich nur entgeistert an und schwieg.

Ishama

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