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Es handelte sich, wie Anja im Lichtschein, der vom Flur hereinfiel, rasch feststellte, um ein Badezimmer.

Sie griff nach dem Schalter und machte Licht. Dann stieß sie vor Erleichterung die angehaltene Luft aus, denn nirgends war eine Leiche zu sehen.

Obwohl sich ihre düstere Vorahnung somit nicht erfüllt hatte, worüber sie froh und zutiefst dankbar war, sah sich Anja dennoch gewissenhaft um. Schließlich war das Badezimmer offensichtlich das Ziel der Person gewesen, die die Spuren im Haus hinterlassen hatte. Es gab jedoch im ganzen Raum keinen einzigen Ort, der groß genug war, um eine Leiche zu verstecken.

Sowohl die Duschkabine als auch die Wanne waren leer und ebenso makellos sauber wie der Rest des Badezimmers. Und der Behälter für Schmutzwäsche in einer Ecke sowie der schmale Badezimmerschrank waren beide zu klein, um einen menschlichen Körper vollständig und in einem Stück aufzunehmen. Gleichwohl öffnete Anja sie und warf der Vollständigkeit halber einen kurzen Blick hinein, der ihre Schlussfolgerungen bestätigte.

Keine Leiche!

Anja hätte sich jetzt schulterzuckend abwenden und das Badezimmer verlassen können, um den Rest des Hauses zu durchsuchen; aber das tat sie nicht, denn irgendetwas in diesem Raum irritierte sie. Sie wusste allerdings nicht, was es war, das sie dermaßen beunruhigte, dass sie blieb.

Als sie sämtliche Sinneswahrnehmungen, die sie empfing, daraufhin einer genaueren Überprüfung unterzog, fiel ihr auf, dass es hier drin so warm und feucht war, als hätte erst vor Kurzem jemand ein Bad oder eine Dusche genommen. Außerdem roch es intensiv, allerdings nicht nach Shampoo, Duschgel oder Parfüm, sondern nach irgendeinem Putzmittel.

Bei diesem Gedanken fiel ihr erneut die makellose Sauberkeit auf. Sogar die Bodenfliesen sahen aus, als wären sie frisch gewischt worden. Außerdem fehlten hier drin eindeutig die nassen Fußspuren, die Anja erst hierher geführt hatten. Es sah aus, als hätte die Person, die die Feuchtigkeitsspuren im Haus hinterlassen hatte, das Badezimmer gar nicht betreten. Doch das erschien ihr unwahrscheinlich und unlogisch.

Als Anja nachdenklich den Fußboden betrachtete, fiel ihr zudem auf, dass ein flauschiger Badezimmerteppich fehlte. Es war zwar nicht ungewöhnlich, dass es keinen gab, doch in der Mehrzahl der Badezimmer, die Anja bislang betreten hatte – und aufgrund ihres Jobs waren das einige –, war einer vorhanden gewesen. Deshalb kam ihr das Fehlen im Zusammenhang mit den anderen Dingen, die ihr aufgefallen waren, zumindest bemerkenswert vor.

Sie ging zum Waschbecken, das so blitzblank wie alles andere in diesem Raum aussah, und betrachtete die Gegenstände auf der Ablage unterhalb des Spiegels, die wie Soldaten ordentlich in Reih und Glied nebeneinanderstanden. Kopfschüttelnd warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel und betrachtete sich selbst. In ihrer dunklen Kleidung und mit der Kapuze über dem Kopf wirkte sie wie ein Fremdkörper in diesem Bad, das eher aussah, als gehörte es zu einem Hotelzimmer der gehobenen Klasse und wäre bereit für den nächsten Gast.

Doch dann bemerkte sie aus den Augenwinkeln doch noch einen Makel, der sie trotz seiner geringen Größe irritierte. Als sie ihren Blick darauf konzentrierte und unwillkürlich näher heranging, entdeckte sie in der linken oberen Ecke der rechteckigen Spiegelfläche einen länglichen ovalen, an den Rädern ausgefransten roten Fleck, der nur wenige Millimeter groß war. Anja hatte genügend Blutspritzer gesehen, um sofort zu erkennen, dass es sich auch hier um einen solchen handelte. Außerdem entdeckte sie in seiner unmittelbaren Nachbarschaft sogleich zwei weitere Exemplare, die dieselbe Form und Größe aufwiesen.

Sie suchte nach weiteren Flecken, konnte jedoch keine entdecken. Im Gegenteil: Ansonsten sah alles so aus, als wäre es gründlich gesäubert worden. Bis auf diese drei kleinen Spritzer, die man leicht übersehen konnte.

Endlich wusste sie, was sie die ganze Zeit über an diesem Ort irritiert hatte. Es war diese geradezu hygienische, steril wirkende Sauberkeit hier drin, obwohl vor Kurzem jemand geduscht oder gebadet zu haben schien.

Doch zusammen mit den drei kleinen Blutspritzern ergab die makellose Sauberkeit plötzlich ein anderes Bild. Das Badezimmer war offenbar erst kürzlich gründlich gereinigt worden. Und wie es schien, war es dabei offensichtlich darum gegangen, Blutspuren zu beseitigen.

Wie magnetisch angezogen fiel Anjas Blick wieder auf die drei Blutflecken, die dem Putzlappen entgangen waren. Sie betrachtete sich die länglichen ovoiden Spitzer, die parallel zueinander von rechts unten nach links oben verliefen. Sie waren an ihrem unteren Ende halbrund und verfügten an ihrem anderen Ende über sogenannte bärentatzenartige Ausziehungen. Anja wusste, dass mithilfe von Blutspuren der Hergang einer Tat rekonstruiert werden konnte. So konnten Blutspurenanalytiker beispielsweise anhand der Form und der Größe eines Blutspritzers dessen Einschlagwinkel berechnen und die Flugbahn bestimmen. Hatten die Analytiker genügend Spritzer vorliegen, konnten sie mithilfe der Flugbahnen sogar den gemeinsamen Ursprungsort des Blutes und damit den Standort des Opfers herausfinden. Allerdings bezweifelte Anja, dass die übrig gebliebenen drei Spritzer dafür ausreichten. Allerdings waren die Experten der Kriminaltechnik oftmals sogar in der Lage, weggewischte, für das bloße Auge unsichtbare, sogenannte latente Blutspuren wieder sichtbar zu machen.

Als Anja schließlich den Blick von den Blutspritzern abwandte, fiel ihr im Spiegel zum ersten Mal ein roséfarbener Bademantel auf, der an der Wand hinter ihr an einem Haken hing und ein merkwürdiges Muster aus dunkelroten Flecken aufwies. Aber rasch wurde Anja klar, dass es sich dabei gar nicht um ein Muster, sondern um weitere Blutflecken handelte.

Sie wandte sich um und ging hinüber, um sich den Bademantel aus der Nähe anzusehen. Allerdings nahm sie ihn dazu nicht vom Haken, sondern ließ ihn hängen. Stattdessen bückte sie sich, ergriff die beiden Enden des Saums und zog das Kleidungsstück vorsichtig auseinander. Als sie den Stoff ausgebreitet vor sich hatte, sah sie, dass er vor allem in dem Bereich, der sich im angezogenen Zustand an der Vorderseite des Körpers befand, großflächige rote Flecken aufwies. Der flauschige Frotteestoff hatte die Flüssigkeit gierig aufgesaugt. Die kleineren Flecken waren bereits getrocknet, doch die größeren glänzten im Zentrum noch immer feucht. Als Anja an einer Stelle roch, stieg ihr der unverkennbare Geruch in die Nase. Es handelte sich um Blut. Allerdings überraschte sie das nicht, denn sie konnte sich schwerlich einen Grund vorstellen, warum jemand rote Farbe oder Tomatensaft über seinen Bademantel schütten sollte. Und obwohl Anja insgeheim keine Zweifel daran hatte, stellte sich natürlich die naheliegende Frage, ob es sich überhaupt um menschliches Blut handelte. Aber das würden die Kriminaltechniker mit einem Schnelltest herausfinden.

Darüber hinaus wies der Stoff zwei ausgefranste Löcher auf, wo vom Hersteller keine vorgesehen waren. Beide Risse befanden sich jeweils im Zentrum eines großflächigen Blutflecks, der erste in Bauchhöhe, der zweite im Brustbereich. Auch ohne genauere Untersuchung kam Anja zu dem Ergebnis, dass an diesen Stellen ein Messer den Stoff durchbohrt haben musste.

Anja ließ den Bademantel los und richtete sich wieder auf.

Die nassen Fußabdrücke, denen sie von der offenen Terrassentür bis hierher gefolgt war, die Blutflecken auf dem Bademantel und schließlich die beiden Risse im Stoff verschafften ihr einen ersten Eindruck von dem, was in diesem Haus geschehen sein musste. Jemand war während des Regens ins Haus eingedrungen, hatte die Bewohnerin im Bad überrascht, nachdem diese geduscht oder ein Bad genommen hatte, und mindestens zweimal, wenn nicht noch öfter auf sie eingestochen. Und aufgrund der Zahl und Größe der Blutflecken auf dem Bademantel hegte Anja ernsthafte Zweifel, ob das Opfer diesen Angriff überlebt hatte.

Aber wo steckt dann ihre Leiche?

Anja sah sich erneut um, entdeckte jedoch keine weiteren Spuren der Bluttat, die an diesem Ort stattgefunden haben musste. Der Täter hatte nicht nur den Leichnam von hier weggebracht, sondern auch nahezu sämtliche Spuren seines Verbrechens beseitigt. Bis auf die drei kleinen Blutspritzer am Spiegel; die hatte er übersehen.

Aber wenn er sich schon so bemüht hat, alle Spuren restlos zu beseitigen, warum hat er dann den verräterischen Bademantel an den Haken gehängt und zurückgelassen?

Dieses Detail ergab für Anja absolut keinen Sinn. Während sie darüber nachgrübelte, war ihr Blick auf das Corpus Delicti gerichtet; sie nahm es allerdings überhaupt nicht wahr.

Warum hat er den blutigen Bademantel dagelassen?

Nach kurzem Nachdenken gab es für Anja nur eine logische Antwort auf diese Frage. Jemand hatte den Bademantel absichtlich für sie zurückgelassen. Und zwar dieselbe Person, die sie mithilfe der Mitteilung auf ihrer Fußmatte erst hierher gelockt hatte. Der Bademantel stellte insofern nur eine weitere Nachricht an sie dar. Er war trotz der Beseitigung aller anderen Spuren für sie zurückgelassen worden, damit sie auf jeden Fall erkannte, dass hier ein Messerangriff, höchstwahrscheinlich sogar ein Mord stattgefunden hatte.

Für Anja stank diese Geschichte, angefangen bei dem Umschlag vor ihrer Tür bis zu diesem widersprüchlichen Tatort, nach ihrem alten Widersacher, dem Mörder ihres Vaters und ihres Ehemannes. Ganz ähnlich war er bereits in den anderen Fällen vorgegangen, als sie es mit ihm zu tun bekommen hatte.

Allerdings hatte sich die Person, die sich zeitweise auch Jack nannte, in jüngster Vergangenheit vorwiegend anderer Psychopathen bedient, die für ihn die Drecksarbeit erledigten. Währenddessen war er im Hintergrund geblieben und hatte die Fäden gezogen. Es erschien Anja daher eher unwahrscheinlich, dass der Widersacher die blutige Tat, die hier allem Anschein nach stattgefunden hatte, auch eigenhändig begangen hatte.

Aber warum hatte er ihr überhaupt eine Nachricht geschickt? Wieso hatte er sie in dieses Haus gelockt, in dem höchstwahrscheinlich ein Mord geschehen war? Und aus welchem Grund hatte er penibel alle Spuren beseitigt, wenn er dann doch den blutigen Bademantel zurückließ, um sie gleichsam mit der Nase darauf zu stoßen, was hier geschehen war? Was bezweckte er mit alldem?

Auf all diese Fragen wusste Anja momentan natürlich noch keine Antworten. Um sie zu finden, würde sie der Sache auf den Grund gehen müssen. Und vielleicht wollte Jack genau das erreichen: dass sie den Mörder jagte. Für ihn war das alles unter Umständen nur ein weiteres makabres Spiel, das seinen offensichtlich abartigen Sinn für Humor befriedigte, während es für die Frau, die sein Handlanger getötet hatte, tödlicher Ernst gewesen war.

Anja seufzte tief. Nachdem es hier mittlerweile nicht nur um eine vermisste Frau, sondern voraussichtlich sogar um Mord ging, musste sie schleunigst die dafür zuständigen Kollegen informieren.

Außerdem empfand sie, seitdem sie wusste, dass hier eine Gewalttat verübt worden war, die Atmosphäre innerhalb des Hauses als bedrückend und unangenehm. Sie wollte sich daher nicht länger als unbedingt notwendig darin aufhalten. Möglicherweise hatte der Widersacher den Leichnam der Frau lediglich in einem anderen Zimmer deponiert und hoffte nun, dass Anja den Rest des Hauses durchsuchte und früher oder später darüber stolperte, denn zweifellos wusste er über ihre Ängste Bescheid. Aber den Gefallen würde sie ihm nicht tun. Und auch wenn sie sich insgeheim noch immer fragte, wo die Katze steckte, die auf dem Foto mit der Frau zu sehen war, würde sie es anderen Personen überlassen, nach ihr zu suchen. Schließlich war sie nur hier, weil sie einen Umschlag mit einer Nachricht auf ihrer Fußmatte gefunden hatte und der Sache kurzerhand nachgegangen war. Doch nach dem Fund des blutgetränkten, durchbohrten Bademantels ging es in diesem Fall ihrer Meinung nach nicht nur um eine vermisste Person, sondern vermutlich sogar um Mord. Und dafür war sie nun einmal nicht zuständig. Abgesehen davon hatte sie Urlaub.

Anja richtete sich auf und verließ das Badezimmer, ließ das Licht allerdings brennen. Als sie im Flur neben den Feuchtigkeitsspuren auf dem Teppich zur Treppe ging, hörte sie plötzlich von unten ein Geräusch.

Sofort erstarrte sie mitten in der Bewegung und blieb regungslos stehen, während ihr Herz das genaue Gegenteil tat und unwillkürlich schneller schlug.

Es hatte sich angehört, als wäre im Erdgeschoss leise eine Tür geschlossen worden. Doch nun, als Anja konzentriert lauschte und nicht einmal zu atmen wagte, war nichts mehr zu hören.

Nach einer Minute, in der ihr eigener Herzschlag der einzige Laut war, den sie vernahm, stieß sie die Luft aus und atmete tief durch. Anschließend setzte sie sich wieder in Bewegung, bemühte sich aber um absolute Geräuschlosigkeit, als sie ihren Weg fortsetzte. Am oberen Ende der Treppe verharrte sie erneut, um zu lauschen, doch es blieb weiterhin still. Daraufhin begann sie, langsam und leise die Stufen hinabzusteigen.

Der Erdgeschossflur war noch immer verlassen. Allerdings stellte Anja fest, dass die Tür zum Wohnzimmer, die sie offengelassen hatte, jetzt zu war.

Also hatte sie sich nicht getäuscht, sondern tatsächlich gehört, dass die Tür geschlossen worden war. Das hieß, dass sie nicht allein im Haus war, sondern Gesellschaft hatte.

Die Atmosphäre innerhalb des Hauses verwandelte sich schlagartig von bedrückend in feindselig.

Anja überlegte, was sie tun sollte. Das Haus durch den Vordereingang zu verlassen und so schnell wie möglich Verstärkung zu rufen, erschien ihr das Vernünftigste zu sein. Doch nicht immer war die vernünftigste Lösung auch die beste.

Was, wenn es der Widersacher war, der sich noch im Haus aufhielt? In dem Fall hätte sie die einmalige Gelegenheit, ihn auf frischer Tat zu ertappen oder zumindest einen Blick auf ihn zu erhaschen. Dann wüsste sie endlich, mit wem sie es zu tun hatte und ob ihr Verdacht, dass es sich um ihren Onkel handelte, richtig war.

Ungeachtet der Gefahr und der Tatsache, dass sie noch immer unbewaffnet war, ging Anja zur Wohnzimmertür. Die Aussicht, endlich den Mann zu erwischen, der ihren Vater und ihren Ehemann umgebracht hatte, ließ sie alle Sicherheitsbedenken und die Gefahr, in die sie sich dadurch begab, vergessen. Immerhin achtete sie wenigstens weiterhin darauf, sich von den nassen Fußabdrücken auf dem Boden fernzuhalten.

Vor der Tür blieb sie stehen und legte ihre behandschuhte Hand auf die Klinke. Ihr kam es so vor, als wäre der Türgriff noch warm von der Person, die ihn vor ihr benutzt hatte, doch das war vermutlich nur Einbildung.

Doch bevor sie die Tür öffnen konnte, zeigte ihr Verstand ihr Bilder dessen, was passieren könnte, wenn sie es tat. Die Person, die die Tür geschlossen hatte, befand sich unter Umständen noch immer im Wohnzimmer. Und sobald Anja die Tür geöffnet hatte, sprang sie auf sie zu und stieß ihr ein Messer in den Körper. Oder sie hatte sich aus dem Staub gemacht und dafür Carina Arendts Leiche zurückgelassen, die wie Anjas Vater und Ehemann von der Decke baumelte.

Die schrecklichen Vorstellungen ließen sie erschaudern. Dabei wusste sie nicht einmal, was schlimmer wäre. Von einem Killer mit einer tödlichen Waffe angegriffen zu werden, oder aber erneut einen von der Decke hängenden Leichnam zu finden, was ihr öfter widerfahren war, als ihr lieb war.

Anja nahm zögerlich die Hand von der Türklinke. Sie wollte sich abwenden und unverrichteter Dinge weggehen. Schließlich ging sie das, was in diesem Haus geschehen war, nichts an. Wieso sollte sie sich also deswegen in Gefahr begeben oder sich einem Anblick aussetzen, der ihr zu denen, die sie ohnehin bereits hatte, allenfalls weitere Albträume bescheren würde?

Doch dann besann sie sich darauf, dass es sie als Polizistin sehr wohl etwas anging. Und das nicht nur, weil jemand eine Nachricht mit dem Foto und dem Namen der Frau vor ihre Tür gelegt hatte und sie sich deshalb verantwortlich fühlte. Außerdem wollte sie in ihrer Suche nach dem Mann, der neben ihrem Vater und ihrem Mann zahlreiche andere Menschen umgebracht hatte, endlich einen entscheidenden Schritt vorankommen. Und das schien in diesem Moment in greifbare Nähe gerückt zu sein. Aus diesen Gründen musste sie diese Tür öffnen und nachsehen, auch wenn es bedeutete, dass sie einem Killer direkt in die Arme lief oder etwas Schreckliches fand. Und abgesehen davon war sie schlicht und ergreifend neugierig.

Also legte sie ihre Hand wieder auf die Klinke. Sie leerte ihren Verstand, um keine weiteren Schreckensszenarien heraufzubeschwören, die in diesem Augenblick wenig hilfreich wären. Dann öffnete sie kurzentschlossen die Tür.

Innerlich hatte sich Anja auf alles vorbereitet, doch was sie vorfand, war nur ein leeres Zimmer, das sich in einem einzigen Detail von dem Zustand unterschied, in dem sie es zuvor verlassen hatte: Die Terrassentür stand nämlich weit offen.

Anja stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte, und ging zur Terrassentür. Sie warf einen kurzen Blick nach draußen, konnte aber niemanden entdecken. Erneut hatte sie das Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Da sie sich im hell erleuchteten Wohnzimmer wie auf dem Präsentierteller vorkam, kehrte sie eilig in den Flur zurück.

Auf dem Weg zur Eingangstür kam sie an einem mannshohen Garderobenspiegel vorbei. Beiläufig warf sie einen Blick hinein. Doch was ihre Aufmerksamkeit erregte, war nicht ihr eigenes Spiegelbild, sondern das Foto, das in Augenhöhe auf der Spiegelfläche klebte.

Anja blieb abrupt stehen. Sie erschauderte erneut, und ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Automatisch sah sie sich um, doch außer ihr war noch immer niemand im Flur. Sie richtete ihren Blick wieder auf das Foto am Spiegel und ging dann langsam näher heran, als widerstrebte es ihr, sich ihm zu nähern.

Je mehr die Distanz zwischen ihr und dem Foto schrumpfte, desto mehr Einzelheiten konnte sie erkennen. Dabei hatte sie bereits beim ersten Blick gewusst, um was es sich handelte und was sie darauf sehen würde.

Es handelte sich um die Aufnahme einer Polaroid-Sofortbildkamera. Anja hatte ein ähnliches Foto, das sich kaum von diesem hier unterschied, bei sich zu Hause. Der Widersacher hatte es für sie am Grab ihres Vaters auf dem Waldfriedhof hinterlegt, in einem ähnlichen Umschlag wie dem, den sie heute auf ihrer Türmatte gefunden hatte.

Auch auf der Aufnahme am Spiegel war das Gesicht ihres Vaters zu sehen. Er hatte eine Schlinge um den Hals und blickte voller Angst und Panik in die Kamera. Es musste wenige Minuten, wenn nicht sogar Augenblicke vor seinem Tod aufgenommen worden sein.

Da Anja das erste Polaroidfoto bereits so oft angesehen hatte, dass sie es in- und auswendig kannte, bemerkte sie sofort die Unterschiede, auch wenn diese nur geringfügig waren, da die Aufnahmen rasch hintereinander erfolgt sein mussten. Auf dem Foto am Spiegel hatte ihr Vater den Kopf ein wenig mehr nach links geneigt. Außerdem stand sein Mund offen, als hätte er etwas gesagt, seinen Mörder womöglich um Gnade angefleht.

Anja, die nur noch wenige Zentimeter von dem Foto trennten, blieb stehen. Bei dem furchtbaren Anblick ihres Vaters unmittelbar vor seinem Tod traten ihr Tränen in die Augen. Für einen Moment schloss sie die Augen, worauf die Tränen über ihre Wangen liefen. Sie hob die Hand und wischte sie mit dem Ärmel weg.

Doch dann rief sie sich wieder in Erinnerung, dass sie sich an einem potenziellen Tatort befand, was ihr dabei half, sich zusammenzureißen. Sie öffnete die Augen, atmete einmal tief durch und richtete den Blick wieder auf das Foto.

Immerhin hatte sie jetzt die absolute Gewissheit, dass ihr alter Widersacher hinter der Nachricht vor ihrer Tür steckte und bei dieser Sache seine dreckigen Finger im Spiel hatte.

Anja griff nach dem Foto, das mit einem Klebestreifen auf der Spiegeloberfläche befestigt war, und riss es ab. Sie drehte sich um und besah sich die Rückseite, doch dort standen im Gegensatz zum ersten Foto, das sie bekommen hatte, keine Worte. Ohne die Vorderseite noch einmal anzusehen, steckte sie es in die Innentasche ihrer Jacke. Ihr war bewusst, dass sie damit ein Beweisstück von einem Tatort entfernte. Doch ihr Entschluss, den zuständigen Ermittlern nichts von Jack zu erzählen, stand längst fest. Ihrer Meinung nach hatte er die Frau, sofern sie erwiesenermaßen tot war, ohnehin nicht eigenhändig umgebracht. Sollten sich die Kollegen daher ruhig auf die Suche nach dem wahren Täter machen, während sie weiterhin nach dem Mörder ihres Vaters suchte, der es wie immer vorzog, im Hintergrund die Fäden zu spinnen und im Verborgenen zu bleiben.

Allerdings war es gut möglich, dass er bis soeben noch hier gewesen war. Höchstwahrscheinlich hatte er die Polaroidaufnahme an den Spiegel geklebt, als Anja oben im Badezimmer gewesen war, und war erst dann verschwunden.

Erneut überlief sie ein eiskalter Schauder, als sie daran dachte, wie nah sie ihm unter Umständen gewesen war. Und doch war er ihr wie ein glitschiger Fisch ein weiteres Mal durch die Finger geflutscht.

Anja seufzte, bevor sie sich schließlich abwandte und ihren Weg zur Haustür fortsetzte. Sie zog die Überzieher von den Schuhen, bevor sie das Haus verließ und nach draußen in den Vorgarten trat. Dort holte sie ihr Handy heraus und überlegte, wen sie anrufen sollte.

Am liebsten hätte sie Kriminalhauptkommissar Peter Englmair von der Mordkommission informiert. Sie hatte bereits mehrere Male mit ihm zusammengearbeitet, und obwohl sie seinen Partner, Kriminaloberkommissar Anton Krieger nicht besonders leiden konnte, schätzte sie Englmair dafür umso mehr. Allerdings hatten die Mordermittler längst Feierabend und wären wahrscheinlich alles andere als erfreut, wenn Anja sie jetzt störte. Außerdem war es noch gar nicht erwiesen, dass es sich im vorliegenden Fall um einen Mord handelte. Und selbst wenn es so war, wurde der Fall möglicherweise nicht Englmair und Krieger, sondern einem anderen Ermittlerteam übertragen.

Aus diesen Gründen beschritt Anja den offiziellen Weg und rief in der Einsatzzentrale in der Ettstraße an. Sie erklärte dem Beamten am anderen Ende der Leitung in knappen Worten, worum es ging, und bat ihn dann, ein Team des Kriminaldauerdienstes vorbeizuschicken.

Sobald sie das Gespräch beendet und ihr Handy wieder weggesteckt hatte, sah sie sich um. Doch es war noch immer niemand zu sehen, weder auf der Straße noch in einem der Fenster der Nachbarhäuser. Abgesehen von den Straßenlaternen und den Lichtern in den Fenstern wirkte die Straße wie ausgestorben. Wenigstens hatte es inzwischen vollständig zu regnen aufgehört. Die Wolkendecke war aufgerissen, und durch den Riss, der an eine offene Wunde erinnerte, waren Sterne und der sichelförmige Mond zu sehen.

Immerhin hatte Anja nicht das Gefühl, dass sie momentan beobachtet wurde. Dennoch kam sie sich hier vor dem Haus im Licht der Lampe über der Tür wie bereits im Wohnzimmer so vor, als säße sie auf dem Präsentierteller. Sie fröstelte unwillkürlich, allerdings nicht vor Kälte, und hob die Schultern. Dann zog sie sich hinter einen dichten, übermannshohen Strauch zurück, wo sie von der Straße und den benachbarten Häusern nicht sofort gesehen wurde, selbst aber alles beobachten konnte. Dort wartete sie ungeduldig auf die Kollegen vom Kriminaldauerdienst und knabberte an ihrer Unterlippe.

DER REGENMANN

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