Читать книгу Ishama - Daniela Jodorf - Страница 8

Zweites Kapitel

Оглавление

Ian und ich saßen am nächsten Morgen gerade bei einem hastigen Frühstück, als Schwester Baquiya in das Versorgungszelt gelaufen kam, um unser Team zu einer Eil-OP zu rufen. Auf dem Weg ins OP-Zelt gab sie uns alle notwendigen Informationen: Ein Mädchen. Etwa elf Jahre alt. Es war vor wenigen Stunden aus einem eingestürzten Laden in der Nähe geborgen worden. Mehrere Knochenbrüche. Eine Schädelverletzung. Vielleicht ein Schädel-Hirn-Trauma. Unterkühlung und Flüssigkeitsmangel.

Ich überblickte die Situation voll konzentriert, nüchtern und klar. Dies war eine Routineoperation, genauso wie die Unfall-OP in Frankfurt eigentlich alltäglich gewesen wäre. Doch anders als vor wenigen Wochen wusste ich heute, dass das pakistanische Mädchen, trotz seiner schweren Verletzungen, überleben würde. Wie war das nur möglich, fragte ich mich. Wie konnte ich plötzlich wissen, was geschehen würde? Und warum hatte in Frankfurt nur ich in die Zukunft geschaut? Warum hatte nur ich meiner Intuition vertraut und niemand sonst?

... Der Professor hatte meinen Bericht nicht akzeptiert. „Frau Dr. Jansen, sind Sie wahnsinnig? Sie wollen allen Ernstes behaupten, dass Sie zu dem Zeitpunkt, als Sie entschieden, nicht zu operieren, erkennen konnten, dass die Frau an Herzversagen sterben würde? Wer sind Sie? Gott?“

Ich blieb bei unserem Telefonat sachlich. „Professor Bauer. Ich gebe zu, dass es keine äußeren Anzeichen für meine Annahme gab. Und doch bin ich von der Richtigkeit meiner Entscheidung überzeugt.“

Auch jetzt wusste ich genau, was geschehen würde.

„Dann gibt es für Sie keinen Job mehr an diesem Krankenhaus unter meiner Verantwortung, Frau Doktor. Und ich muss Ihnen sagen, dass es mir in diesem Fall nicht einmal leidtut. Medizin ist Wissenschaft, sie ist und muss objektiv sein. Keiner von uns darf aufgrund eines diffusen subjektiven Gefühls entscheiden, ob er hilft und auf welche Weise er hilft. Die Patienten müssen sich darauf verlassen können, dass wir unter allen Umständen bis zuletzt alles für sie tun.“

Ich wagte noch einen kühnen Vorstoß der Selbstverteidigung, trotz meiner Befürchtung, den Professor damit nur noch mehr zu verärgern. „Die Frau ist verstorben, Herr Professor. Mein diffuses, subjektives Gefühl, das ich Intuition nenne, war also richtig.“

Es wurde sehr still am anderen Ende der Leitung. Die Stille entblößte die unausgesprochene Angst des Professors vor eben dieser unberechenbaren Intuition und der Grenze, die sie uns Medizinern aufzeigte. Nur mit Mühe ertrug ich die Kälte seines Schweigens und seiner Angst, die gleich darauf in glühende Wut umschlagen würde. Etwas sagte mir, dass ich Angst und Wut meines Gegenübers ertragen müsse, weil sie ein wichtiger Teil meiner Erfahrung seien. Erst seine heftige Reaktion machte mir bewusst, dass ich seit meiner Entscheidung, die Patientin nicht zu operieren, die Welt mit anderen Augen sah. Dieses Erlebnis hatte mich verändert. Es hatte mein Bewusstsein verändert und um eine Dimension reicher gemacht – die der Intuition.

Schon brüllte der Professor los: „Wie können Sie es wagen, so selbstgerecht daherzureden! Wer sagt uns denn, dass die Frau auch gestorben wäre, wenn Sie sofort operiert hätten? Ihre Weigerung zur Operation hat vielleicht lebenswichtige Zeit gekostet.“

Professor Bauer suchte nach einer Erklärung und einem Schuldigen. Doch es gab keine rationale Erklärung für das, was vorgefallen war. Niemand war schuld am Tod der jungen Frau. Niemand hätte sie retten können. Ihr Tod machte die Grenze unserer menschlichen und medizinischen Möglichkeiten deutlich. Das war eine Herausforderung für jeden von uns. Professor Bauer jedenfalls war nicht bereit, diese Grenze zu sehen, geschweige denn, sie zu akzeptieren.

„In den nächsten Tagen geht Ihnen Ihre Kündigung zu. Wir verzichten auf ein internes Verfahren, um die Angehörigen nicht unnötig zu verunsichern. Sie können von Glück sagen, dass sie den Tod der Frau und die Umstände, die dazu führten, nicht in Frage gestellt haben.“

Ich hätte von Glück reden können, aber ich war nicht glücklich gewesen. Keinen einzigen Tag seit dem Tod Patientin...

Ian leitete die OP. Wir arbeiteten systematisch an den Verletzungen des Mädchens, das trotz der kälter werdenden Jahreszeit nur einen dünnen Salwar Kameez trug. Es musste zum Zeitpunkt des Bebens barfuß gewesen sein. Sein Körper war eiskalt und die Lippen blau gefroren.

Für einen kurzen Moment hatte ich wieder das eigenartige Gefühl, beobachtet zu werden. Ich schaute mich um. Mir war, als beobachte mich jemand durch einen Spalt im Zelt unmittelbar hinter mir.

Ian bemerkte, dass mich etwas beunruhigte. Mit einem Blick fragte er, ob alles in Ordnung sei, und ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste es nicht. Ich fühlte mich, als ob jemand jede meiner Handlungen und emotionalen Regungen mit Röntgenaugen beobachtete. Ja, das war das eigentlich Unheimliche daran: Mir war, als wisse, wer auch immer mich beobachtete, alles über mich – Äußeres und Inneres.

„Gibt es Angehörige?“, fragte ich Schwester Baquiya, während wir uns nach mehr als zweistündiger OP gemeinsam umzogen.

„Das Mädchen war wahrscheinlich allein einkaufen. Wir wissen nicht, wo es wohnt. Wir werden es noch heute auf die Liste setzen.“

Ich nickte tonlos, als sich in meiner Magengegend wieder das Gefühl des ohnmächtigen Schmerzes aufsteigen spürte.

„Wir brauchen dringend psychologische Hilfe für die Menschen hier“, forderte ich bei unserer täglichen Besprechung.

„Haben wir bereits angefordert“, sagte Victor de Man, unser belgischer Kollege, der das Nothospital leitete. „Im Headquarter heißt es, das seien Sekundärhilfsmaßnahmen, die warten müssten. Zurzeit sei es vorrangig, Ärzte, Medikamente, medizinische Geräte, Zelte, Kochgerätschaften und Ähnliches hierher zu schaffen.“

„Und wann können wir dann mit den Spezialisten rechnen?“, fragte ich ungläubig.

Die Antwort war ernüchternd: „Frühestens in zwei, drei Wochen!“

Ich sprang auf und lief aus dem Zelt hinein in die Gassen von Muzzaffarabad. Es war später Vormittag. Menschen versuchten mit bloßen Händen, Trümmer fortzuräumen. Frauen, Männer und Kinder suchten pausenlos nach Habseligkeiten und Überlebenden. Die letzten Zahlen, die ich gehört hatte, waren schockierend: Man sprach bereits von über 40.000 Toten. Unerträglicher Verwesungsgeruch lag in der Luft. Ich hielt einen Ärmel meines Pullovers vor die Nase.

Um das Nothospital herum war kein Haus stehen geblieben. Es war lebensgefährlich, die halb eingestürzten Räume zu betreten, und doch suchten viele in der Nacht Unterschlupf zwischen den brüchigen Mauern unter maroden Decken und Dächern. Müde und erschöpft kehrte ich zum Nothospital zurück. Ian wartete im Versorgungszelt auf mich: „Setz dich, Ellen. Ich hole dir eine Suppe.“

„Ich habe keinen Hunger“, erwiderte ich trotzig.

„Du nimmst dir das alles zu sehr zu Herzen. Du musst versuchen, die professionelle Distanz wiederzugewinnen.“

Meine Augen füllten sich mit Tränen. „Ian, das weiß ich doch. Aber ich kann nicht. Ich sehe nur Leiden, nichts als Leiden – Kranke, Verletzte, Zerstörung, Einsamkeit, Hunger, Verlust ... Ich weiß nicht, was noch alles. Ich war schon in einigen Krisengebieten und es hat mir nie etwas ausgemacht. In Afrika habe ich Hunderte von Aidskranken und -waisen behandelt, aber das war anders. Vielleicht, weil ich damals in einer anderen Situation war. Damals wusste ich, dass ich nach drei Monaten wieder in Frankfurt arbeiten würde. Jetzt weiß ich nicht einmal, ob ich nach Frankfurt zurückkehren werde.“

... Seit so vielen Jahren hatte ich nur für meinen Beruf gelebt. Ich war einen 16-Stunden-Tag gewöhnt. Nun saß ich allein zu Hause, ohne Aufgabe. Tagsüber war die Wohnung leer und still. Und diese räumliche Leere und akustische Stille füllten sich binnen eines einsamen Tages mit unerträglichen Zukunftsängsten. In Frankfurt würde ich keinen neuen Job finden, war ich mir sicher. Der Vorfall hatte sich längst herumgesprochen. Ich musste mich möglichst weit weg in einer anderen Stadt bewerben. Aber Nik konnte nicht aus Frankfurt fort. Er war Partner in einem international tätigen Architekturbüro. War ich bereit, in einer anderen Stadt ohne ihn neu anzufangen? Würde unsere Beziehung das nach zehn Jahren überstehen? Konnte ich nach langer Ausbildung und erfolgreicher Tätigkeit in der Mitte meines beruflichen Lebens alles hinter mir lassen und irgendwo ganz neu beginnen? Lähmende Schwere hatte sich über mich gelegt. Nein, ich konnte nicht an einem anderen Krankenhaus arbeiten und so tun, als hätte ich nicht erlebt, was ich erlebt hatte. Was wäre, wenn dort das Gleiche geschähe? Wenn wieder ein Patient vor mir läge, von dem ich sicher wusste, dass es nicht in meiner Macht stand, ihn zu retten?

Ich schlief schlecht und war leicht reizbar. Niki wusste nicht, wie er mit mir umgehen sollte. Er liebte mich, aber er konnte mich nicht verstehen. „Warum hast du die Frau nicht trotzdem operiert, wenn dir dein Job so viel bedeutet?“, fragte er mich.

„Weil ich keine Wahl hatte, Niki!“

„Man hat immer die Wahl!“

„Nein, in diesem Fall nicht. Es war, als wäre nicht ich die Handelnde gewesen. Ich war nur der Beobachter, der staunend zusah. Ich sah mir dabei zu, wie ich wusste, dass die Frau sterben würde, wie ich entschied, nicht zu operieren, wie sich alle von mir distanzierten, wie ich wusste, dass mich das meinen Job kosten würde ...“

„So etwas gibt es nicht, Ellen.“

Zwei Wochen lebte ich ziel-, plan- und hoffnungslos vor mich hin. Da kam ein Anruf von der DoctorsAid-Zentrale, die dringend nach auslandserfahrenen Ärzten für ein Krisengebiet in Zentralafrika suchte. Ich griff nach dem Strohhalm, den das Leben mir reichte, und nahm das Angebot sofort an, verpflichtete mich sogar für ein ganzes Jahr. Bisher war ich nie länger als drei Monate für DoctorsAid tätig gewesen.

Niki sah mich erschüttert an, als ich ihm überglücklich von meiner unerwarteten Chance berichtete. „Du wirst ein Jahr fort sein, Ellen. Was wird dann aus uns? Wir sind keine zwanzig mehr. Wir wollten in diesem Jahr an Kinder denken ...“

Mir war bewusst, dass diese Veränderung für unsere Beziehung zum schlechtesten Zeitpunkt kam. Doch ich versuchte, Niki Mut zu machen; Mut, den ich selbst nicht hatte. „Wir lieben uns, Niki. Wir waren schon so oft voneinander getrennt. Ich habe ein gutes Gefühl.“ Niki blickte skeptisch, doch er versuchte nicht, mich umzustimmen.

Meine Abreise nach Afrika war für November geplant. Doch dann kam alles ganz anders ... Ich schlief noch, an diesem Samstagmorgen um sieben Uhr, am 8. Oktober 2005, als das Telefon klingelte. Niki griff nach dem Hörer. „Hallo?! Ja, ich gebe sie Ihnen. Ellen, für dich.“

„Wer?“

„Deine Ärzte!“

Müde meldete ich mich. „Jansen, ja bitte?“

„Ellen, hier spricht Madeleine. Wir haben gerade eine Notfallmeldung bekommen. Ein Erdbeben in Pakistan. Es sieht sehr schlimm aus. Wir stellen noch heute ein Team zusammen. Kannst du dabei sein?“

Ich begriff die Worte kaum, die Madeleine mit holländischem Akzent im Staccato-Ton sprach. „Pakistan? Wann fliegen wir?“

Niki sah mich ernst und besorgt an.

„Morgen früh.“

„Okay!“, hörte ich mich sagen. Ein einfaches kleines Wort – okay – veränderte mein ganzes Leben, und wieder sah ich mir verwundert dabei zu, wie ich es geschehen ließ ...

Sobald die Dunkelheit über die Stadt hereingebrochen war, hielt mich nichts mehr in meinem Zelt und ich suchte die Nähe der Einheimischen in den dunklen Gassen Muzzaffarabads. Es regnete nun in Strömen ohne Unterlass. In vielen Straßen liefen kleine Bäche zusammen, die meine Turnschuhe durchnässten. Doch ich lief weiter, die Kapuze meiner Regenjacke tief ins Gesicht gezogen. Heute brannten nur wenige Feuer, obwohl es kälter geworden war. Ich sah dunkle Gestalten unter jedem schützenden Häuservorsprung sitzen, zusammengerückt, um sich gegenseitig zu wärmen.

Inzwischen kannte ich mich recht gut aus und wagte mich weiter in das Labyrinth der engen Straßen vor. Plötzlich hörte ich ein grollendes Geräusch, das aus einer Gasse hinter mir kommen musste. Donner? Tosendes Wasser? Ein einstürzendes Gebäude! Ich reagierte blitzschnell und flog mehr, als dass ich lief, den Weg zurück. Da hörte ich die ersten Schreie. Frauen und Kinder riefen um Hilfe: „Madad! Madad!“

In wenigen Sekunden war ich zur Stelle. Überrascht sah ich, dass schon drei Helfer vor mir dort waren. Ein Mann und zwei Frauen räumten bereits Trümmer zur Seite, als ich die Unglücksstelle erreichte. Die verhüllten Gestalten bewegten sich selbstsicher, sie wirkten ruhig und konzentriert; die Situation schien sie in keiner Weise aufzuregen oder zu beunruhigen. Wie selbstverständlich nahm ich einen Platz in der Gruppe ein, half mit bloßen Händen, den eingestürzten Zugang zu einem Kellerraum freizulegen. Wir arbeiteten wortlos und präzise wie die Zahnräder eines Uhrwerkes, die perfekt ineinandergriffen. Die innere Ruhe der Fremden übertrug sich auf mich und ich räumte große Trümmer mühelos an die Seite, ohne darüber nachzudenken, ob ich überhaupt die Kraft dazu haben würde. Weil es nötig war, war es möglich. Ich bewegte mich leicht, stark und beinahe schwerelos wie die anderen. Nur ab und an verständigten wir uns untereinander durch beredte Zeichen. Innerhalb weniger Minuten hatten wir den Kellereingang freigelegt.

Eine der verschleierten Frauen kletterte als Erste vorsichtig in den dunklen Raum hinab, den ein schwaches Licht erhellte – wie das Licht eines Feuerzeugs oder eines Streichholzes. Auch dieses weißliche Licht verströmte – wie die drei fremden Helfer – eine Atmosphäre der tiefen Ruhe und des Friedens. Im Keller war es jetzt so still, dass ich meinen eigenen Atem hören konnte. Niemand weinte. Die Hilfeschreie waren längst verstummt. Erst als die Frau von unten rief, folgten ihr die beiden anderen in den Keller. Kurz beschlich mich das eigenartige Gefühl, nicht das Recht zu haben, mich diesen drei Menschen anzuschließen. Doch die Anziehungskraft, die von ihnen ausging, war stärker als meine Selbstzweifel. Als Letzte wagte ich mich in den Kellerraum, der noch immer von dem diffusen Licht erleuchtet wurde, dessen Quelle ich nicht ausmachen konnte.

Eine der Frauen kniete über einem verletzten Kind, das aus einer üblen Kopfwunde stark blutete. Ich sah nicht genau, was sie tat, aber ihre Bewegungen wirkten kundig und erfahren. Von ihr ging eine strahlende Kraft aus, die auch mich erreichte und berührte. Diese mir unbekannte Kraft war hell, leicht, kühl und stark. Sie glich dem Sog des Wassers, das über einen Wasserfall stürzt und sich in wilden Strudeln ins Tal ergießt. Sie zog mich hinab in mich selbst, hinein in mein Bewusstsein, tiefer und tiefer, bis ich mich ebenso hell, leicht, kühl und stark fühlte wie die Kraft selbst. Meine Wahrnehmung veränderte sich, wurde schärfer und klarer. Ich sah nun alle drei Helfer über den Verletzten knien. Sie führten Gesten aus, die Trost und augenblickliche Linderung brachten. Jeden Einzelnen berührten sie achtsam und liebevoll. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Niemals zuvor hatte ich Menschen beobachtet, die sich so achtsam und bewusst bewegten.

Wir hatten eine ganze Familie gefunden: Großvater, Vater, Mutter und vier Kinder. Die Kinder waren am schwersten verletzt, weil sie unter dem Eingang gespielt hatten, als der Treppenaufgang eingestürzt war. Ihre Mutter weinte leise vor Angst, der Großvater starrte dumpf vor sich hin. Als der Mann aus der Dreiergruppe sich ihm zuwandte, erwachte der Alte aus seiner Erstarrung und begann zu weinen. Während ich meine eigenen Tränen aus den Augenwinkeln wischte, begriff ich, dass er bei dem Beben vor wenigen Tagen seine Frau verloren hatte. Der Schmerz hatte ihn versteinert, bis die Liebe dieses fremden Mannes ihn berührte und wieder zum Leben erweckte.

Ja, so war es. Die Kraft, der ich hier in diesem Kellerraum gewahr wurde, war die Kraft der Liebe, die ich nur deshalb nicht sofort erkannt hatte, weil ich sie in dieser Reinheit und Intensität noch nie erlebt hatte. Sie war so stark, dass sie jeden emotionalen Schmerz augenblicklich auflöste, jede seelische Erstarrung beendete. Sie verlangte nach nichts und linderte jede Form von Leid; sie machte diesen Ort zu einem heiligen Ort. Kleinste Gesten und Berührungen schienen hier unten Wunder zu wirken; Wunder der Heilung, die augenblicklich allen Hoffnung brachten. Auch mir.

Fast gleichzeitig erhoben sich die drei fremden Gestalten. Der Mann und eine der Frauen bauten aus Hölzern und einem Tuch eine Bahre. Behutsam legten sie eines der Kinder auf die Trage, während die zweite Frau leise und eindringlich auf die Mutter der Kinder einredete. Ich schwieg aufmerksam. Obwohl die Frau Urdu sprach, verstand ich ihre Worte. „Wir nehmen Ihren Sohn über Nacht mit. Morgen wird er wieder gesund sein!“

„Wie kann er morgen wieder gesund sein?“, fragte ich mich entgeistert. „Wer sind diese Menschen, dass sie glauben, einen Jungen mit schwersten Schädelverletzungen innerhalb einer Nacht heilen zu können? Wer sind diese Menschen?“, fragte ich mich immerzu.

Die drei setzten sich mit dem Kind auf der Bahre in Bewegung. Ich suchte noch einmal nach der unsichtbaren Lichtquelle, die den Keller noch immer erhellte – ergebnislos. Verwirrt, verwundert und gleichzeitig glücklich und erleichtert folgte ich der Gruppe, die nun wie eine Prozession schweigend nach draußen kletterte. Der Mann und die Frau, die den Jungen trugen, verließen den Ort durch dieselbe Gasse, durch die ich zuvor zur Unglückstelle gelaufen war. Die Frau jedoch, die als Erste den Keller betreten hatte, wandte sich an mich: „Danke! Du warst uns eine große Hilfe.“

„Aber ... Ich habe doch nichts getan.“

„Doch, du hast sehr viel getan.“

Ich starrte sie an und versuchte herauszufinden, wer die Frau, deren Gesicht verschleiert war, sein mochte. Ich wollte sie so vieles fragen und brachte doch kein Wort heraus. Nach allem, was ich erlebt hatte, fühlte ich mich in ihrer Gegenwart plötzlich ungelenk, kindisch und dumm. Sie strahlte etwas aus, das mich mit großer Ehrfurcht erfüllte, einem Gefühl, das ich noch nie in der Gegenwart eines Menschen empfunden hatte. „Wer … Wer sind Sie?“, stammelte ich dumm.

„Mein Name ist Iman.“

„Ich heiße Ellen“, stammelte ich.

„Ich weiß, Ellen. Geh nach Hause. Du wirst morgen gebraucht.“

Ich wandte mich zum Gehen. Iman stand unbeweglich da und sah mir nach.

Ich konnte dem Impuls nicht widerstehen, mich erneut zu der geheimnisvollen Fremden umzudrehen. „Werden wir uns wiedersehen?“, fragte ich ängstlich.

„Ja, Ellen. Das werden wir.“

Langsam und nachdenklich ging ich zurück zum Nothospital. Vor meinem inneren Auge wiederholten sich die Bilder des eben Erlebten wie ein Film, der mich in den tiefsten Tiefen meines Seins berührte. Ich sah die drei Gestalten, die sich lautlos und leicht bewegt hatten, sah die Verletzten und die Leidenden, die durch ihre Blicke und Berührungen Linderung erfahren hatten. Ich erinnerte mich an die heilige Atmosphäre, die das nächtliche Geschehen umgeben hatte, und suchte verzweifelt nach Worten, um sie für mich erklärbar, verständlich und greifbar zu machen. Noch erfüllte mich die Liebe, die ich dort in der Gegenwart der Fremden erfahren hatte, und schenkte mir Frieden. Wie war das möglich, dass ich im Angesicht des größten Leids, das ich je erlebt hatte, Frieden fand, fragte ich mich.

Irgendwann erreichte ich mein Zelt. Als ich im Bett lag, wich das Gefühl des inneren Friedens einem Gefühl der Aufregung. Und diese Aufregung wandelte sich erneut in die Angst, die ich beim Abschied von Iman empfunden hatte. Ich musste sie und die anderen unbedingt wiedersehen. Was wäre, wenn ich sie niemals wieder treffen würde? Wäre die Erfahrung dieser außergewöhnlichen Form der Liebe auf ewig für mich verloren?

Ishama

Подняться наверх