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Konflikte unterschiedlicher Gehirnareale

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Im menschlichen Gehirn können wir drei Areale unterscheiden, die jeweils ganz andere Bereiche unseres Lebens steuern; sie haben sich im Laufe der Evolution herausgebildet.1

Das innerste Areal bezeichnen wir als Stammhirn. Das Stammhirn befindet sich am verlängerten Rückenmark. Es regelt unsere Vitalfunktionen: Herzschlag, Blutdruck, Atmung; Nahrungsaufnahme und Verdauung, Schlafen und Wachsein; alles, was dem Überleben des Individuums dient. Darüber hinaus wird auch die Fortpflanzung, also die sexuelle Libido, vom Stammhirn geregelt. Es wird auch Reptiliengehirn genannt, es steuert die Instinkte. Alle Wirbeltiere haben ein Stammhirn – also Vögel, Fische, Reptilien, und natürlich alle höheren Tiere, die Säugetiere wie der Mensch.


Abb. 1: Die drei Gehirne

Beim Menschen ist das Stammhirn verantwortlich für das grundsätzliche Erregungsniveau; dieses wird von der frühen Mutter-Kind-Bindung wesentlich bestimmt. Die dargebotenen und empfangenen Reize bestimmen die Richtung und die Geschwindigkeit, mit der sich das Gehirn des Kindes entwickelt; das Gehirn des Menschen wird sich immer an seine Umgebung adaptieren.

Wenn die Mutter so ruhig und phlegmatisch ist, als stünde sie unter Beruhigungsmitteln, dann wird sich dieses gedämpfte Erregungsniveau auch auf das Kind übertragen. Und umgekehrt: Wenn die Mutter ständig nervös, ruhelos oder hektisch ist, wird das Kind sich auch daran anpassen. Die massive Zunahme von ADS deutet in diese Richtung. Wenn das Kind sich wenig bewegt, dann wird seine Muskulatur, werden sein Gleichgewichtssinn, seine Lunge und sein Herz unterentwickelt bleiben.

Ein erwachsener Mensch sollte in der Lage sein, sein Erregungsniveau zu modulieren: Wir können zwei Stunden aufmerksam und ruhig einen Vortrag anhören oder im Konzert stillsitzen, ohne umherzulaufen und ohne einzuschlafen. Wir können früh aufstehen und dabei wach und konzentriert sein.

In einem gewissen Ausmaß ist das möglich allein durch Selbstdisziplin. Diese können wir üben und verbessern, z.B. durch Yoga oder Meditation, oder auch durch einfache Konzentrationsübungen. Alternativ dazu können wir eine Tasse Kaffee trinken; das belebt Körper und Geist. Ein Übermaß an belebenden Substanzen zu sich zu nehmen, z.B. zwei Liter Kaffee pro Tag, Amphetamine oder gar Kokain, ist zumeist ein Versuch, körperliche Prozesse wie Müdigkeit oder Hunger „in den Griff zu bekommen“, d.h. aus einem inneren Prozess einen äußeren Prozess zu machen (siehe S. 71). Derartige chemische Manipulationen des Stammhirns, um „erwünschte“ Körperzustände zu erreichen, sind auf Dauer immer schädlich für den Körper.

Das nächste für unsere Betrachtungen wichtige Hirnareal ist das Zwischenhirn, auch Säugetierhirn genannt. Alle Säugetiere können untereinander Sozialbeziehungen aufbauen; sie schließen sich in Gruppen oder Familien zusammen. Für die Funktion der Gruppe und den Zusammenhalt ist es hilfreich, wenn es eine Rangordnung in der Gruppe gibt. In Säugetiergruppen gibt es daher immer ein Alphatier, z.B. im Wolfsrudel, bei Hirschen, Löwen usw.

Ein wichtiger Teil des Zwischenhirns ist das Limbische System, das ist der Bereich, der Gefühle wahrnimmt und weiterleitet. Ein weiterer wichtiger Teil ist der Thalamus; er besteht aus der Amygdala, dem Angstzentrum, und dem Hippocampus, der eine große Bedeutung für das Langzeitgedächtnis hat.

Das Zwischenhirn steuert die emotionalen Funktionen und die unmittelbare Einschätzung der sozialen Beziehung und Rangordnung. Es ist handlungsleitend, wenn es um Sympathie und Antipathie geht, um Abgrenzung und Zugehörigkeit. Es steuert Verhaltensweisen der sozialen Hierarchie wie Über- und Unterordnung, Unsicherheit, Schüchternheit, Beschwichtigung, Angeberei, Provokation, Konkurrenz usw.

Außerdem, so lehrt uns die Medizin, steuert es vegetative Funktionen wie z.B. den Wärme- und Wasserhaushalt, den Kohlenhydrat-, Eiweiß- und Fettstoffwechsel, die Schweißbildung und große Teile des motorischen Systems, wie z.B. die Muskelspannung.2

Das Zwischenhirn steuert also große Teile des autonomen bzw. vegetativen Nervensystems und hat dadurch einen größeren Einfluss auf unseren Gesamtzustand als das Denken; und das nicht nur in Ausnahmesituationen, wie z.B. in Prüfungen, beim Halten eines Vortrags, im Ehestreit usw., sondern vor allem auch im Alltag; wir richten unseren Alltag gerne so ein, dass unser Aktivierungslevel dem entspricht, was das Stammhirn vorgibt.

Metaphern und Märchen wirken im Zwischenhirn, indem wir sie mit einem tiefen Gefühl verbinden und uns mit dem identifizieren, was uns entspricht, womit wir uns verbunden fühlen. Der Hippocampus entscheidet, was im Langzeitgedächtnis gespeichert wird; Inhalte mit emotionaler Relevanz werden dabei bevorzugt. Deswegen wirken Märchen ein Leben lang, ähnlich wie eine durchgemachte Kinderkrankheit in der Regel eine lebenslange Immunität gegen diese Krankheit bewirkt, ohne dass unser Bewusstsein einen Einfluss darauf hat.

Selbstmotivation ist nur dann möglich, wenn wir eine Sinnhaftigkeit in unseren selbst bestimmten Handlungen erleben. Wenn wir in unseren Handlungen keinen Sinn finden, werden wir die Handlung einstellen; es sei denn, wir werden unter Druck gesetzt, weiterzumachen.

Das Zwischenhirn treibt uns dazu an, nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Suchen muss das Großhirn, der Neocortex! Das Zwischenhirn aber entscheidet, ob man ihn gefunden hat oder weitersuchen muss. Wenn der einzige Sinn des Lebens ist, satt gegessen Ruhe und Frieden zu erleben, was kann uns dann noch zur Tätigkeit animieren? Auch Gewöhnung ist eine Funktion des Zwischenhirns. Menschen haben die erstaunliche Fähigkeit, sich an fast alles gewöhnen zu können.

Wo wirkt eigentlich Alkohol? In allen Gehirnzentren gleichermaßen. Warum aber tut er uns so gut? Weil er im Zwischenhirn wirkt; Alkohol hilft dabei, sich in Gegenwart anderer Menschen wohl zu fühlen und zu entspannen, indem er z.B. Schüchternheit, Ängstlichkeit, Minderwertigkeitsgefühle auflöst: Alle unangenehmen Gefühle, die mit der Beziehung zu anderen Menschen zu tun haben (also mit „Rang“), lassen sich durch Alkohol erheblich abmildern.

Den dritten Bereich, das Großhirn, besitzen von allen Säugetieren nur wir Menschen in dieser entwickelten Form; bei allen anderen Säugetieren ist es sehr viel kleiner. Es ist der differenzierteste Teil des Gehirns; oft wird er einfach nur als „Gehirn“ bezeichnet. Bekannt ist, dass die linke und die rechte Hemisphäre des Großhirns wiederum unterschiedliche Funktionen haben: Links ist das Bewusstsein lokalisiert, die Logik, das Sprachzentrum; rechts das Unterbewusstsein, bildliche Erinnerungen, räumliche Wahrnehmung.

Eine der Aufgaben des Bewusstseins ist es, Unterscheidungen zu treffen. Es sind die kultivierten Anteile unserer Wahrnehmung, die Unterschiede wahrnehmen können. In der Kultur geht es darum, auszuwählen, zu differenzieren, um Vorlieben; darum, dass eine (Aus-)Wahl nicht der Notwendigkeit der Sachzwänge folgt, sondern der ästhetischen Präferenz des Betrachters.3 Für diese Fähigkeit zur Differenzierung brauchen wir ein bestimmtes Maß an freier Aufmerksamkeit, die durch die archaischen Gehirnareale oft eingeschränkt wird, ohne dass uns das bewusst ist.

Beide Hemisphären sind über den Balken, das Corpus callosum, miteinander verbunden. Für alle ganzheitlichen Funktionen des Großhirns, z.B. für Bewusstsein, Geist und Sinn für Ästhetik, ist es erforderlich, dass beide Hemisphären gut zusammenarbeiten; in der Regel ist das auch der Fall. Bei bestimmten Handlungen oder Eigenschaften sind die linke und rechte Hemisphäre unterschiedlich aktiv, so dass es zu einem Ungleichgewicht kommen kann4:

Übergewicht linke Hemisphäre Übergewicht rechte Hemisphäre
Wachzustand Trance/Hypnose
Rational Intuitiv
Logisch-grammatikalisch Musikalisch, rhythmisch, poetisch
Abstrakt Wortwörtlich-konkret
Analytisch Ausgleichend, verbindend
Gelenkt, geplant Spontan
Konzentriert Zerstreut, vergesslich
Denken Fühlen
Handeln Träumen
Bemühungen, Anstrengung Behaglichkeit, Trödeln

In vielen Situationen ist eine derartige Ungleichgewichtung sinnvoll. Es ist hilfreich, von einem Zustand in den anderen wechseln zu können, wenn die Situation es erfordert; manche Menschen scheinen allerdings dauerhaft auf eine der beiden Seiten fixiert. Wer in uns entscheidet, welche Seite das Übergewicht hat, wo der Fokus der Aufmerksamkeit liegt? Ein erwachsener Mensch kann selbst entscheiden, welcher Zustand in der jeweiligen Situation angemessen ist, das heißt, welche Hemisphäre des Großhirns die aktivere ist – ohne dass man bei dieser Entscheidung an „Hirnhemisphären“ denken muss. Wenn man aber nicht bewusst und präsent ist, sondern in Gedanken woanders, dann entscheiden das innere Prozesse, die parallel ablaufen. Und das Zwischenhirn entscheidet emotional, ohne Beteiligung des Bewusstseins. Wir nennen das dann infantil.

Die Funktionen von Stammhirn und Zwischenhirn sind bei den meisten Menschen recht ähnlich; Individualität, geistige Freiheit, persönliche Einzigartigkeit finden vor allem im Großhirn statt – wenn die tieferen Hirnareale das zulassen!

In der Hierarchie der drei Gehirnareale kommt nämlich das Großhirn an letzter Stelle: Das Stammhirn ist mächtiger als das Zwischenhirn, und das Zwischenhirn ist mächtiger als das Großhirn. Das Bewusstsein hat keinen direkten Zugriff auf tiefere Gehirnfunktionen: Wir können mit unserem Willen nicht unseren Herzschlag oder die Verdauung beschleunigen oder verlangsamen, und wir können auch emotionale Reaktionen wie Schüchternheit, Verlegenheit, Menschenscheu, Begeisterung und Verliebtheit nicht willkürlich ein- oder ausschalten. Was nicht heißen soll, dass wir ihnen ausgeliefert sind! Wir müssen aber lernen, wie man mit ihnen umgeht. Es verhält sich ähnlich wie mit dem Feuer: Wir sollten nicht glauben, dass der Mensch das Feuer „beherrscht“. Wir können aber lernen, es zu nutzen; die Regeln dieser Nutzung bestimmt immer noch das Feuer, nicht der Mensch!

Wenn das Zwischenhirn eine Gefahr meldet, stockt uns der Atem, und wir beginnen, angestrengt und beschleunigt zu denken, das heißt: Wir flüchten ins Großhirn und fragen uns: Was soll ich nur tun? Das Problem liegt im Zwischenhirn, aber wir suchen im Großhirn!

Dazu eine Allegorie: Ein Betrunkener kniet mitten in der Nacht auf dem Bürgersteig und tastet den Boden mit den Händen ab. Ein Passant fragt ihn: „Was suchen Sie denn? Kann ich Ihnen helfen?“ Der Betrunkene erwidert: „Ich suche mm…mmeinen Hausschlüssel! Ich komme in meine Www…wohnung nicht rein!“ Jetzt suchen beide gemeinsam den Bürgersteig ab, vor dem Hauseingang, unter der Laterne, neben den Autos. Bald sagt der Passant: „Also, ich finde hier auch nichts. Sind Sie sicher, dass Sie den Schlüssel hier verloren haben?“, worauf der Betrunkene erwidert: „Nein, nein, ich habe ihn da drüben verloren, im Park. Aber da kann ich nicht suchen, da ist es furchtbar dunkel. Hier ist es doch wenigstens hell!“

Die archaischen Gehirnzentren verhindern oft die Entwicklung des Geistes: Verdrängte Erinnerungen, nicht abgeschlossene Situationen, eingeprägte Erfahrungen „feuern“ aus dem Hinterhalt und versetzen das Zwischenhirn in Anspannung und Erregung – man wird vielleicht nervös, und man wendet seine Aufmerksamkeit ab vom Orte des Geschehens und sucht im Großhirn: Man denkt nach. Aber was man dort findet, sind meistens nur Erklärungen, keine Lösung. Man reagiert weiterhin mit einem nicht der Gegenwart angepassten Verhalten; man ist vielleicht chronisch angespannt oder ständig unter Druck, phlegmatisch oder verängstigt; damit reagiert man meist auf die Vergangenheit, nicht auf die Gegenwart! Aus diesen Zuständen heraus hat man allzu oft keine Wahlfreiheit mehr, sich der Gegenwart angemessen zu verhalten.

Kurz gefasst: Das Stammhirn steuert die biologischen Funktionen, das Zwischenhirn die Sozialbeziehungen und Gefühle und das Großhirn die mentalen Funktionen. Unser Wille ist nur dann frei, und wir haben nur dann Zugang zu unserem Geist, wenn sich Stammhirn und Zwischenhirn im Gleichgewicht befinden. Ich komme später darauf zurück.

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