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MYTHEN, GÖTTER, MENSCHENWEGE

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Ein großer Teil dessen, was ich aus den 24 Sinnzeichen des ältesten germanischen Runensystems herauslese, mag wissenschaftlich nicht belegbar sein. Gesichert ist dies: Nur etwas mehr als ein Fünftel aller historischen Runeninschriften lässt sich dem Älteren Futhark zuordnen – dass es sich dabei überhaupt um ein System handelt, ist gerade mal durch eine Handvoll Funde belegt. Nur diese wenigen zeigen ein jeweils komplettes Älteres Futhark: mal mit der Rune Othala, mal mit Dagaz am Ende. Die ansonsten feste Reihenfolge der Zeichen muss (unter Runenkundigen) verbindlich gewesen sein, denn an ihr orientiert sich eine bestimmte Art von Runenverschlüsselung aus derselben Ära, die sich nur über die entsprechende Kenntnis entziffern lässt.

Ideenstiftend für die Runen waren höchstwahrscheinlich italische, etruskische sowie phönizische Alphabete. Unbekannt ist, wie sie aus dem mediterranen in den skandinavischen Raum gelangten. Wahrscheinlich waren Reisende aus dem Norden einfach davon begeistert, dass die Leute im Süden miteinander sprechen konnten, ohne dabei selbst anwesend sein zu müssen – Zauber der Schrift! Die Reihenfolge der nordischen Adaption wurde eine eigenständige, nur die Benennung erfolgte wie beim Alphabet, dem ABC, nach der Anlautfolge der jeweiligen Eingangszeichen. Bei Runensystemen: F-U-TH-A-R-K (Fehu, Uruz, Thurisaz, Ansuz, Raidho und Kenaz). Deswegen heißen typische Runensysteme „Futhark“.

Obwohl es sich nicht belegen lässt, ist es wahrscheinlich, dass Runen zunächst in Holz geritzt wurden: So erklärt sich die Abwesenheit waagrechter Striche. Gegen die Maserung geritzt, werden senkrechte und schräge am besten sichtbar: Ausschließlich aus solchen besteht das Ältere Futhark. Die ältesten Funde zeigen allerdings nur wenige Zeichen, die obendrein sehr krakelig ausgeführt sind – so sehr, dass bei manchen noch strittig ist, ob es sich dabei überhaupt schon um Runen handelt, also um Zeichen eines bereits bestehenden Älteren Futhark, oder nur um ungelenke Einkerbungen, deren mögliche Bedeutung dann noch viel unklarer wäre.

Das Ältere Futhark war vom zweiten bis zum achten Jh. in Gebrauch – das ist die Zeit, aus der es entsprechende Funde belegen. Die gemeingermanischen Namen seiner 24 Zeichen sind uns aus erst viel später entstandenen Liedtexten bekannt, von denen sich nur Abschriften aus bereits mittelalterlicher Zeit erhielten, die schon lang keine heidnische mehr war. Dennoch ergibt sich auch bei kritischer Lesart ein erstaunlich harmonisches, in sich sehr stimmiges Bild. Dieses musste allerdings erst von weltanschaulich beeinflussten Interpretationen deutscher Runenforschung bereinigt werden, die ihre nationalromantischen Wurzeln nicht verleugnen kann (und damit meine ich noch keineswegs die Auswüchse gezielten Missbrauchs durch die Nazis, deren Vordenker wie heutige Nachbeter. Davon sei später die Rede).

Umso interessanter jedoch, was uns gerade das Ältere Futhark eröffnet. Ob es tatsächlich ein raffinierter Algorithmus war, der alle wichtigen Parameter für ein harmonisches Miteinander überschaubarer Sozialgemeinschaften enthält, sei dahingestellt. Das muss keineswegs so gewesen sein – aber es lässt sich so anwenden. In dieser Hinsicht erscheint es mir nahezu einzigartig. (Aber dies mag meiner Begeisterung darüber geschuldet sein. Ich bin da sicher befangen – und erhebe weder Anspruch auf Deutungshoheit noch auf die Verallgemeinerung meiner Ansichten. Im Gegenteil: Zu Diskurs will ich anregen.)

Historisch lässt sich von ca. 200 vor bis ca. 1100 nach Christus von germanischen Kulturen sprechen: von der ersten römischen Erwähnung germanischer Stämme – der Skiren und Bataver – über die folgenden Jh.e der Völkerwanderung und ihrer Wirren bis zur endgültigen Assimilierung letzter germanischer Stammesgemeinschaften in Königreiche, die inzwischen wesentliche Teile des römischen Rechtssystems übernommen hatten. (Der Einfluss christlicher Strömungen auf germanische Kulturen hatte bereits im frühen 4. Jh. begonnen und sich von da an zunehmend ausgebreitet: dies meist wesentlich friedlicher als in neuheidnischen Kreisen unserer Tage gern beargwöhnt und vermutet wird. Die meisten germanischen Stämme aus der Völkerwanderungszeit sind uns überhaupt nur als christlich überliefert – wenn auch vorwiegend der arianischen Glaubensrichtung angehörig, die erst später dem katholischen Alleingeltungsanspruch unterlag und verschwand.)

Was es über germanische Kulturen zu lesen gibt, stammt nicht aus diesen selber. Sie gelten als schriftlos. Der Gebrauch von Runen war Eingeweihten vorbehalten, so genannten Erilar (Runenkundigen). Wer nicht zu diesen zählte, konnte die Zeichen höchstwahrscheinlich nicht entziffern, geschweige denn selber setzen. Neben dem Älteren Futhark und dem – deutlich später entwickelten – Jüngeren entstanden im Lauf der Zeit noch etliche weitere Runensysteme: das Friesische Futhark, das Angelsächsische Futhark und andere. Die Bedeutung einer allgemein verbreiteten Schreibschrift erlangten sie nie. Die Überlieferung innerhalb der Stämme war und blieb mündlich. Die frühesten (erhaltenen) Runen wurden auf Alltagsgegenständen wie Kämmen oder Schemeln angebracht – und bezeichnen meist nur den Gegenstand selbst. Andere, ähnlich knapp gehaltene Zeichenfolgen aus der Ära des Älteren Futhark ergeben überhaupt keinen nachvollziehbaren Sinn, was nahelegt, dass diese frühen Inschriften magisch intendiert gewesen sein mögen. Sie fanden sich auf Knochen, Waffen, Rüstungsteilen und Haushaltsgegenständen, später auch auf Münzen und Medaillen (so genannten Brakteaten) wieder.

Erst die Wikinger hinterließen uns aus den 300 Jahren ihrer europaweiten Seefahrten, Handels- und Eroberungszüge (vom 8. bis zum 11. Jh.) etliche tausend Gedenksteine (verteilt über weite Teile Europas, die meisten jedoch im skandinavischen Raum). Deren Botschaften beschränken sich auf das Festhalten von Einzelereignissen wie Schiffsunglücke oder Jagderfolge – in wenigen dürren Sätzen, die kaum Rückschlüsse auf Zusammenhänge zulassen. Oft besteht mehr als ein Drittel des Textes aus dem „Impressum“: der Mitteilung, welche namhafte Fachkraft die jeweiligen Runen eigenhändig auf dem Stein anbrachte und wer die Arbeit in Auftrag gab (nicht selten waren das Frauen). Ein paar späte, wortreicher geratene Ausnahmen feiern den Beitritt des jeweiligen Stammes zum Christentum…

Die Wikinger benutzten ein auf 16 Zeichen reduziertes Runensystem, das sogenannte Jüngere Futhark. Es ist mit über 6.000 historischen Funden das mit Abstand verbreitetste gewesen. Warum das Ältere (von dem nur ca. 350 Funde künden) so plötzlich verschwand, ist ebenso unbekannt wie der Grund für die erst hundert Jahre spätere Entstehung des Jüngeren und dessen Reduktion auf nur noch 16 Zeichen. (Ich traf mal einen britischen Kenner dieses Systems, der mir – soweit nachvollziehbar – seine Vermutung nahebrachte, die Wikinger hätten halt diejenigen älteren Runen weggelassen, für die sie – als Seefahrer – keine Verwendung mehr hatten. Was zu meiner Auffassung von Runen als hauptsächliche Sinnzeichen passt, denen eine komplexere Bedeutung innewohnt als einem bloßen Buchstabensystem – aber das ist natürlich nicht belegbar.)

Lassen wir die wenig beredten Runeninschriften allesamt – sowie die wenigen lateinischen Buchstaben aus germanischer Hand (wie z.B. die rätselhafte Ein-Wort-Kritzelei „Harigasti III Il.“ auf dem „Helm von Negau“ als älteste germanische Inschrift überhaupt) – beiseite: Alle uns erhalten gebliebenen schriftlichen Aufzeichnungen, die von germanischen Kulturen künden, stammen von Außenstehenden – die größtenteils nicht einmal Zeitzeugen waren.

Die Edda, die reichhaltigste Niederschrift nordischer Götter- und Heldensagen, entstand im 13. Jh. auf Island – das um diese Zeit schon 300 Jahre lang christlich war. Der Verfasser Snorri Sturluson bediente sich der alten Geschichten nach Gutdünken – wir wissen nicht, was er weggelassen, abgewandelt, zusammengefasst, gekürzt oder dazuerfunden hat. Sicher ist, dass er nicht vorhatte, heidnische Überlieferungen möglichst authentisch zu erhalten. Ihm ging es darum, die Kunst der Skaldik zu vermitteln, die damals angesagte Form höfischer Dichtung. Dafür nahm er alte Erzählungen über halb vergessene Götter (denen längst niemand mehr ernstlich huldigte) als Textmaterial und schmiedete daraus die uns erhaltenen altnordischen Verse. Entsprechend hochmittelalterlich geprägt ist das darin gespiegelte Gesellschaftsbild, wenn auch heidnische Vorstellungen früherer Zeiten mit eingeflossen sein dürften. Historisch zuverlässig bringt da aber niemand mehr die Milch aus der Melange. Viele – heute als „typisch germanisch“ geltende – Phänomene sind nur bei Snorri erwähnt oder auf seine Schriften zurückzuführen – und sonst nirgends belegbar. Dazu gehört zum Beispiel die Einteilung der Götter in „Asen“ und „Vanen“ oder die Beschreibung des Weltenbaums Yggdrasil mit seinen „neun Welten“. Ebenfalls finden sich etliche in der Edda erwähnte Gottheiten – wie zum Beispiel Heimdall – so gut wie nur dort. Die Inschrift einer englischen Spindel aus dem achten Jahrhundert nennt zwar (unter anderem) möglicherweise auch Heimdalls Namen, die Deutung bleibt jedoch spekulativ. Mit Sicherheit lässt sich daher nicht sagen, ob dieser Gott je wirklich von Angehörigen germanischer Kulturen verehrt wurde – auch wenn gerade die offensichtlichen Lücken in den literarischen Quellen dies wahrscheinlich machen (weil sie auf ältere Teile des Mythos schließen lassen, die verloren sind), beweisbar ist es bislang nicht. Etliche andere – von der Archäologie eindeutig als germanisch recherchierte – Gottheiten wiederum finden bei Snorri keine Erwähnung. Entsprechend unbekannt blieben Göttinnen wie Tamfana oder Baduhenna. Auch die uns überlieferten Sagas, ebenfalls altnordische Nacherzählungen, wurden erst in christlicher Zeit aufgeschrieben.

Der römische Gelehrte Tacitus, der im ersten Jh. lebte und dessen Ethnografie „Germania“ zu den wenigen aus der Antike verbliebenen Aufzeichnungen über germanische Kultur gehört, hat die nördlichen Landstriche, deren Bewohner er beschrieb, selbst nie betreten. Er zeichnete das Bild der „edlen Wilden“: Unverkennbar wollte er seinem Publikum – der von ihm als „dekadent“ empfundenen römischen Stadtbevölkerung – eine Moralpredigt halten. Was von seinen Schilderungen auf (ohnedies nur abgelauschten) Tatsachen beruhte und was mehr oder minder frei erfunden war, bleibt offen.

Für uns ist und bleibt ganz wichtig, jeden Text, der etwas über germanische Kulturen zu erzählen hat, kritisch zu überprüfen: Wo kommt das her, wer hat das verfasst, woher haben die, die das verfasst haben, ihre Kenntnisse (sind die Quellen glaubwürdig oder im Zweifelsfall nachprüfbar?) – und wovon will der Text uns überzeugen und warum. Das klingt nicht nur mühsam, das kann wirklich in Arbeit ausarten. Aber wer nicht irgendeinem falschen Mythos oder richtig platten Lügen aufsitzen will, kommt nur so der Wahrheit näher. Der ideologische Missbrauch hinterließ nicht etwa Spuren, er hält den ganzen Themenkomplex nach wie vor in Acht und Bann. Die Befreiung davon kann nur schritt- und stückweise erfolgen, manchmal nur im Tempo und mit der Vorsicht archäologischer Pinselstriche. Denn es sind ja nicht immer nur bewusst gesetzte Ideologeme, womit die Deutungen durchdrungen sind, sondern auch unreflektierte und subtiler vermittelte bürgerliche Vorurteile (woher die wiederum stammen und was sie befördert und aufrechterhält, wäre ein Extrathema, das den Rahmen des vorliegenden Buches sprengt).

Bei dieser Gelegenheit sei auf das Beispiel einer berühmten Moorleiche hingewiesen. Seit den 50er Jahren des 20. Jh. geisterte der Fund als „Mädchen von Windeby“ durch die Presse und wurde allgemein als „hingerichtete Ehebrecherin“ gedeutet: aufgrund ihrer in „obszöner Geste“ geballten Faust. Diese erwies sich jedoch zwischenzeitlich als Irrtum: Der Daumen war nie zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt gewesen. Das hatte nur auf dem ersten Foto so ausgesehen – und das war halt wieder und wieder so abgedruckt worden. Ein halbes Jh. hindurch bezweifelte kein Mensch die „eindeutige“ Botschaft. Aber es kommt noch besser: Das (aus welchen Gründen auch immer im Moor versenkt gewesene) Mädchen ist, wie sich inzwischen herausstellte, in Wahrheit ein Junge. Soviel zu bürgerlich-moralischen Interpretationen germanischer Kultur…!

Wer waren „die Germanen“ nun überhaupt? Die Bezeichnung selbst ist ein propagandistischer Kunstgriff – eine Art antiker Werbeslogan. Sein Schöpfer: Gaius Julius Caesar. Der römische Feldherr hatte Mitte des letzten vorchristlichen Jh.s (ca. 58 bis 50 v. Chr.) zahlreiche gallische Stämme unterworfen. Um das für die Fortführung seiner Feldzüge erforderliche Geld vom römischen Senat bewilligt zu bekommen, war eine überzeugende Erfolgsmeldung nötig. Was hätte besser gewirkt, als „ganz Gallien erobert“ melden zu können? Dafür legte Caesar den Rhein als Grenze fest – und bezeichnete alle jenseits des Ostufers lebenden Stämme kurzerhand als „Germanen“.

Den meisten der so Benannten dürfte der Sammelbegriff unvertraut geblieben sein (wie uns dessen Herkunft: Die lange kolportierte Annahme, wenigstens ein Stamm sich so nennender „Speer-Mannen“ habe für die, dann verallgemeinerte, Namensgebung „Germanen“ Pate gestanden, erwies sich als nicht haltbar). In den rheinöstlichen Wäldern und Sümpfen siedelten Stammesgemeinschaften oder zogen nomadisch herum. Germanische Stämme jener Zeit waren in erster Linie Personengefolgschaften. Sie mögen bestimmte Gebiete für sich beansprucht haben, definierten sich aber nicht über Territorialgrenzen, sondern über personelle Zugehörigkeiten. Die richteten sich nach Verwandtschaft – aber nicht nur. Die Abstammungsmythen bezogen sich auch auf Götter und wer sich den einen nicht mehr zugehörig fühlen mochte, wechselte nicht selten die Gemeinschaft samt (spiritueller) Herkunft: um fortan von den dort bevorzugten Gottheiten mit „abzustammen“. Die massenhafte Aufnahme von Personen ganz anderer und unterschiedlichster Herkunft ist speziell für einen europaweiten Wanderzug von Goten belegt (im so genannten „gotischen Rückstromhorizont“: als binnen kaum einer Generation die Kopfzahl des betreffendes Zuges von hundert bis maximal einhundertfünfzig Leuten auf über dreitausend anschwoll, die sich fortan alle als Goten bezeichneten und die handwerklichen und künstlerischen Merkmale der betreffenden Kultur übernahmen und weiterentwickelten; was wiederum von den daheimgebliebenen Gotenstämmen noch in derselben Generation detailgetreu kopiert wurde).

Insgesamt gilt: Vor allem von den Bildern angeblichen „Germanentums“, die nationalsozialistische Propaganda bis heute in den Köpfen hinterließ, dürfen wir uns getrost und gründlich verabschieden. Stämme verbündeten sich, gingen zuweilen ineinander über oder trennten sich wieder. Sie behaupteten, Abstammungsgemeinschaften zu sein, was sie nachweislich nicht waren und sich nur über spirituelle Auffassungen erklären lässt (auch wenn wir von denen en détail wenig wissen). Ein über jeweilige Stammeszugehörigkeiten hinausgehendes Bindungsgefühl gab es nicht: Die Stämme bekriegten und befehdeten sich untereinander häufig und unüberschaubar. Es gab keine „vereinigten Stämme von Germanien“, kein „germanisches Volk“ – und keinerlei entsprechendes Bewusstsein. In jedem erdenklichen Sinn gilt: Mit Stammeskulturen ist kein Staat zu machen. Die frühmittelalterlichen Reichsbildungen lassen sich nicht mehr als germanische Kulturen bezeichnen. Sie beerbten – mit der Übernahme einer zentralistisch organisierten Religion und, wesentlicher, dem damit staatstragend verknüpften römischen Rechtssystem – das römische Imperium: seine maroden Reste, aus denen sich das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ entwickeln sollte. Die letzten beiden Worte des Begriffs sind irreführend: Die erste „deutsche Nation“ in neuzeitlichem Sinn entstand – lange nach Frankreich, England, Spanien und anderen europäischen Nationalstaaten – erst 1871 mit dem Zusammenschluss der Großherzogtümer Hessen und Baden und der Königreiche Württemberg und Bayern zum „Deutschen Bund“. Die antike Herkunft suggerierende Gleichsetzung neuzeitlicher Franzosen mit antiken „Kelten“ entstammt – ebenso wie deutsche Ansprüche auf „Germanen“ – ausschließlich nationalstaatlicher Propaganda und hat mit den bis dahin schon lange untergegangenen vor- und frühchristlichen Kulturen von Kelten und Germanen nichts zu tun. Im Gegenteil verstellt sie bis heute das Bild auf diese. Nationalromantische Dünkel ziehen sich auch erkennbar durch die deutsche Runenforschung, die in mancher Hinsicht erst dadurch ihren Anfang nahm. Das diskreditiert nicht neuere Forschungen und nötige Korrekturen – es ist nur wichtig zu wissen. Kritisches Lesen absolut jeder Quelle samt ihrer Überprüfung ist grundsätzlich angebracht.

Meine eigene Beschäftigung mit den Runen und ihrer Kultur brachte mir die dahinterstehenden Gottheiten näher, als ich sie zunächst haben wollte… und mündete nach Jahren dann doch in meinen persönlichen Bund mit ihnen. Seitdem kam es zu einer dynamischen Wechselwirkung zwischen dem, was ich aus literarischen und archäologischen Quellen ziehen konnte, und dem, was ich als ideologische Missdeutung oder gar Missbrauch aussortieren musste. Am schwierigsten sind natürlich die persönlichen Anteile zu schildern: jene Auffassungen, die meinen eigenen – höchst subjektiven – Erfahrungen entwuchsen. Diese kann ich hier unmöglich aussparen – und möchte daher betonen, dass sie so wenig verallgemeinerbar sind wie eine eigene Handschrift, ein persönlicher Stil oder eben ein Glaubensgebäude. Was immer ich aus Letzterem vorstelle, dient ausschließlich als Beispiel – und will anregen, das eigene spirituelle Weltbild damit zu erweitern oder zu ergänzen oder, im Bedarfsfall, sich überhaupt ein eigenes zu schaffen.

Für mich sind alle Gottheiten der Welt wahrhaftige Wesenheiten. Diese Auffassung muss niemand teilen. Ich habe nichts davon, wenn irgendjemand die gleichen oder auch nur (angeblich) ähnliche Götter wie ich anruft oder verehrt oder dieselben Namen und Begriffe benutzt – die aber jederzeit und überall anders assoziiert und mit ganz anderen Werten und Bedeutungen verbunden sein können. Wenn mich jemand zum Beispiel fragte, ob ich „an Jesus Christus glaube“, müsste ich – genau genommen – diese Frage bejahen. Das macht mich noch lang nicht zu einem Christen. Ich bin bei der genannten Gottheit so wenig unter Vertrag wie bei Siemens, der Deutschen Bank oder anderen Institutionen und Instanzen, deren Existenz ich ebenso selbstverständlich anerkenne wie die beliebiger Religionsgemeinschaften – unabhängig davon, was ich von den jeweiligen Kräften, ihren Auswirkungen, ihrem Personal oder dessen Methoden halte. Ich glaube an (die spirituelle Existenz und Wirkkraft von…) Jesus genauso wie an (die von…) Allah, Shiva, Pallas Athene, der Weißen Büffelfrau, Quetzalcoatl oder auch – das ist nicht despektierlich gemeint gegenüber vorgenannten Beispielen! – King Kong und Micky Maus; ebenso glaube ich an den Mount Everest, die Donau, das Geld, den Morgenkaffee oder McDonald‘s und Monsanto. Denn all diese – nennen wir sie mal „Phänomene“ – sind da. Und unabhängig davon, welche von ihnen als „real“ gelten und welche nicht, bewirken sie etwas in Materie und Geist. Natürlich ganz unterschiedliche Ereignisse und Zustände. Die einen betreffen mich persönlich, die anderen weniger. „Unter Vertrag“ – im Bunde – bin ich für meinen Teil mit Gottheiten, die ich mir in gewisser Weise selber geschaffen habe… aus Dankbarkeit dafür, dass sie – die Großen, wie ich sie nenne – die Welt und letztlich auch mich erschufen, mich leiten, anfordern, kurz: mich leben und wirken lassen. Den Widerspruch in dieser Aussage kann ich nur mit einem Grinsen beantworten… und dem Hinweis, dass sich eine magische Weltsicht so wenig an Logik oder die gewohnheitsmäßige Zeitachse zu halten braucht wie jeder anständige Traum auch. Ich nehme für mich in Anspruch, sowohl Realist als auch Träumer sein zu dürfen – ja: zu können.

Mein persönlicher Wertekanon ist ganz gut durch die so genannten Menschenrechte umrissen. „Ganz gut“ meint, dass ich den Geist dieses Wertesystems am liebsten noch angewandt auf weitere Teile der Natur sähe. Keinesfalls jedoch akzeptiere ich irgendeine Einschränkung dieses Kanons, ganz konkret: der Proklamation der allgemeinen Menschenrechte von 1948. Sie sind mein Maßstab für die Bewertung und Beurteilung menschlichen Handelns und Unterlassens im Kleinen wie im Großen, im Alltag wie im gesellschaftlichen Gesamtgefüge – welcher Person, welcher Gruppierung und welchen Staates, welcher ethnischen oder kulturellen Gemeinschaft auch immer. Wenn es eine Front zwischen mir und anderen gibt, verläuft sie an dieser Frage: wie wer mit den Menschenrechten umgeht. Ich bin gegebenenfalls bereit, mich mit all denjenigen Menschen verbündet zu sehen oder tatsächlich zu verbünden, die die Menschenrechte achten, leben, verteidigen. Wer dies nicht tut, kann nicht mein Freund oder meine Verbündete sein – egal, wer sich da Hexe, Heide oder irgendetwas anderes nennen mag, gleiche oder ähnlich benannte Gottheiten verehrt wie ich, vielleicht dieselbe Musik hört wie ich, vergleichbaren kulinarischen, sexuellen oder sonst irgendwelchen Vorlieben frönt oder auf andere Ähnlichkeiten pocht, die vorkommen mögen – na und. Entscheidend für meine Bündnisse ist die genannte Haltung – sie ist die unabdingbare Verhandlungsbasis. Innerhalb dieser findet zivilisierte pluralistische Gesellschaft statt. Nur dort. Wer sich außerhalb positioniert, steht draußen (und hat sich gegebenenfalls selber „ausgegrenzt“). Verhältnisse, in denen die Menschenrechte gelten, kamen nicht vom Himmel gefallen, sondern entstanden aus irdischen Einsichten und unendlichen Mühen heraus. Menschenwürdige Verhältnisse bedürfen – auch da, wo sie bereits bestehen – ständigen persönlichen Einsatzes. Ihr Überleben hängt an einer knappen Faustregel: Keine Toleranz für Feinde der Toleranz!

Ich lasse jede spirituelle Wahrheit gelten und akzeptiere jeden persönlichen Glauben – und daraus resultierende Verhaltensweisen, solange und soweit sie sich im Rahmen der Menschenrechte bewegen. Daraus folgt, dass ich auch Wertsysteme, die mir fremd oder gar unsympathisch sind, ebenso selbstverständlich respektieren kann wie deren FürsprecherInnen. Ich gewähre so viel Toleranz, wie ich bekomme (und wo ich es mir leisten kann, auch gern mal etwas mehr: Das lässt sich nicht pauschalisieren, kommt aber vor). Ich toleriere jedoch nicht die Abschaffung meiner Werte, entsprechende Handlungen oder Absichten. Die Gleichwertigkeit aller Menschenwesen ist die Grundlage, auf der alle erforderlichen und möglichen Verhandlungen beruhen. Ich gehöre zur weltweiten Rasse derer, dessen Blut rot ist. Wir alle gehören ihr an. Es bedarf keinerlei Blutvergießens, das zu beweisen.

Wenn ich hier von bestimmten Göttinnen und Göttern rede und erkläre, was sie mit Runen zu schaffen haben, ist das so ähnlich, wie von selbstkomponierter Musik zu sprechen. Musik folgt Regeln (Ausnahmen bestätigen das). Meine Töne und Klangfolgen muss niemand nachspielen oder gutheißen – ich zeige nur auf, wie sie funktionieren, welchen Regeln sie folgen. Es ist ein Unterschied, ob du sie nachvollziehst und anwendest, um deine eigene Musik (oder Magie) zu entwickeln – oder meine Ergebnisse imitierst und übernimmst. Letzteres kann einen Zwischenschritt darstellen, niemals aber taugliches Endergebnis.

Das kann nicht oft genug betont werden. Die Unsitte, andere für sich denken zu lassen, anderen mehr oder minder kritiklos und selbstvergessen zu „folgen“, ist in der Menschheitsgeschichte allzu verbreitet und gerade in unserer Gesellschaft eingeschliffen wie kaum etwas anderes. Die Subszene esoterisch Sinnsuchender spiegelt dieses gesellschaftstypische Phänomen nochmal in ungewollt karikierender Form scharf wieder, lebt es gewissermaßen übertrieben nach: in ihren offenen wie versteckten Hierarchien, in ihren Werten, Zielen, Methoden und deren Resultaten. Das muss nicht erst über offenkundige Kommerzinteressen sichtbar werden oder vorwiegend in seelische Ausbeutung und innere Verelendung münden, tut es aber meistens und typischerweise. Autoritätshörigkeit wird in allen Möglichkeiten des Spektrums gefördert, Selbständigkeit selten gelehrt. Es gibt jedoch Erfahrungen, die sind nur individuell zu machen. Dazu gehören Essen und Trinken, das Darmentleeren, das Sterben – und das Lernen. Und damit auch das Erleben spiritueller Wahrhaftigkeiten. Bei solchen, als einem kulturellen Phänomen, lässt sich natürlich mogeln. Wir können jederzeit spirituelle Erfahrungen anderer Leute für unsere eigenen halten – dabei wird dann ziemlich egal, ob die Erfahrungen jener anderen, von denen wir sie übernehmen, „echt“ sind oder nur vorgegaukelt: Sie kommen in jedem Fall vitaminarm und substanzlos an. Ihr möglicher Wohlgeschmack ist künstlich und meist oberfaul herbeigetrickst. Im schlechtesten Fall machen sie süchtig. Wie schlechte Nahrung sind sie meistens voller Ballaststoffe, ungesunder Zusätze ungewisser Herkunft – und allzu oft zuckersüß. (Das allein sollte schon misstrauisch machen. Es ist ein sicheres Erkennungsmerkmal, dass die Weisheit dahinter nicht das Glanzpapier – oder auch nur den salbungsvollen Ton – wert ist, auf dem sie uns entgegensäuselt.)

Süchtig nach solchem Zeug, laufen wir Gefahr, andere von derselben Sache überzeugen zu wollen. Notfalls um jeden Preis. Denn das mulmige Defizit der ausgebliebenen Erfüllung isoliert unsere Seelen. Die unreflektierte Einsamkeit schreit bald nach Bestätigung durch Äußerlichkeiten: am besten durch gleichartige Gemeinschaft. Ab da werden Gewandung und Gepränge und das Bestätigen verbaler Formeln oberwichtig: als Kennzeichen von Gleichartigkeit, von Miteinander. Das bedingungslose Mitmachen und – vor allem auch äußere – Gleichziehen der anderen wird oft zum einzigen Trost in der zu Recht gefühlten – und umso manischer geleugneten – persönlichen Leere.

Genau darum sind die meisten Offenbarungsreligionen (wie auch ihre marodierenden Ableger, die oft sektiererischen Einzelkulte) so vehement um Missionierung bemüht – und darin so erfolgreich: An die Stelle persönlicher Erfüllung tritt die Not, äußere Merkmale anzugleichen und ans idealisierte Vorbild angeglichen zu sehen. Die Gleichschaltung nennbarer Kennzeichen dient als Ersatz für innere und eigene Entwicklung und Erfahrung. Nur wer im eigenen „Glauben“ keinen echten Halt findet, ist darauf angewiesen, dass möglichst alle anderen dasselbe glauben – und fühlt sich von allen bedroht, die davon irgendwie abweichen. Das sind die üblichen Kennzeichen vieler heutiger Religionen und Kulte… Und so sehr sie individuell durchaus für Halt und Orientierung zu sorgen vermögen, gleichen sie in ihrer Struktur und Grundhaltung doch eher einer gefährlichen Geisteskrankheit. Ungeachtet ihrer Gebetsmühleninhalte tendieren sie zu Heuchelei, Ungerechtigkeit, Willkürherrschaft, Verblendung, Gewalt und Krieg. Es ist ihnen inhärent. Statt die Seele zu befreien, knechten sie die Massen. Noch perfider: Sie haben beides verwoben. Wohlgemerkt: Diese Kritik gilt nicht Menschen und ihrem persönlichen Glauben, sondern den gesellschaftlichen und politischen Organisationsformen ihrer Religionen.

Spiritualität ist entweder eine persönliche Erfahrung oder wertlos. Daraus folgt, dass Missionierung – jegliche! – Gift ist für jedwessen persönliche spirituelle Entwicklung. Missionierung ist das (meist systematische) Übertragen festgelegter Glaubensinhalte von einer Person zur anderen. Das braucht nicht nur so genannte Religionen zu betreffen, ist aber kennzeichnend für sie. Religionen, die missionierend verbreitet werden, verwandeln – wie alle Ideologien – Menschen in Schafe und Bluthunde. Die Verwandlung zum Schaf wie auch zum Bluthund zu vermeiden, ist der erste Schritt zum sozial kompetenten Menschenwesen.

Letzteres wollte ich werden. Wie mir ausgerechnet die Runen des Älteren Futhark dabei helfen sollten – und warum sie dafür taugen – zeige ich in den folgenden Kapiteln.


Bildstein mit Runen, Århus, Dänemark

Das Lied der Eibe

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