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Anja zuckte vor Schreck zusammen. Sie stieß einen kurzen Aufschrei aus, als Yin durch die offene Badezimmertür auf sie zusprang und sich mit aufgestelltem Schwanz augenblicklich an ihren nackten Beinen rieb.

»Puh!«, sagte sie, atmete erleichtert aus und legte die rechte Hand auf ihr Herz, das heftig und rasch schlug. »Jetzt hast du mich aber ganz schön erschreckt. Mach das bloß nie wieder!«

Der Kater sah mit einer Miene zu ihr hoch, als wäre er sich keiner Schuld bewusst, und miaute laut und langanhaltend.

Anja seufzte. »Was ist los? Nachdem du mich vorhin noch ignoriert hast, kommst du plötzlich wieder an und willst was von mir. Und dabei erschreckst du mich auch noch fast zu Tode.« Anja bemühte sich zwar um einen strengen Tonfall, sie konnte der Katze aber nicht böse sein. Und das wusste dieser kleine schwarze Teufel vermutlich auch haargenau.

Yin rieb seinen geschmeidigen Körper an ihrem Schienbein. Er ließ erneut ein langes und herzzerreißendes Miauen hören.

»Tut mir leid, dass es regnet und du nicht raus kannst, Kumpel«, sagte sie, während sie sich bückte und ihn am Kopf und am Hals kraulte, worauf der Kater sich hinsetzte und wohlig zu schnurren anfing. »Aber es hört sich für mich ganz danach an, als wäre der Regen nicht mehr so heftig wie zuvor. Wahrscheinlich hört es in zwanzig Minuten oder spätestens einer halben Stunde ohnehin zu regnen auf. Und dann kannst du immer noch nach draußen und dein Revier gegen deine Rivalen verteidigen, oder was auch immer du nachts treibst.«

Entschlossen, sich von der Katze nicht länger aufhalten zu lassen, richtete sie sich wieder auf und wandte sich um.

»Leider hab ich jetzt keine Zeit mehr, mich um dich zu kümmern, Yin. Ich muss zusehen, dass ich fertig werde, bevor Tanja vor der Tür steht.«

Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, dass die Katze sich hingebungsvoll putzte. Sie glaubte zwar nicht, dass ihre Worte dazu beitragen hatten, allenfalls ihr sanfter Tonfall, doch der Kater schien sich wieder etwas beruhigt zu haben.

Froh, dass sie jetzt eine Sorge weniger hatte, wandte sie sich wieder ihrem Spiegelbild zu. Doch im selben Augenblick hörte sie, dass unten dreimal kräftig gegen die Haustür gehämmert wurde.

»O nein!«, entfuhr es ihr. Obwohl ihre innere Uhr etwas anderes sagte, befürchtete sie, zu viel Zeit unter der Dusche vertrödelt zu haben. Sie nahm ihre Armbanduhr, die sie auf die Ablage unter dem Badezimmerspiegel gelegt hatte, und las die Uhrzeit ab. Doch ihr Zeitgefühl trog sie nicht. Sie hatte noch mehr als ausreichend Zeit, um sich fertigzumachen, bevor sie mit ihrer Cousine verabredet war.

Wenn das Tanja ist, dann ist sie viel zu früh dran. Aber wieso kommt sie schon jetzt? Und warum klingelt sie nicht?

Augenblicklich machte sie sich Sorgen um ihre Cousine. Da sie beide keine echten Geschwister hatten – Anja hatte nur einen Stiefbruder, den sie nicht leiden konnte –, standen sie sich so nahe wie Schwestern. Ihr Verhältnis hatte sich sogar noch vertieft, nachdem Tanja wegen ihrer Krebserkrankung in die Gewalt des Apokalypse-Killers geraten war und Anja sie gerettet hatte. Den Krebs hatte Tanja mittlerweile besiegt, dennoch machten sich alle Sorgen, er könnte zurückkehren.

Ob etwas passiert ist?

Die Ungewissheit vergrößerte Anjas innere Unruhe. Sie nahm sich daher gar nicht erst die Zeit, sich etwas anderes anzuziehen, sondern lief im Bademantel und barfuß die Treppe nach unten und zur Haustür. Allerdings warf sie trotz ihrer Sorge gleichwohl nicht sämtliche Vorsichtsmaßnahmen über Bord, sondern zunächst einen Blick durch das winzige Fenster neben der Tür, um nachzusehen, wer draußen stand und Einlass begehrte.

Doch dort war niemand. Und auch sonst war weit und breit kein Mensch zu sehen. Obwohl es längst nicht mehr so heftig regnete, lag die Straße, auf deren anderer Seite sich der Waldfriedhof befand, einsam und verlassen vor ihr.

Hatte sie sich etwa getäuscht und das Klopfen nur eingebildet?

Ausgeschlossen!

Sie schüttelte entschieden den Kopf, denn sie war sich hundertprozentig sicher, dass es dreimal laut und deutlich geklopft hatte.

Anja trat vom Fenster zurück und überlegte. Wer immer gegen die Tür gehämmert hatte, hatte nicht gewartet, bis sie zur Tür gekommen war, sondern war schon wieder verschwunden. Und da augenscheinlich niemand draußen stand, gab es auch keine Veranlassung mehr, diese zu öffnen.

Trotzdem …

Anja wollte zumindest kurz nachsehen. Vielleicht war es doch Tanja gewesen. Und unter Umständen hatte sie nicht länger warten können und stattdessen eine Nachricht hinterlassen.

Aber warum hatte sie dann nicht einfach angerufen, wenn ihr etwas dazwischengekommen war? Da Anja Urlaub hatte, hätten sie den Termin ohne Probleme auf einen der nächsten Tage verschieben können.

Die Sache war ihr ein Rätsel. Und wenn Anja etwas nicht leiden konnte, dann waren es ungelöste Rätsel. Zumindest solange sie nicht in einer Zeitschrift abgedruckt waren und mit einem Kugelschreiber und etwas Nachdenken gelöst werden konnten. Bei allen anderen Mysterien, die ihr in ihrem Job oder im täglichen Leben begegneten, verspürte Anja sofort den unwiderstehlichen Drang, ihnen auf den Grund zu gehen und sie aufzuklären. Vielleicht war sie auch deshalb Polizistin geworden und in die Fußstapfen ihres Vaters getreten. Oder aber sie musste sämtliche Geheimnisse ergründen, auf die sie stieß, gerade weil sie Polizistin war. Anja wusste nicht, welche dieser beiden Möglichkeiten am ehesten zutraf. Es war beinahe wie die berühmte Frage, was zuerst da gewesen war. Die Henne oder das Ei? Doch letztendlich war es ihr auch egal. Sie schritt entschlossen zur Tat, bevor sie noch lange darüber nachgrübeln konnte.

Yin, der ihr gefolgt war, saß auf dem Läufer im Flur und beobachtete sie mit unergründlicher Katzenmiene.

»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«, sagte Anja zu ihm, als sie einen Stockschirm mit metallener Spitze aus dem Ständer neben der Garderobe nahm und zum Zustoßen bereit vor sich hielt, während sie zur Tür trat.

Inzwischen ergänzte sie ihre täglichen einseitigen Konversationen mit der Katze in Gedanken manchmal mit möglichen Antworten des Tiers. Das tat sie auch jetzt. Und so hätte Yin, wäre er wie in einem Märchen der menschlichen Sprache mächtig, ihrer Meinung nach Folgendes als passende Antwort darauf erwidern können:

»Und Neugier ist der Katze Tod!«

Anja warf Yin über die Schulter einen irritierten Blick zu, so als hätte er tatsächlich zu ihr gesprochen.

»Ich pass schon auf«, sagte sie, legte mit einer Entschlossenheit, die demonstrativer wirkte, als sie war, ihre Hand auf die Klinke der Haustür und zog sie dann ebenso ruckartig auf, wie sie es vor wenigen Minuten mit der Tür des Badezimmers getan hatte.

DER REGENMANN

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