Читать книгу Das Lied der Eibe - Duke Meyer - Страница 6

Оглавление

Emotionale Einleitung

VORWORT DES HERZENS

Es heißt, dass die Achse der Welt ein Baum sei, ja sogar, dass alle denkbaren Welten an diesem einen Baum hingen. So groß soll er sein, dass niemand sieht, wohin seine Krone ragt, geschweige denn, wo er wurzelt: zu tief das eine, zu hoch das andere… jedenfalls für unsere Sinne, Überlegungen und Berechnungen. Die Altvorderen nannten ihn „Winteresche“, weil er immer grünt, doch nur wenige wissen heute, was damit wirklich gemeint war: die ewige Eibe – die, an der jene neun Welten hängen, von denen die alten Mythen des Nordens erzählen. Und wer weiß, wie viele Welten, Kosmen, Universen oder Kontinua es noch sind!

Erzählt wird, neben vielen anderen Geschichten, dass ein eifriges Eichhörnchen den Stamm dieser Weltachse hinauf- und hinunterrenne, um Postdienste zu verrichten. Post von wo nach wo, wessen Post wohin? Ein Wind entfachender Adler wohne in den Wipfeln des Baumes, heißt es, und ein übel gelaunter Drache nage an dessen Wurzeln – und die beiden könnten einander nicht leiden und führten daher so etwas wie einen Flame War (wie wir heute sagen würden): Den vermittle das Eichhörnchen. Lasst euch ein Geheimnis verraten! Das Hin- und Hertragen von Schmähworten zwischen Feder- und Schuppenvieh ist nicht der einzige Job unseres flinken Eibenläufers. Jedes Mal, wenn das Eichhörnchen hinauf- oder hinunterflitzt, kommt es an allen Welten vorbei, die an der großen Eibe hängen. Und da kriegt es so mancherlei mit! Bereits seit vielen hundertundneunquadrilliarden Nächten oder noch mehr Jahren und Jahrzigtausenden schon! Niemand sonst hat eine solche Kenntnis der Zusammenhänge außer vielleicht Frigg oder Odin, aber das sind Große, von denen ich an anderer Stelle erzähle. Lasst uns die Spuren des kleinen Postbötchens untersuchen…

Einem (unbestätigten) Gerücht zufolge war es sogar das Eichhörnchen selbst, dem unterwegs vor lauter Eile die einen oder anderen Notizen aus der Tasche gerutscht sind. Denn nicht einmal ein Eichhörnchen kann sich so viel merken, dass es sich – bei einem solchen Auftrag – nicht wenigstens ab und zu auch Notizen machen müsste. Und diese Notizen waren es dann, die ein Schamanengott fand, der sich an einem Ast unseres wunderbaren Weltenbaums aufgehängt hatte! Zu Selbstfindungszwecken! Was geborene Mannsbilder halt manchmal so tun, um ein Wissen zu erlangen, das sie als Nichtmenstruierende vermissen! Halb verhungert und verdurstet, verwundet, fiebrig und von Sinnen hielt er, der große Sucher, den manche als Odin kennen, die in Holz geritzten Merkzeichen für… ja, für Runen. Vielleicht waren es ja welche. Jedenfalls sind es – spätestens mit des großen Suchers Eingebung, Ideenreichtum und Hilfe – Runen geworden!

Von ihnen sei die Rede hier. 24 an der Zahl, erzählen sie, aufgeteilt in drei Achterreihen, die Geschichte der Welt – und noch mehr. Wie damit umzugehen ist, woran was hängt und was wie miteinander verbunden ist – und was wir tun sollen oder besser: können, wenn mal wieder alles schiefläuft. Manche Leute glauben, die Runen verraten die Zukunft – dafür müsste es aber erstmal eine solche geben… Darüber lachen die Nornen, die Schicksalskräfte selbst! Auch davon will ich erzählen: wie und warum wir uns eine Zukunft ersparen können – und damit viel besser fahren als mit dem Glauben an eine solche! Fest ist das Netz, das die drei Weberinnen fügen – aber nichts so festgelegt, dass du nicht daran ziehen und dich daran entlanghangeln könntest – oder wo hindurchschlüpfen, wo das geeignete Loch ist, der Weg zum nächsten Knoten… Kein Mensch, nicht einmal Seherinnen oder weise Frauen sind in der Lage, dieses Netz in seiner Gesamtheit zu sehen – aber seine Struktur können wir erahnen, seine Biegungen und Windungen erspüren und manches von seinem Verlauf: den nächstliegenden Faden auf unserem persönlichen Lebensweg. Die Entscheidungen, die wir treffen (einschließlich derer, die wir vermeiden oder denen wir ausweichen – wir treffen damit trotzdem welche), sind immer die unseren. Unsere eigenen. Diese Freiheit nimmt uns niemand ab, kein Mensch, kein Tier und kein Gott. Die müssen wir aushalten. Aber genau dabei auch können sie helfen: die Runen. Sie weisen Wege. Lassen uns erkennen, welche Wahl wir haben: Die ist meist vielfältiger, größer und reichhaltiger, als wir meinen. Gewusst wie!

Davon handelt dieses Buch. Ich, Eibensang, schrieb es für Lesekundige, die lernen wollen, wie sich Herz und Verstand verbünden lassen und wie Verwandlungen funktionieren: zum Beispiel die vom Pechpilz zum Glücksvogel (das war eine, die ich durchmachen durfte und die mir gelang) oder das wundervolle Kunststück der Wiedergeburt, und zwar noch in diesem Leben (…was mir ebenfalls glückte). Mit Wiederholung! Egal, woher du kommst, was dich trug, trog und trägt; egal auch und erst recht, wie dein Körper beschaffen sein mag oder seine Neigungen und die deiner Seele. Die Gottheiten, die uns leiten, halten sich nicht auf mit unseren Schranken und Grenzen – im Gegenteil fordern sie uns auf und ermutigen uns, diese zu erweitern. Dafür vergaben sie Gaben: jedem Geschöpf mindestens eine von Geburt an – weitere wären erlernbar. Auch davon soll noch die Rede sein. Meine ist die: Ich kann nur Worte machen. Zauberworte an dein Herz. Der Zauber, wenn du es öffnest, ist der deine. Aber die Belohnung ist unsere, gehört uns zusammen: wo immer wir einander helfen, erahnen – und erkennen.

Bragishof, im Frostmond (Januar) 2015

Das Lied der Eibe

Подняться наверх