Читать книгу Nachdenken und vernetzen in Natur, Mensch, Gesellschaft (E-Book) - Dominik Helbling - Страница 20

1 Philosophieren mit Kindern

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Schülerinnen und Schülern stellen Lehrpersonen täglich Fragen, zuweilen sind diese sogar sehr tiefgründig und anspruchsvoll. Eine alltägliche Unterrichtssituation führt uns ins Thema ein.

Im Rahmen einer Lektionsreihe zu den Sinneswahrnehmungen des Menschen betrachten die Schülerinnen und Schüler einer fünften Klasse ein Schaubild vom Querschnitt eines Auges. Die Lehrperson erklärt, wie ein Auge aufgebaut ist und benennt dazu einige Bestandteile des Auges mit Begriffen, die sie in Form von Kärtchen auf das Bild legt: Lid, Hornhaut, Iris, Pupille, Linse, Netzhaut, Muskeln, Sehnerv. Sie sammelt die Kärtchen nochmals ein und die Schülerinnen und Schüler sollen sie nun an den richtigen Ort legen. Danach fragt die Lehrperson, ob sie dazu eine Frage hätten. Zwei Arme schnellen in die Höhe. Simone möchte wissen: «Wieso kommen einem Tränen, wenn man traurig ist?» Dragan wundert sich: «Wie kann ich sicher sein, dass ich und die anderen genau dasselbe sehen?»

Die Lehrperson ist etwas verdutzt. Sie antwortet: «Also, warum uns Tränen kommen, das weiss ich auch nicht recht, das ist einfach so, weil wir traurig sind. Ob wir alle das Gleiche sehen, kann man ja nicht wissen.» Simone und Dragan nicken verlegen, trauen sich nicht weiter zu fragen. Da ertönt die Schulglocke, die anzeigt, dass es nun 11:45 Uhr ist und alle zum Mittagessen gehen. Die Lehrperson ist froh, dass die Stunde um ist.

Wie hätten Sie in dieser Situation reagiert? Was finden Sie an der Reaktion der Lehrperson gelungen, was nicht? Welche Alternativen fänden Sie angemessen?

Verlegenheiten und Gelegenheiten. Oder: Wie gehen wir im Unterricht mit Fragen von Schülerinnen und Schülern um?

Diese oben beschriebene Situation ist tatsächlich so passiert. Analysiert man sie, so lässt sich festhalten:

•Die Schülerin und der Schüler haben sich über etwas gewundert, und sie haben daraus eine Frage formuliert. Sie waren offenbar am Gegenstand interessiert, wenn auch in anderer als in der erwarteten Weise.

•Die Lehrperson hat diese Fragen nicht erwartet und war entsprechend nicht darauf vorbereitet. Sie weicht aus und wiederholt die Aussage von Simone bzw. behauptet, dass man die Frage von Dragan nicht beantworten könne.

•Die Aktivität liegt allein bei der Lehrperson, obwohl sie keine kompetente Auskunft geben kann. Die Schülerinnen und Schüler werden nicht beteiligt.

•Die Schülerinnen und Schüler lernen, dass es auf alles eine Antwort gibt und dass gewisse Dinge vorgegeben sind, weshalb man gar nicht darüber nachzudenken braucht.

Die Lehrperson hat sich hier eine grosse Chance für sich und die Schülerinnen und Schüler vergeben. Was kann einem als Lehrperson Besseres passieren, als dass sich die Schülerinnen und Schüler für einen Gegenstand interessieren und Fragen dazu stellen? Hätte sie in dieser Situation auch noch anders reagieren können? Einige Möglichkeiten:

•Zugeben, dass sie sich die Frage auch noch nicht überlegt habe und darauf keine Antwort wisse und sich deshalb erst kundig machen müsse.

•Die beiden Fragen an die Tafel schreiben und mitteilen, dass sich die Klasse zu einem späteren Zeitpunkt darüber unterhalten werde.

•Die anderen Schülerinnen und Schüler fragen, ob sie noch weitere solche Fragen hätten.

•Simone beauftragen, sie solle in der Bibliothek ein Sachbuch besorgen und schauen, ob darin etwas zum Weinen stehe, oder im Internet recherchieren.

•Den Schülerinnen und Schülern und sich selbst die Hausaufgabe geben, über Dragans Frage nachzudenken.

•Ein Gespräch gestalten zu den gesammelten Fragen.

Lehrpersonen gehen unterschiedlich mit Fragen um, wobei sich zwei Formen beobachten lassen:[70]

Die Validierung: Wir sind überzeugt, dass es auf es jede Frage eine eindeutige Antwort geben muss. Dazu vereinfachen wir ein Problem, erfinden Antworten oder behaupten, dass etwas einfach «so ist, wie es ist». Als Lehrpersonen stehen wir sozusagen unter einem Validierungszwang, weil wir es als unsere Aufgabe erachten, Antworten zu geben. Was die Schülerinnen und Schüler dabei lernen: Auf alles gibt es vermeintlich eine Antwort und die Lehrperson weiss sie. Fragen lohnt sich daher nicht, Autoritäten wissen sowieso besser Bescheid, also lohnt sich auch das Nachdenken nicht.

Die Modalisierung: Das Gespräch wird geöffnet, man lässt mehrere Deutungsmöglichkeiten und konkurrierende Umgangsweisen zu. Die Schülerinnen und Schüler lernen dabei: Alles ist fragwürdig, oft gibt es keine eindeutigen oder sogar mehrere Antworten und wir denken gemeinsam nach.


Dass die Lehrperson im obigen Beispiel die Fragen sofort «validiert», ist kein Einzelfall. In der Schule wird häufig so getan, als ob die Rätsel der Welt gelöst seien. Dies ist ein grosser Irrtum, denn wir wissen längst noch nicht alles und es stellen sich uns immer wieder neue Fragen; was wir zu wissen glauben, ist vorläufig und zeitgebunden und bedarf deshalb immer wieder einer Überprüfung; es gibt Fragen, die nicht mit eindeutigem Wissen beantwortbar sind.

In der Schule werden die Schülerinnen und Schüler häufig mit dem Wissen der Erwachsenen belehrt. Wir hindern sie so daran, selbstständig nachzudenken. Eine solche Welt, die bereits vermessen und in der alles geklärt ist, ist zudem ziemlich langweilig. Das Philosophieren setzt genau hier an: Es hinterfragt alles und macht das Staunenswerte, Rätselhafte, Abgründige und Fragwürdige zum Mittelpunkt des Lernens. Wie das obenstehende Beispiel illustriert, gibt es bei fast allen Unterrichtsgegenständen solch staunenswerte, rätselhafte, abgründige und fragwürdige Aspekte. Damit wird Unterricht enttrivialisiert (trivial = unbedeutend, platt, abgedroschen) und trägt zur Vertiefung und Bereicherung fachlichen Lernens bei.[71] Es reagiert auf Fragen daher in der Form der Modalisierung. Damit werden folgende Signale gesetzt: Fragen sind erwünscht und notwendig, wenn man etwas wissen möchte; viele Dinge sind ungeklärt, das Nachdenken darüber lohnt sich; die Wirklichkeit ist vielschichtig, oft gibt es nicht nur eine einzige Perspektive auf einen Gegenstand. Fragen und miteinander nachdenken sind ein Akt und eine Schule der Freiheit. Die Schülerinnen und Schüler dürfen und sollen selbst und eigenständig nachdenken (lernen).

Wer nicht fragt, bleibt dumm. Oder: Wozu dienen Fragen?

Fragen sind demnach ein Antrieb, die Welt zu ergründen. Für den bedeutenden Kommunikationswissenschaftler Neil Postman gelten sie daher als bedeutsamstes intellektuelles Werkzeug, das Nachdenklichkeit, kritisches Denken, eine skeptische Haltung und Vernunftgebrauch fördert.[72]

Obwohl alle Fragen sprachlich die Funktion haben, etwas in Erfahrung zu bringen, gibt es dennoch unterschiedliche Arten von Fragen. Sie können systematisch-geplant oder unsystematisch-spontan gestellt werden; sie können sich mit einem spezifischen Ausschnitt der Wirklichkeit beschäftigen oder mit dem Grundsätzlichen. Um philosophische Fragen von anderen Fragen unterscheiden zu können, hilft uns das Denkmodell in Tabelle 1.


Alltagsfragen

Im Alltag stellen wir häufig Fragen, weil wir eine bestimmte Information benötigen: «Wo ist der nächste Bankomat?», wenn wir Geld brauchen. «Wann beginnt die Veranstaltung?», wenn wir zur rechten Zeit sein möchten. «Wer kommt zur Sommerparty?», wenn wir Geschirr und Stühle bereitstellen möchten. Diese Fragen stellen sich aus einem bestimmten Anlass heraus spontan und unsystematisch; sie sind jedoch zweckgerichtet und machen einen unmittelbar handlungsfähig. Wenn jemand weiss, wie viele Leute an der Party teilnehmen, kann er verlässlich planen. Der Wert der Antwort bemisst sich daran, ob sie nützlich oder nicht nützlich ist.

Kinderfragen

Dass Kinder früh damit beginnen, Fragen zu stellen, wissen alle, die schon einmal die bohrenden Warum-Fragen erlebt haben, die Kinder im Alter von vier oder fünf Jahren stellen. Diese haben die Funktion, vorgegebene Muster infrage zu stellen und sich selbst in der Welt orientieren zu können. Nicht die Vorgabe der Eltern zählt, sondern das eigene Verstehen. Kinder erleben die Welt als Ganzes, nicht in einzelne Teile gegliedert. Sie kommt ungeordnet und noch ohne erkennbare Regeln auf sie zu, sie erleben sie holistisch. Der Umgang mit der Welt führt einem vor Augen, dass sie Regeln hat. Zunächst entdecken Kinder, dass Gegenstände und lebendige Menschen zwei unterschiedliche Dinge sind. Sie wenden sich mehr den Menschen zu, weil sie eine Reaktion erhalten. Danach erleben sie Dinge unmittelbar, zum Beispiel beim Spiel im Sandkasten. Sie erfahren, dass man toll damit bauen kann, aber auch, dass er kratzt und nicht zum Essen geeignet ist. Mit der Zeit beginnen sie selbst Fragen zu stellen. Ging man früher davon aus, dass Kinder erst mit etwa zehn Jahren anfangen, systematisch zu denken, so weiss man heute, dass dies ein kontinuierlicher Prozess ist. Kinder machen sich selbst eine Vorstellung davon, wie die Welt «ist», verfügen also über eigene Konzepte und Konstrukte, um sich die Welt erklären und damit umgehen zu können. Mit ihren Fragen schaffen sie sich Ordnung, machen sich die Welt verständlich und bilden Zusammenhänge.[73]

Solche Fragen beziehen sich auf Dinge, über die sich ein Kind wundert. Beispiele für solche Fragen sind in Abbildung 2 dargestellt.

Die Antworten bringen Ordnung in das eigene Weltverstehen, stellen Zusammenhänge her und schaffen Orientierung. Sie erfüllen dann ihren Zweck, wenn sie in das bestehende Weltverstehen des Kindes integrierbar sind. Für Erwachsene sind viele Dinge ganz selbstverständlich geworden, über die sich ein Kind noch wundern kann. Dass Kinder mit diesen Fragen ernst genommen werden, ist für sie eine grundlegende Erfahrung, die für ihr Leben wichtig ist. Zuweilen stellen jedoch auch Jugendliche und Erwachsene solche Fragen. Wer schon einmal an einem Lagerfeuer mit Jugendlichen erlebt hat, wie sich für sie plötzlich alles zusammenzufügen scheint, kennt dieses Gefühl. Wer bei einem tiefen Gespräch mit Freundinnen oder Freunden die Zeit und alles um sich herum vergisst, meint, die Geheimnisse der Welt würden sich in diesem Augenblick offenbaren.


Wissenschaftliche Fragen

Die Wissenschaft hat zwei Antriebe: Sie möchte die Welt verstehen und sie möchte das menschliche Leben optimieren. Die Unwissenheit bildet dabei eine starke Motivation, denn Wissenschaft möchte die Welt erklären. All das, was interessant ist, hat eine Ursache, die verstanden werden möchte. Wissenschaft stellt Zusammenhänge her, objektiviert, weist die Reichweite und Gültigkeit einer Aussage aus. Erkenntnisse gelten so lange, bis sie widerlegt sind.

Dabei hat jede Wissenschaft ihr eigenes Erkenntnisinteresse und ihre eigenen Instrumente, um sich ihre Fragestellungen zu beantworten. Die verschiedenen Wissenschaften sind nicht gegeneinander auszuspielen, sind nicht ersetzbar. Sie sind eigenständige Modi der Welterschliessung.[74] Wenn man eine Maschine herstellen möchte, benötigt man dazu Mathematik, Physik und Ingenieurswissen. Bei der Frage, welche Sozialstrukturen Menschen in der Eiszeit gehabt haben, nützen diese Fähigkeiten jedoch wenig, man benötigt die Archäologie und die Geschichtswissenschaft dazu. Wenn wir umgekehrt eine Ortschaft effektiv vor Lawinen schützen wollen, dann benötigen wir Wissen über Wetter, Vegetation, Gefälle usw. Verfügen wir über hermeneutische Fähigkeiten, um den Hintergrund eines Romans zu verstehen, nützt uns dies dabei herzlich wenig.

Wissenschaftliche Fragen kümmern sich um einen ganz bestimmten, reduzierten Ausschnitt der Welt. Sie dienen dazu, ein ganz bestimmtes Problem aus einer fachlichen Perspektive zu verstehen, eine Lösung zu finden und diese zu beweisen.

Philosophische Fragen

Das Philosophieren setzt einen anderen Schwerpunkt. Es will ergründen und begründen. Weil viele Fragen nicht abschliessend beantwortet werden können, leistet es sich den Luxus, keine Antwort vorzugeben. Die Philosophie ergründet das Wesen einer Sache, geht daher umfassend darauf zu, bezieht dabei Erkenntnisse anderer Wissenschaften mit ein und sucht nach dem inneren Zusammenhang.

Philosophische Fragen entstehen dort, wo man sich wundert, wo etwas fragwürdig und geheimnisvoll ist. Sie zeichnen sich durch verschiedene Merkmale aus: Sie

•sind nicht eindeutig zu beantworten, sondern benötigen oft mehrere Perspektiven, weil sie sehr umfassend gestellt sind;

•ergründen das Wesen einer Sache, indem sie nach dem Ganzen oder nach dem Kern fragen, nicht allein nach einem bestimmten Ausschnitt;

•fragen nach Bedeutung und Sinn für den Menschen, die Gesellschaft, das Leben oder die Natur;

•sind ergebnisoffen, weil nicht bereits eine Antwort vorgegeben ist, weil es vielleicht Alternativen gibt.[75]

Viele philosophische Fragen entstammen Alltagserfahrungen; doch nicht jede Alltagsfrage führt zu einer philosophischen Frage. Auch stellen Kinder zuweilen sehr philosophische Fragen; dennoch wäre es vermessen, jede Kinderfrage als eine philosophische Frage zu bezeichnen.

In einem tabellarischen Überblick lassen sich diese Überlegungen zusammenfassen (siehe Tab. 2):

Tabelle 2Fragevarianten und ihre Merkmale
Gemeinsam ist allen Fragen, dass sie etwas in Erfahrung bringen wollen
AlltagsfrageKinderfrageWissenschaftliche FragePhilosophische Frage
Umfang und Zugangunsystematisch – spontan, ausschnitthaftunsystematisch – spontan, grundsätzlichsystematisch – geplant, ausschnitthaftsystematisch –geplant, grundsätzlich
ZielInformationOrientierungBeweisErgründen und Begründen
Funktion der Frageformuliert ein alltagspraktisches Anliegenformuliert ein Staunen und Wunderngrenzt ein bestimmtes wissenschaftliches Problem einhinterfragt ein Phänomen umfassend
Qualität der Fragehäufig eindeutig beantwortbarhäufig nicht eindeutig beantwortbarsollte eindeutig beantwortbar seinnicht eindeutig beantwortbar
Funktion der Antwortalltagspraktischer Nutzenbringt Ordnung ins eigene WeltverstehenLösung eines wissenschaftlichen Problemsbegreifen eines Phänomens
Qualität der Antwortnützlich oder nicht nützlichintegrierbar oder nicht integrierbarnachprüfbar, richtig oder falschbegründet oder nicht begründet

Der Welt auf den Grund gehen. Oder: Was ist Philosophieren?

Philosophie bedeutet «Liebe zur Weisheit», eine Philosophin ist eine «Freundin der Weisheit» (griech. philo = Freund, Liebe; sophia = Weisheit). Sie sammelt und systematisiert Wissen zu grundlegenden Fragen menschlicher Existenz, indem sie möglichst präzis und lückenlos denkt und die Grenzen dieses Denkens auslotet.

Man unterscheidet zwischen esoterischer und exoterischer Philosophie. Erstere beschäftigt sich damit, was Philosophinnen und Philosophen zu bestimmten Sachverhalten gesagt haben und wie damit etwas besser verständlich wird (Fachphilosophie). Letztere ist das eigene Philosophietreiben, das selbstständige Nachdenken (Alltagsphilosophie). Wenn von Philosophieren die Rede ist, ist dieser Prozess gemeint: das scheinbar Selbstverständliche nicht als selbstverständlich hinzunehmen, sondern es skeptisch und konsequent durchzudenken. Das Qualitätsmerkmal des Philosophierens ist nicht, ob eine Aussage richtig oder falsch, sondern schlüssig und lückenlos begründet ist statt widersprüchlich, lückenhaft und inkonsistent. In der Volksschule betreiben wir keine systematische Philosophiegeschichte, sondern philosophieren miteinander. Es geht also nicht etwa darum, ein Fach Philosophie einzurichten, worin es um Konzepte und Personen der Philosophiegeschichte geht. Die Wege des Philosophierens in der Volksschule werden vielmehr wie folgt beschrieben:

•Staunen: Es gibt den Anstoss zur Erforschung und zum Nachfragen;

•Fragen: Sie fokussieren, verlangen nach Klärung, nach Tatsachen, nach Verstehen;

•Nachdenken: bedeutet Klären, Unterscheiden, Gründe prüfen;

•Zweifeln: Indem wir zweifeln, stellen wir Aussagen infrage und nehmen das Vorgegebene nicht ungefragt hin. So gelangen wir zu tieferer Klärung;

•Weiterdenken: Es bedeutet, dass das Nachdenken unabgeschlossen ist, dass es immer wieder neue Aspekte zu entdecken gibt;

•Infragestellen: Man kann Erkenntnisse erweitern und Meinungen revidieren.[76]

Man kann sich diesen Prozess auch als Kreislauf vorstellen (siehe Abb. 3).


Nach dem bedeutenden Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) sind philosophische Fragen in vier Grundfragen zu bündeln: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Diese drei Fragen münden nach Kant in einer vierten: Was ist der Mensch? Diese Fragen lassen sich wie in Tabelle 3 dargestellt konkretisieren.[77]


Tabelle 3Philosophische Grundfragen nach Kant mit Beispielen
Grundfrage der PhilosophieDisziplinInteresse und Fragen
Was kann ich wissen?Epistemologie (Erkenntnislehre)Fragt nach dem Wahren, nach Umfang, Qualität, Zuverlässigkeit, Gewissheitsgrad und Erkenntnismethoden des Wissens. Z. B.: Kann man etwas mit Sicherheit wissen? Wie kommt man überhaupt zu Erkenntnis? Wo liegen die Grenzen menschlicher Erkenntnis? Nach welchen Regeln können wir Erkenntnis überprüfen? Wie können wir Wissen überhaupt ausdrücken? Ist Verständigung überhaupt möglich?
Was soll ich tun?Ethik (Moralphilosophie)Fragt nach dem Guten, dem Wohl des Menschen und seiner Umgebung und danach, ob man Moral, Gesetze und Konventionen sinnvoll begründen kann. Z. B.: Was ist Glück? Woran sollen wir unser Handeln ausrichten? Gibt es völlig verbindliche Normen und wie werden sie begründet? Was ist gut/böse, richtig/falsch? Ist der Mensch verantwortlich für sein Handeln? Ist der Mensch frei?
Was darf ich hoffen?ReligionsphilosophieFragt nach dem Sinnhaften, dem Sinn des Lebens, unseren Hoffnungen, Wünschen und Träumen, warum und wozu ich auf der Welt bin, was Zweck und Ziel menschlichen Daseins ist. Z. B.: Gibt es ein vorgezeichnetes Schicksal? Gibt es Gott und wie ist er zu denken? Was passiert nach dem Tod? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Was ist es, was die Welt im Innersten zusammenhält? Was ist Religion und woher bezieht sie ihre Inhalte und Praktiken?
Was ist der Mensch?AnthropologieFragt nach der Identität und dem Wesen des Menschen. Z. B.: Was macht den Menschen aus? Was macht ihn einzigartig? Wie unterscheidet er sich vom Tier? Ist der Mensch ein Kultur- oder ein Naturwesen? Wann beginnt menschliches Leben, wann hört es auf? Ist der Mensch ein Vernunft- oder Gefühlswesen?

Darüber hinaus gibt es philosophische Fragen, die sich nicht diesen Grundfragen zuordnen lassen oder mehrere dieser Grundfragen betreffen. Beispiele:

Die Ästhetik betreffend: Was ist schön? Macht Kunst uns zu besseren Menschen?

Die Geschichte betreffend: Was ist Zeit? Gibt es einen Fortschritt in der Geschichte? Was sind die treibenden Kräfte in der Geschichte?

Die Gesellschaft, die Politik betreffend: Was ist eine gerechte Gesellschaft? Was darf der Staat?

Die Natur betreffend: Hat die Natur einen Sinn? Hat sie Bewusstsein?

Die Welt ist fraglich und fragwürdig. Oder: Welche Anliegen hat das Philosophieren?

Philosophieren kann als Haltung, als Methode und als Inhalt beschrieben werden.[78]

Als Haltung Das Philosophieren mit Kindern geht von einer Welt aus, in der vieles fraglich und ungeklärt erscheint und deshalb fragwürdig ist, kurz: ungeklärte Sachverhalte sind würdig, befragt zu werden. Die Fraglichkeit und Fragwürdigkeit der Welt bilden daher den Ausgangspunkt des Philosophierens. Es weckt die Begeisterung dafür, dass sich Nachdenken lohnt.
Als Methode Das gemeinsame Nachdenken fördert den Aufbau von grundlegenden Kompetenzen. Indem es Fragen und Phänomene genau unter die Lupe nimmt und scheinbar Vorgegebenes hinterfragt, leitet es zu kritischer Urteilsbildung und zu lückenlosem Denken an.
Als InhaltWir haben philosophische Fragen oben als solche Frage beschrieben, die nicht eindeutig beantwortbar sind, die das Wesen einer Sache ergründen, die nach Bedeutung und Sinn fragen und die ergebnisoffen sind. Solch eine Frage kann auch als Thema für eine Unterrichtseinheit über einen längeren Zeitraum dienen.

Fragen erhöhen die Aufmerksamkeit und fördern vertieftes Verstehen. Umso erstaunlicher ist es, dass die Fragen der Schülerinnen und Schüler selten im Zentrum des Unterrichts stehen, vor allem wenn sie den Rahmen der Informationsfragen übersteigen. Vielmehr prägen die Fragen der Lehrperson den Unterricht. Empirische Untersuchungen belegen dagegen, dass regelmässiges Philosophieren im Sachunterricht die kognitive und sprachliche Entwicklung der Schülerinnen und Schüler fördert, Motivation und Konzentration erhöht, Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen aufbaut sowie das Sozial-/Gruppenverhalten und die Gesprächskultur verbessert. Aber auch das fachliche Verstehen wird durch das Philosophieren gefördert.[79]

Philosophieren bildet daher ein Unterrichtsprinzip, das folgende Anliegen hat.[80]

1. Erschliessung eines komplexen Welt- und Wirklichkeitsverständnisses

Jeglicher Unterricht ist dazu da, die komplexe Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu entschlüsseln und die subjektive von der objektiven Welt zu unterscheiden. Da die Wirklichkeit jedoch nicht aus einer einzigen Fachperspektive in ihrer Gesamtheit erschlossen werden kann, müssen unterschiedliche Perspektiven genutzt und miteinander in Verbindung gebracht werden. Das Philosophieren macht auf die Vielfalt verschiedener Denk- und Deutungsmöglichkeiten aufmerksam, nutzt deren Potenzial und integriert sie. Es ermöglicht, zwischen Perspektiven hin und her zu wechseln, Spannungen zwischen verschiedenen Perspektiven kenntlich zu machen und nicht vorschnell aufzulösen. Gleichzeitig lotet es die Grenzen der jeweiligen Perspektiven aus und macht auf sie aufmerksam. So kann beispielsweise ein naturwissenschaftliches Experiment nicht klären, ob Menschen Tiere töten dürfen oder nicht. Auf diese Weise werden Inhalte vertieft und vernetzt und der Unterricht bleibt sich selbst gegenüber kritisch. Mit der Verbindung von philosophischen mit fachlichen Fragen werden Unterricht und Welt enttrivialisiert, da die Komplexität der Wirklichkeit nicht vorschnell verengt und simplifiziert, sondern nach Bedeutung und Sinn gefragt wird.

2. Kultivierung einer Haltung des Nachdenkens und der Offenheit

Wie das Beispiel zum Auge am Anfang zeigt, braucht es von einer Lehrperson eine bestimmte Haltung, damit die Schülerinnen und Schüler das Fragenstellen nicht verlernen, sondern erlernen, ausbilden, kultivieren und verfeinern können. Dazu ist es nötig, dass Lehrpersonen Fragen zulassen, ja selbst eine fragende Haltung in den Unterricht mitbringen. Vermeintlich Vorgegebenes soll hinterfragt werden, man soll Unklares, Geheimnisvolles, Wunderliches benennen dürfen. Diese offene Haltung bedingt gleichzeitig, dass man Spannungen auszuhalten vermag, weil Fragen nicht immer sogleich beantwortet werden können. Es lohnt sich weiterzufragen und auch nach Bedeutung und Sinn eines Phänomens für Individuum und Gesellschaft zu fragen. Dadurch erhalten Schülerinnen und Schüler Distanz zu gesellschaftlich Vorgegebenem und üben das eigenständige Nachdenken und Urteilen. Indem nicht vorgegebenen Antworten vertraut wird, sondern man sich Zeit zum Nachdenken nimmt, wird der Unterricht entschleunigt.

3. Förderung einer demokratischen Gesprächskultur

Philosophieren kann man auch allein, zusammen macht es allerdings mehr Spass und erhöht die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler am Unterricht. Ausserdem sehen viele Augen mehr als nur zwei, viele Köpfe denken mehr als ein einzelner. Indem Schülerinnen und Schüler zusammen nachdenken, schaffen sie sich eine gemeinsame Welt, sie bereichern einander mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen und Wissensbeständen. Man nennt dies dialogisches und ko-konstruktives Lernen. Durch das gemeinsame Nachdenken erfahren Lehrpersonen gleichzeitig, welche Präkonzepte, also welches Vorwissen, welche Erfahrungen, welche Haltungen in einer Klasse vorhanden sind. Auf diese Weise werden Fragen, Vorstellungen und Weltdeutungen der Schülerinnen und Schüler kenntlich und berücksichtigt. Zugleich fördert dieses gemeinsame Nachdenken demokratisches Lernen. Der gemeinsame Erkenntnis- und Aushandlungsprozess sensibilisiert für subjektive Anliegen und Vorstellungen. Schülerinnen und Schüler müssen dabei aufeinander hören und einander ausreden lassen, versetzen sich ineinander. Auf diese Weise entwickeln sie Gesprächsfähigkeit und üben einen konstruktiven Umgang mit Verschiedenheit.

Ziele des Philosophierens. Oder: Was sollen Schülerinnen und Schüler lernen?

Ziele haben die didaktische Funktion, das Resultat des Unterrichts zu beschreiben. Heute werden sie meist als Kompetenzen ausgedrückt. Nach Ekkehard Martens[81] erlernen die Schülerinnen und Schüler elementare Kulturtechniken, die hier als fünf Kompetenzen umschrieben werden.

WahrnehmungsfähigkeitSie lernen, die Welt aufmerksam zu betrachten und zu beschreiben. Sie stellen Fragen, wo sie staunen, sich wundern und zweifeln. (Phänomenologie)
Reflexions- und UrteilsfähigkeitSie lernen, selbst präzise und lückenlos zu denken, zu fragen, zu zweifeln, weiterzudenken, etwas infrage zu stellen. Sie lernen Sachverhalte zu differenzieren. So lernen sie kritisch zu sein und vermeintlich Klares und Vorgegebenes zu hinterfragen. (Analytik)
Perspektivenbewusstsein und -wechselSie lernen verschiedene Perspektiven kennen und voneinander zu unterscheiden: fachliche, geschlechtsspezifische, kulturelle, subjektive Perspektiven. Sie nehmen die Eingeschränktheit und Grenzen von Perspektiven, Modellen und Antwortmustern wahr und können zwischen verschiedenen Perspektiven wechseln. (Hermeneutik)
Argumentations- und DiskussionsfähigkeitSie lernen ihre Gedanken zu formulieren, sie präzise und verständlich auszudrücken. Sie hören einander aufmerksam zu, trauen sich aber auch, Aussagen in Zweifel zu ziehen und über den Wahrheitsgehalt einer Aussage zu diskutieren. (Dialektik)
Partizipation und VerantwortungsübernahmeSie beteiligen sich am Denk- und Verstehensprozess und übernehmen Verantwortung für das Lernen. Indem sie kritisch denken lernen, lernen sie Verantwortung für sich und die Gesellschaft zu übernehmen und nicht alles als gegeben hinzunehmen. Sie fragen auch nach dem Wünschbaren gegenüber dem Vorgegebenen. (Spekulation)

Anlässe für ein philosophisches Gespräch. Oder: Wann philosophieren?

Im Unterricht gibt es unterschiedliche Anlässe für philosophische Gespräche.

Fragen von Schülerinnen und SchülernDie Kinder stellen im Unterricht manchmal ganz überraschend Fragen, die aufgegriffen werden können. Meist haben sie eine Erfahrung gemacht, die sie beschäftigt, oder sie staunen spontan über ein Wort, eine Situation usw. Z. B.: Eine Zweitklässlerin hob mitten in der Mathestunde die Hand und fragte, ob ihr Meerschweinchen im Himmel sei, es sei gestern gestorben. Der Fünftklässler sagt, er vertraue seinem Pony viel mehr als Menschen.
Situation in der KlasseUngeplante Begebenheiten in der Klasse können das Nachdenken über grundsätzliche Fragen des Lebens anstossen. Eine Gruppe fühlt sich ungerecht behandelt, weil sie den eigenen Auftrag weniger attraktiv findet als den Auftrag der anderen Gruppe. Daraus kann ein Gespräch entstehen, z. B.: Was ist gerecht? Eine Mitschülerin, die an einen anderen Ort zieht, kann Fragen auslösen wie: Warum sind wir nun traurig? Kann Freundschaft Distanzen überwinden? Wo ist «Zuhause»?
Philosophische Frage als UnterrichtsgegenstandEine philosophische Frage kann im Zentrum des Unterrichts stehen und ihm eine Richtung geben. Sie kann in mehreren Fächern bearbeitet werden. Z. B.: Wie kommen die Gedanken in unseren Kopf? Kann man immer gerecht sein? Was unterscheidet den Menschen vom Tier?
Philosophische Fragen im Zusammenhang mit UnterrichtsgegenständenBei ganz vielen Unterrichtsgegenständen in verschiedenen Fächern stellen sich philosophische Fragen. Z. B.: Wenn im Schulzimmer Küken aufgezogen werden, dann lässt sich darüber nachdenken, was zuerst war, das Huhn oder das Ei, und warum uns dies so interessiert. Wenn zu den Jahreszeiten gearbeitet wird, so lässt sich fragen, woher der Frühling weiss, dass er kommen soll. In den gestaltenden Fächern kann die Frage gestellt werden, ob uns Kunst zu besseren Menschen macht.
Nachdenken und vernetzen in Natur, Mensch, Gesellschaft (E-Book)

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