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2 Philosophieren in Natur, Mensch, Gesellschaft

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Philosophieren als Ziel im Lehrplan 21. Oder: Wie ist das Philosophieren gesellschaftlich legitimiert?

Im Lehrplan 21 bieten die überfachlichen Kompetenzen sowie der Lehrplan zu «Natur, Mensch, Gesellschaft» Orientierung in Bezug auf das Philosophieren im Unterricht. Die überfachlichen Kompetenzen werden in personale, soziale und methodische Kompetenzen unterschieden. Die personalen Kompetenzen umfassen Selbstreflexion, Selbstständigkeit und Eigenständigkeit.[82] Insbesondere die letzte Kategorie umfasst zahlreiche Kompetenzen, die auch das Philosophieren auszeichnen und die durch dieses erworben werden: sich eine Meinung bilden und vertreten, Argumente analysieren und abwägen, einen Standpunkt einnehmen und vertreten usw. Aber auch die Kooperationsfähigkeit und der Umgang mit Vielfalt, die unter die sozialen Kompetenzen fallen, oder die Sprachfähigkeit und die Problemlösefähigkeit werden durch das Philosophieren gefördert.

Der Lehrplan für «Natur, Mensch, Gesellschaft» weist im Kompetenzbereich 11, «Grunderfahrungen, Werte und Normen erkunden und reflektieren», die Fähigkeit zum Philosophieren als eigenständige Kompetenz aus: «Schülerinnen und Schüler können philosophische Fragen stellen und über sie nachdenken.»[83] Sie wird demselben Kompetenzbereich wie das Nachdenken über menschliche Grunderfahrungen und ethische Sachverhalte zugeordnet, da dies genuine Themen des philosophischen Nachdenkens sind. Darüber hinaus lassen sich in allen anderen Kompetenzbereichen Anknüpfungspunkte finden, wie weiter unten beschrieben wird.

Unter der Leitidee zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung werden darüber hinaus sieben fächerübergreifende Themen genannt, die neben einer Bearbeitung aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven auch eine gemeinsame Reflexion aus der Perspektive der Fraglichkeit und Fragwürdigkeit verlangen:[84]

Politik, Demokratie und Menschenrechte: Ist Demokratie für alle Menschen gut? Muss man Menschenrechte immer beachten? Braucht es Gesetze?

Natürliche Umwelt und Ressourcen: Warum sollen wir die Umwelt schützen, wenn wir doch nicht wissen, was in Zukunft geschieht?

Geschlechter und Gleichstellung: Was wäre, wenn es mehr als zwei Geschlechter gäbe? Sind wir verschieden oder sind wir gleich?

Gesundheit: Ist gesund = körperlich fit? Wann ist ein Mensch krank?

Globale Entwicklung und Frieden: Was braucht es, damit es Frieden gibt? Ist jeder Krieg falsch?

Kulturelle Identitäten und interkulturelle Verständigung: Was können wir von anderen Kulturen und Gesellschaften lernen? Müssen wir alles respektieren, was uns fremd ist? Was ist Heimat?

Wirtschaft und Konsum: Wo liegen die Grenzen des Wachstums? Wird man durch Kaufen glücklich?

Viele dieser oder ähnlicher Fragen sind auch im nächsten Abschnitt unter den fachlichen Perspektiven zu finden. Dies zeigt, dass diese sieben fächerübergreifenden Themen starke Bezüge zum Fach Natur, Mensch, Gesellschaft aufweisen, obwohl sie auch für andere Fächer relevant sind.

Durch den Lehrplan erhält das Philosophieren im Unterricht eine gesellschaftliche Legitimation. Dies heisst umgekehrt, dass die Schule den Auftrag hat, Schülerinnen und Schüler in das Philosophieren einzuführen, es mit ihnen zu üben und im Unterricht stetig zu praktizieren.

Philosophieren im Fach Natur, Mensch, Gesellschaft

Grundsätzlich gibt es in allen Fächern philosophische Fragen und das Philosophieren kann in allen Fächern gewinnbringend praktiziert werden. Es bildet einen geeigneten Zugang zu den Zielen und Inhalten des Lehrplans für «Natur, Mensch, Gesellschaft», damit Schülerinnen und Schüler befähigt werden, selbstständig, kritisch und kreativ zu denken. Dabei geht es nicht darum, Wissenschaft und Philosophieren gegeneinander auszuspielen, sondern gewinnbringend zueinander in Beziehung zu setzen. Man kann sich dies wie ein Schachbrett vorstellen, auf dem die verschiedenfarbigen Felder einander zum Leuchten bringen. Das Schachspiel funktioniert indes nur, wenn das Brett in dunkle und helle Felder unterteilt ist. Die hellen Felder des disziplinären Wissens und seiner Methoden zeigen, dass die Welt in vielem verstanden werden kann, dass sie nicht ein chaotisches Ungetüm ist. Sie durchbrechen eine naive Geheimniskrämerei. Die dunklen Felder des philosophischen Ergründens zeigen, dass mit den Wissenschaften nicht alles geklärt werden kann. Sie durchbrechen eine naive Wissenschaftsgläubigkeit.

Für diesen Prozess wurde von Johannes Jung der Begriff «Echolot-Didaktik» vorgeschlagen.[85] Gemeint ist ein stetiges Ausschauhalten nach und Nachfragen bei Unklarheiten, Widersprüchen und Irritationen im wissenschaftlichen Unterricht. In den vier Perspektiven des Fachbereichs Natur, Mensch, Gesellschaft lassen sich mit dem «Echolot» zahlreiche philosophische Fragen[86] aufspüren, die hier entlang der philosophischen Grundfragen nach Kant geordnet sind und keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit haben, was dem Philosophieren sowieso widersprechen würde.

Beispiele für «Räume, Zeiten, Gesellschaften»

WissenWas können wir über die Vergangenheit wissen und was nützt uns dieses Wissen? Was ist überhaupt Vergangenheit, was ist Gegenwart und was ist Zukunft? Macht uns Reisen klüger?
TunDarf man Bergbahnen bauen, damit wir Skifahren können? Was ist eine gerechte Gesellschaft?
HoffenGibt es eine perfekte Gesellschaft?
MenschWie wäre es, in einem anderen Land geboren zu sein? Wäre ich dieselbe Person? Worin unterscheiden sich Menschen aus anderen Ländern? Worin sind sie gleich? Sind manche Völker besser als andere?
Weitere BeispieleIst es möglich, in die Vergangenheit zu reisen? Was würden wir dort tun wollen? Was ist Zeit? Was ist Veränderung? Wo ist das Gestern hin? Was wäre, wenn die Erde würfel- statt kugelförmig wäre? Gibt es Leben auf anderen Planeten? Was wäre, wenn Ausserirdische auf die Erde kämen?

Beispiele für «Natur und Technik»

WissenKönnen Computer und Roboter denken? Wie sieht die Welt für ein Tier aus? Haben Pflanzen Gefühle? Können wir die Welt vollständig wahrnehmen mit unseren Sinnen? Sehen alle dasselbe? Wenn jemand an einem Sommerabend friert und jemand anderer schwitzt, wie kann man dann wissen, ob es warm oder kalt ist? Kann man auf einem Foto alles erkennen? Was bleibt verborgen? Warum gibt es verschiedene Lebewesen? Warum hat das Haus in meinem Auge Platz?
TunDarf man jede Maschine bauen, die man bauen kann? Können Pflanzen glücklich sein, können sich Fische freuen? Wie sollten wir mit Pflanzen und Tieren umgehen? Darf man Bäume fällen?
HoffenKönnen wir durch Naturwissenschaft alles erklären? Kann uns die Natur sagen, wie wir leben sollen? Warum leben wir nicht ewig? Oder gibt es ewiges Leben? Woher kommt das Universum?
MenschIst das Leben durch Technik besser geworden? Was wäre, wenn man Menschen künstlich herstellen könnte? Ist ein Mensch, dem man ein Organ transplantiert hat, noch derselbe Mensch? Braucht der Mensch die Natur? Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Warum sind Frauen und Männer anders? Worin sind sie gleich? Tut alt werden weh?
Weitere BeispieleWas ist Natur? Wer definiert das? Was ist lebendig? Bestimmt der Mensch über die Natur oder bestimmt die Natur über den Menschen? Wie wäre es, wenn Tiere und Pflanzen dieselben Rechte hätten wie Menschen?

Beispiele für «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt»

WissenWie können wir wissen, was gut für uns ist? Wie hat der Mensch eigentlich herausgefunden, was man essen kann? Warum soll es so klar sein, dass Männer arbeiten und Frauen Kinder erziehen?
TunWie billig darf ein T-Shirt sein? Darf man Tiere schlachten? Wie soll man Tiere halten? Wer bestimmt, wer viel oder wenig verdient, und ist das gerecht?
HoffenIst gesund leben eine neue Religion? Werden wir durch Konsum selig?
MenschIst der Mensch, was er isst? Warum finden manche Menschen Insekten köstlich und andere ekeln sich davor? Machen Kleider Leute? Warum sammeln Menschen Dinge? Brauchen wir Freizeit und Ferien?
Weitere BeispieleKann man alles haben? Warum wollen wir nicht nur genügend, sondern auch lecker essen? Spielt es eine Rolle, ob Essen schön angerichtet ist oder nicht?

Beispiele für «Ethik, Religionen, Gemeinschaft»

WissenWie weiss ich, dass ich «ich» bin? Können wir wissen, was nach dem Tod geschieht? Warum gibt es unterschiedliche Religionen? Wie kann man weise werden? Wie kann man Traum und Wirklichkeit unterscheiden? Was sind Gefühle? Woher kommt die Angst? Kann man Gott beweisen?
TunWas ist Gerechtigkeit? Soll man immer die Wahrheit sagen? Warum funktionieren Lügen nicht immer? Wozu braucht man Regeln und Gesetze? Geht es auch ohne sie?
HoffenWas geschieht nach dem Tod? Was sind Träume und wozu brauchen wir sie? Ist Liebe das Wichtigste im Leben? Was ist der Sinn des Lebens?
MenschWer bin ich und was macht mich aus? Was darf man bei einem Menschen nicht verändern, damit er der gleiche Mensch bleibt? Brauchen Menschen eine Religion? Wie wäre es, jemand anderes zu sein? Warum gibt es gute und böse Menschen? Warum gibt es Krieg? Warum glauben Menschen an Gott?
Weitere BeispieleWas ist Freundschaft? Kann man zwischen Irrtum und Lüge eindeutig unterscheiden? Gibt es Engel? Warum feiern Menschen Feste?

Mit Philosophieren bildungsrelevante Unterrichtsgegenstände formulieren

Eine solche philosophische Frage kann als Thema einer Unterrichtseinheit für «Natur, Mensch, Gesellschaft» gewählt werden. Sie dient sowohl der Perspektivenintegration als auch dem Nachdenken auf der Metaebene.

Beispiel: Macht uns Reisen klug?

Stellen Sie sich vor, Sie unterrichten eine sechste Klasse. Vor den Sommerferien haben Sie eine Schulreise unternommen, bei der Sie eine besonders artenreiche Auenlandschaft besucht haben, was Sie stimmig ins Unterrichtsthema «Warum sollten wir die Natur schützen?» (übrigens eine philosophische Frage) einbinden konnten. In den Ferien sind einige Schülerinnen und Schüler verreist, andere sind zu Hause geblieben. Sie selbst waren ebenfalls auf einer Reise und haben umfangreiches Dokumentationsmaterial erstellt. Diese drei Anlässe nehmen Sie als Ankerpunkte für folgende unterrichtsleitende Frage: Macht uns Reisen klug?

Entlang dieser Frage können Sie zahlreiche Aspekte erarbeiten:

•von Ferienerlebnissen erzählen und menschliche Grunderfahrungen wie Erholungsbedarf, Neugierde, Langeweile usw. festhalten (NMG.11.1);

•Berufe im Tourismus (kundige Führerin einer Sehenswürdigkeit, Hotelrezeptionist, Carchauffeurin, Bergbahnangestellter, Reiseführerautorin) (NMG.6.2);

•Bedürfnisse, die hinter Urlaub und Reise stehen, ergründen und Reisen als Konsumgut wahrnehmen (NMG.6.5 und 7.3);

•Lebensweisen zu Hause und an anderen Orten vergleichen (NMG.7.1 und 7.2);

•die Nutzung von Orten, Landschaften usw. durch den Tourismus betrachten (NMG.8.2);

•ferne und nahe Orte unterscheiden und Hilfsmittel wie Globus und Karten verwenden (NMG.8.4);

•ethische Aspekte des Tourismus verhandeln wie Umweltbelastung, wirtschaftlichen Nutzen, kulturelle Bereicherung, sozialen Austausch (NMG.11.4);

•über die Frage nachdenken, ob Reisen klug mache (NMG.11.2).

Eine solche umfassende Zugangsweise befördert das Staunen und Wundern, nimmt ungeklärte Fragen ernst und gibt sich nicht mit dem Vorgegebenen zufrieden, verbindet verschiedene Perspektiven und lotet deren Grenzen aus (weil nicht eine allein diese Frage beantworten kann).

Nachdenken und vernetzen in Natur, Mensch, Gesellschaft (E-Book)

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