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Jede Minute zählt

Vor dem Haus gegenüber steht die Feuerwehr, breitbeinig und präsent, mitten auf der Straße. Die Wagentüren offen, Blaulicht, das Martinshorn vorübergehend ausgeschaltet. Die Feuerwehrmänner, gelernte Rettungssanitäter, laufen mit der Trage in den 2. Stock. Gleich darauf vibriert die Luft, die Scheiben klirren: Der Rettungshubschrauber aus der Uni-Klinik landet vor meinem Fenster auf der Wiese, einem unbebauten Eckgrundstück. Der Notarzt und sein Assistent laufen über die Straße, auch in den 2. Stock. Nach zehn Minuten kommen sie wieder herunter, deutlich langsamer. Steigen in den Hubschrauber, Motor wieder an, nach drei Minuten sind sie weg.

Weitere drei Minuten später, und die alte Dame aus dem 2. Stock erscheint: 76 Jahre, Schlaganfall. In einer Art Rollstuhl, getragen von den beiden Feuerwehrmännern, wird sie im Rettungswagen verstaut und ins nächste Krankenhaus gebracht, mit Sonderrechten: mit Blaulicht und Horn. Ihre Hauspflegerin hat sie gefunden und die Feuerwehr alarmiert. Bei Verdacht auf Herzinfarkt kommt der Notarztwagen; ist der nicht verfügbar, kommt der Rettungshubschrauber: Im Ernstfall wird der Patient in die Klinik geflogen, jede Minute ist kostbar.

Es gilt, Menschenleben zu retten wie unter Kriegsbedingungen: So oder ähnlich muss es aussehen, wenn Elitetruppen hinter den feindlichen Linien landen, um ihre verletzten Kameraden aus der Kampfzone zu bergen. Soldaten werden in den Krieg geschickt, um ihr Leben zu riskieren, den Tod vor Augen um den Sieg zu kämpfen. Wenn sie dabei umkommen, nimmt man das in Kauf. Werden sie verwundet, wird man sie mit höchstem Einsatz zu retten versuchen, um jeden Preis.

Oma Müller, die alte Dame, die jetzt den Schlaganfall bekam, hat jahrelang ihre Wohnung nicht mehr verlassen, selbst, als sie es noch konnte. Wohin hätte sie auch gehen sollen? Woran hätte sie noch Freude haben können? Sie hat ihr Leben nicht mehr gelebt, sie hat es ausgehalten. Die Zeit zog sich dahin, ein Jahr wie das andere. Plötzlich aber kommt es auf jede Minute an.

Menschen brauchen im allgemeinen Jahrzehnte, um ihre Gesundheit zu ruinieren. Jahrelange Arbeit, um den Körper herunterzuwirtschaften. Wenn dann der Ernstfall eintritt, steht uns ein Rettungssystem zur Verfügung, das innerhalb von Minuten unser Überleben sicherstellt – damit wir nach der Entlassung so leben wie vorher.

Weiß von uns noch irgendjemand, was das für ein Krieg ist, den wir da führen? Welchen Sieg erhoffen wir, für den es sich lohnt, unsere Gesundheit zu gefährden wie Soldaten im Krieg? Ich weiß es jedenfalls nicht.

Versehrte und Invaliden im Stadtbild

Wenn man sich umschaut im Stadtbild, entdeckt man bald ähnlich viele Versehrte, Gehbehinderte, Rollstuhlfahrer wie kurz nach dem Krieg.

Sind das die Invaliden der Moderne? Oder gab es von ihnen schon immer so viele, nur dass sie heute nicht mehr bereit sind, sich zu verstecken? Man zeigt sich wieder, mit all seinen Gebrechen. Stolz zeigt der Veteran die Narben aus der Schlacht. „Ich bin schwerbehindert“, sagt man in ähnlicher Weise wie „Ich habe einen Bandscheibenvorfall“ oder „Ich hatte schon zwei Herzinfarkte!“, nicht ohne Stolz. Man schuftet so lange, bis es wirklich nicht mehr geht. „Ich bin frühpensioniert“ ist nicht etwa ein Makel, den man zu verbergen sucht, sondern ein Beweis dafür, hart gearbeitet zu haben – zu hart.

„Ich bin Sozialhilfeempfänger“, sagt man eher nicht so laut; man zeigt still seinen Ausweis, um die Ermäßigung zu bekommen. „Ich bin kerngesund“ ist eher ein Makel, es scheint zu bedeuten: „Ich arbeite nicht allzu viel.“ „Ich arbeite, obwohl ich noch nicht ganz gesund bin. Ich schone mich nicht!“ – das ehrt einen. „Manchmal habe ich so viel Stress, dass ich am Tag drei Schachteln Zigaretten rauche“ – Arbeit und Rauchen vertragen sich gut, selbst Nichtraucher verstehen das. „Ich trinke am Tag sechs bis acht Flaschen Bier“ – das ehrt eher nicht. Jedenfalls nicht überall: Bier und Arbeit passen nicht zusammen. In allen drei dieser Fälle wird Arbeit als höherwertiger angesehen als Gesundheit.

Aus diesem Grund explodieren die öffentlichen Gesundheitskosten in ähnlichem Ausmaß wie im Kriegsfall die Kosten für das Militär. Friedenskosten dazu zu sagen, das brachte nicht einmal ein George W. Bush fertig. Also sollten wir auch nicht Gesundheitskosten sagen, Gesundheitskasse, Gesundheitshaus, sondern Krankheitskosten, Krankenkasse, Krankenhaus.

Im Kriegsfall ist man bereit, jeden Preis zu zahlen, um sein Überleben zu sichern. „Gold gab ich für Eisen“, hat meine Großmutter mir erzählt. Als Kind habe ich nicht verstanden, was sie damit meinte; es wurde mir auch nicht erklärt, weil in meiner Familie nicht über Krieg gesprochen wurde. Das ist aber ein schlechter Tausch! Da hat dich doch jemand reingelegt!, waren meine Ideen dazu, womit ich nicht ganz unrecht hatte: Kanonenkugeln sind aus Eisen, Schmuck ist aus Gold. Sie tat es, um mit zu helfen, den 1. Weltkrieg zu finanzieren. Die Kriegskosten zahlt der, der verliert; Reparationen nannte man das früher.

„Die Schulden müssen eben unsere Kinder bezahlen, dafür verteidigen wir sie jetzt“, heißt es heute. Es bleiben ein paar Fragen offen: Wann haben wir gewonnen? Oder genauer: Woran erkennen wir, dass wir gewonnen haben? – Falls wir denn gewinnen. Wer hat uns den Krieg erklärt? Oder: Wem haben wir den Krieg erklärt? An wen sind die fälligen Reparationen zu zahlen? In welcher Währung?

Woher kommt der massive Trend zur Wellness, Fitness, der hohe Bedarf nach Krankengymnastik, Massage, Kur? In allen Fällen handelt es sich um Tätigkeiten, die geeignet sind, Soldaten wieder fit zu machen für den Krieg.

Die meisten Menschen laufen zu langsam und essen zu schnell, sie laufen zu wenig und essen zu viel, sie lieben zu wenig und reden zu viel, sie schlafen zu wenig und streiten zu viel, usw.

Körperliche Bewegung oder gar Anstrengung versuchen wir im Alltag weitestgehend zu vermeiden. Wollen wir unsere Kräfte schonen für den Ernstfall? In der letzten Woche vor dem Wettkampf darf der Marathonläufer nicht mehr trainieren – keine Energie verschwenden, weil sie sonst im Wettkampf fehlt.

Überall Rolltreppen, Fahrstühle, Shuttle-Service. Es ist erschreckend, wie selbst junge Leute auf der Rolltreppe in sich zusammensacken, wie geduldig sie auf den Fahrstuhl warten, anstatt eine Treppe zu Fuß zu gehen. Viele Menschen wirken zutiefst erschöpft und körperlich abgearbeitet, ohne sich bewegt zu haben. Bald 10 % aller 30-Jährigen hatten schon einen Bandscheibenvorfall, aber nicht wegen Überlastung, sondern wegen Rückbildung der unbenutzten Muskeln. Ähnlich wie in Japan mehr als die Hälfte aller 10-jährigen Kinder bereits mindestens einmal ein Magengeschwür hatte – der Magen als Fokuspunkt japanischer Befindlichkeit, in Deutschland mangelndes Rückgrat?

Krieg im Gehirn

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