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Vollständige Konkurrenz: Opium der Eliten

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Die intellektuelle Grundlage dieser Dilemmas war die zunehmend verbreitete Ansicht von Ökonomen, auf den Märkten herrsche »vollständige Konkurrenz«32, das heißt, es gebe eine geringe Anzahl homogener Waren, und keine Einzelperson besitze oder kaufe einen großen Teil von ihnen. Alle ständen gezwungenermaßen in hartem Konkurrenzkampf, um die eigenen Produkte zu verkaufen und die von ihnen benötigten Dinge von anderen zu kaufen. Getreide ist ein klassisches Beispiel für einen Markt mit vollständiger Konkurrenz. Kein Getreideproduzent besitzt einen großen Marktanteil, sodass kein Produzent den Preis signifikant beeinflussen kann. Weil außerdem so viele Müller, Viehzüchter und Bäcker Getreide kaufen, kann kein Käufer durch verweigerte Ankäufe den Preis niedrig halten. Alle müssen den Preis akzeptieren, den der Markt ihnen bietet.

Allerdings funktionieren nur wenige Märkte in der realen Welt auf diese Weise, wie richtungsweisende Wirtschaftstheoretiker wie Joan Robinson festgestellt haben.33 Betrachten wir einen Hauskauf. Die Wohnungsmärkte, die dem mit vollständiger Konkurrenz am nächsten kommen, befinden sich in großen Städten, in denen Häuser häufig verfügbar werden und viele Menschen ein Haus kaufen möchten. Doch wie jeder weiß, der schon einmal ein Haus in einer Großstadt ge- oder verkauft hat, ist das System alles andere als perfekt. Häuser unterscheiden sich in ihrer Lage, ihrem Komfort, ihrer Aussicht, ihren Lichtverhältnissen und so weiter. Sie sind keineswegs homogen und nicht annähernd mit Getreide zu vergleichen (dessen Homogenität seinerseits das Ergebnis einer sorgfältigen Ausgestaltung des Marktes ist).34 Das Scheitern der Bemühungen um eine Einigung kann monatelange Verzögerungen bedeuten, während derer die Käufer möglicherweise nach anderen Häusern suchen, die eher ihren Bedürfnissen entsprechen.

Das bedeutet, dass Käufer und Verkäufer beide über eine erhebliche Verhandlungsmacht verfügen. Jede Partei bemüht sich nach Kräften festzustellen, was die andere zu zahlen oder akzeptieren bereit wäre, und rangelt um den bestmöglichen Preis. Ein solches strategisches Verhalten führt häufig zum Scheitern von Geschäftsabschlüssen. Selbst wenn sie zustande kommen, wird dabei viel Zeit und Mühe vergeudet. Diese Probleme potenzieren sich noch bei komplexen geschäftlichen Transaktionen. Bei Bebauungsvorhaben zum Beispiel, bei denen zahlreiche zusammenhängende Grundstücke gekauft werden müssen, um eine Fabrik oder ein Einkaufszentrum zu bauen, sitzen die bestehenden Hausbesitzer am längeren Hebel, weil der Einsatz für den Bauunternehmer so hoch ist. Viele Hausbesitzer werden einen hohen Preis verlangen und das Projekt verzögern oder gänzlich zum Erliegen bringen.

Die meisten Märkte, an denen Einzelpersonen und Unternehmen teilnehmen, ähneln eher dem Wohnungsmarkt als dem Getreidemarkt. Fabriken, geistiges Eigentum, Unternehmen, Gemälde – sie alle sind sehr spezifische, einzigartige Vermögenswerte. In diesen und vielen anderen Fällen ist die Annahme vollständiger Konkurrenz wenig sinnvoll. Das Gleiche gilt für die Arbeitsmärkte, da alle Arbeitnehmer unterschiedliche Begabungen und Neigungen haben und an unterschiedlichen Orten leben. Selbst auf vielen Märkten für relativ homogene Waren wie dem der Internetanbieter oder Flüge haben einige wenige Firmen eine marktbeherrschende Stellung. Und selbst wenn es viele solcher Unternehmen zu geben scheint, gehören sie häufig denselben Besitzern oder arbeiten zusammen. Von unten nach oben ist die Wirtschaft von Marktmacht – den Fähigkeiten von Unternehmen oder Einzelpersonen, die Preise zu ihren Gunsten zu beeinflussen – durchdrungen. Wir behaupten, dass Marktmacht allgegenwärtig und der derzeitigen institutionellen Struktur des Kapitalismus zu eigen ist und dass sie eine der zwei Hauptquellen von stagnequality und politischen Konflikten ist.

Das andere Hauptproblem besteht unserer Ansicht nach darin, dass manche Märkte zwar durch Marktmacht blockiert sind, in vielen Bereichen des menschlichen Lebens jedoch kein Markt besteht, der das Wohl der Menschen erheblich verbessern könnte. Am gravierendsten ist das Problem für Waren und Dienstleistungen, die normalerweise von staatlicher Seite gestellt werden wie etwa Polizei, öffentliche Parks, Straßen, Sozialversicherung und die Landesverteidigung: Benötigt wird ein Markt für politischen Einfluss.

Ein Markt für politischen Einfluss? Das klingt absurd. Würde die Politik nicht von einigen wenigen Plutokraten kontrolliert, wenn Geld politischen Einfluss kaufen könnte? Die Geschichte politischer Korruption in den USA des späten 19. Jahrhunderts spricht dafür. Lokalpolitiker wurden in der Regel von Parteimaschinen, Eisenbahntycoons und Ölbaronen bestochen.

Doch das alternative Modell, nach dem alle Bürger die gleiche Stimme haben sollten und jedes Thema somit nach dem Mehrheitsprinzip entschieden wird, hat seine eigenen eklatanten Schwächen. Was geschieht mit der Minderheit, wenn die Mehrheit das Sagen hat? Ein Thema wie etwa das Recht von Transgender-Personen, eine Toilette ihrer Identität zu benutzen, oder das Verbot von Abtreibungen liegt ihr möglicherweise sehr am Herzen, doch hat sie keinerlei Möglichkeit, den Einfluss auszuüben, der im Verhältnis zur Bedeutung dieses Themas für sie steht. Das Prinzip der Wahlgleichheit, »One-person-one-vote«, verhindert Kompromisslösungen zwischen verschiedenen Gruppierungen und führt zu dramatischen Machtumschwüngen zwischen ideologischen Blöcken.

Die Politik ist nicht der einzige Bereich des heutigen Lebens, in dem es so gut wie keine Märkte gibt. Strenge Zuwanderungsbeschränkungen verhindern den grenzüberschreitenden Handel mit Arbeitskraft und schaffen eine Lücke auf dem Arbeitsmarkt. Daten, eines der wertvollsten Güter in der Digitalwirtschaft, werden von Unternehmen wie Google und Facebook gesammelt und zu Geld gemacht, doch die Nutzer, die diese Daten schaffen, erhalten keine direkte Kompensation. Ein dringend benötigter Markt für Daten existiert einfach nicht. Unsere Marktwirtschaft mit angeblich vollständiger Konkurrenz krankt anscheinend tatsächlich an monopolisierten und fehlenden Märkten.

Diese Beobachtungen stellen die rosigen Annahmen der üblichen ökonomischen Rhetorik in Frage, deuten aber auch auf verpasste Chancen hin. Wenn wir uns der Tatsache stellen, dass die Märkte von Marktmacht beeinträchtigt werden und häufig sogar gar nicht bestehen, dann können wir vielleicht der Polarisierung zwischen Links und Rechts entgehen und den Kampf der Radicals gegen Vorurteile und Privilegien wiederbeleben.

Wir sind der Markt!

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