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Der Doppelgänger

Es war in einer regnerischen Novembernacht 2010, als der 44-jährige Dichter Georg Wirre glaubte, von jemandem verfolgt zu werden. Er ging gerade vom „Heidelberger Krug“ am Chamissoplatz, wo er mit sich selbst gezecht hatte, zur Nachtbus-Haltestelle am Platz der Luftbrücke. Erst fiel es ihm gar nicht auf, doch allmählich drang es in sein Bewusstsein, Schritte hinter sich zu hören. Wenn er anhielt, verstummten sie, und wenn er weiterging, hörte er sie wieder. Er drehte sich öfters um, aber niemand war zu sehen. Er hatte dieses Erlebnis fast schon vergessen, als er Mitte Dezember auf Empfehlung eines Bekannten die Lesung einer Autorin besuchte. Die Lesung fand in einem dieser neuen Szenelokale im Norden von Neukölln statt, aber nicht direkt in dem Lokal, sondern in einem darunter liegenden großen Kellerraum, der mit harten Stühlen ausgestattet war, auf denen ein längeres Sitzen zur echten Qual wurde. Mit sanfter, selbstgefälliger Stimme las eine elegant gekleidete Frau mittleren Alters groteske Texte über schwer gestörte Männer vor, die totale Versager, Mörder oder Triebtäter waren. Nach der Lesung verspürte Wirre das dringende Bedürfnis, wiedereinmal den „Heidelberger Krug“ aufzusuchen. Dort kippte er sich einige russische Wodkas hinter die Binde. Dabei musste er an die Lesung denken. Sah die Autorin alle Männer und somit auch ihn als psychiatrische Fälle an? „Nie wieder unter das Joch einer Frau!“, schwor er sich nach dem dritten Wodka. Schon seiner Mutter hatte er nie etwas recht machen können, und seine Exfrau konnte zu einer wahren Xanthippe werden, wenn er im Haushalt irgendetwas getan hatte, was ihrem Ordnungssinn zuwider lief. Dabei ging es um lächerliche Kleinigkeiten, wie um ein paar Krümeln, die von seinem Frühstücksbrot auf den immer blitzblanken Boden gefallen waren, oder um eine leere Zigarettenschachtel, die er irrtümlich in die Mülltüte mit dem Biomüll geworfen hatte. Ihm wäre das nie und nimmer aufgefallen, wenn seine Exfrau deswegen nicht so ein Theater gemacht hätte. Misstrauisch hatte sie jede noch so kleine Bewegung von ihm beobachtet, so als wäre er ein unberechenbares, nicht stubenreines Haustier. - Gegen zwei Uhr nachts bezahlte er seine Rechnung und machte sich, vom Wodka angenehm benebelt, auf den Weg zur Nachtbus-Haltestelle. In der menschenleeren Willibald-Alexis-Straße hörte er auf einmal wieder Schritte hinter sich. „Nein! Bitte nicht schon wieder!“, dachte er. Nun wollte er es aber wissen! Mit einem Ruck drehte er sich um, stolperte jedoch dabei über seine eigenen Füße und fiel hin. Im Fallen konnte er gerade noch sehen, wie eine schattenhafte Gestalt, die eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm zu haben schien, in einem Hauseingang verschwand. Schnell stand er auf, lief zu dem Hauseingang, doch die Gestalt war wie vom Erdboden verschluckt. Nun war Wirre völlig verwirrt. Bildete er sich das alles nur ein?

An einem Mittwochabend Anfang Januar des nächsten Jahres besuchte er eine Autorenlesung in Kreuzberg, die nahezu die Länge einer Wagneroper hatte. Sie begann um zwanzig Uhr und endete kurz vor Mitternacht. Wer eine Wagneroper schon einmal ausgesessen hat, weiß, was das einem an Geduld und Sitzvermögen abverlangt. Mit einer schwachen Blase sollte man da lieber nicht hingehen. Am Ende fühlt man sich wie erschlagen und kann sich kaum mehr bewegen. Gleich nach der Lesung fuhr Wirre völlig erschöpft mit der U-Bahn nach Hause. Bald schlief er auf dem Sitz ein. Irgendwann wurde er vom Rütteln des Waggons geweckt. Und siehe da, auf dem vorher leeren Sitzplatz ihm gegenüber saß nun ein Mann, der haargenauso aussah wie er! Genauso wie er hatte dieser Mann einen schmächtigen, fast zwergenhaften Körper und einen im Verhältnis dazu übergroßen Kopf mit schütterem fahlblonden Haar, kleinen rosaroten Ohren, Augen, die an die einer Eule erinnerten, einer großen Adlernase, dünnen Lippen und einem auffällig nach vorn ragenden Kinn. Auch der aschgraue Wintermantel, die braune Cordhose und die schwarzen Halbstiefel, die der Mann trug, glichen genau dem, was er anhatte. Während er den Mann verstört anstarrte, schien ihn dieser nicht zu beachten. Doch als er sich räusperte, da räusperte sich auch der Mann, und als er mit dem rechten Fuß scharrte, da scharrte auch der Mann mit dem rechten Fuß. Wirre rieb sich die Augen, kniff sich in die Haut, doch sein Gegenüber wollte sich nicht auflösen. War das eine wahnhafte Wahrnehmungsstörung, eine optisch-szenische Halluzination, wie sie in Psychiatrielehrbüchern beschrieben wurde? Doch das konnte nicht sein, denn der Mann, der ihm da gegenübersaß, war zweifelsohne echt. „Das kann nur ein verrückter Zufall sein“, versuchte er sich zu beruhigen. „Warum sollte es nicht einen Menschen geben, der einem äußerlich sehr ähnlich ist?“ Aber dass ihm der Mann auch in der Kleidung bis ins kleinste Detail glich, kam ihm höchst unheimlich vor. Er überlegte, ob es sich hier vielleicht um ein parapsychologisches, wissenschaftlich noch nicht erforschtes Phänomen handeln könnte. Vielleicht war ein Parallel-Ich von ihm aus einer Parallelwelt irrtümlich in diese Welt geraten, von der er bisher geglaubt hatte, sie sei die einzige Welt, die es gebe. Waren es die Schritte dieses Mannes, die er hinter sich gehört hatte? War dieser Mann jene Schattengestalt, die spurlos in einem Hauseingang verschwunden ist? Verstellte dieser sich jetzt und tat nur so, als würde er ihn nicht kennen? Wirre wurde kotzübel. Er hatte schon genug Probleme am Hals, ein bis zum Anschlag überzogenes Bankkonto, Unterhaltsforderungen von seiner Exfrau, die er nicht bezahlen konnte, und Streit mit einem cholerischen Nachbarn, der als gewalttätig galt und einen beißwütigen Kampfhund besaß. Und nun auch noch dazu diesen Doppelgänger, womöglich aus einer Parallelwelt! Der fehlte ihm gerade noch zu seinem Glück!

Plötzlich fixierte ihn der Mann mit einem bösen Blick und fuhr ihn an: „Was glotzen Sie mich die ganze Zeit so blöd an? Glauben Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind? Sie schleichen mir schon seit Wochen nach! Und was soll diese idiotische Nachahmung von mir? Hat Sie meine Exfrau engagiert, damit Sie meinen Doppelgänger mimen, um mich in den totalen Wahnsinn zu treiben? Sie fehlen mir gerade noch zu meinem Glück! Ich habe schon genug Probleme am Hals!“ Wirre war fassungslos. Das durfte nicht wahr sein! Sein Gegenüber drehte ganz einfach den Spieß um! Empört schnauzte er zurück: „Das ist eine unverschämte Frechheit! Sie sind doch derjenige, der hier meinen Doppelgänger mimt und mir nachschleicht! Ich bin kein Doppelgänger, ich bin das Original! Was soll dieses ganze Affentheater? Verschwinden Sie wieder in Ihre Parallelwelt, aus der Sie gekommen sind! Das hier ist nicht Ihre Welt! Das hier ist meine Welt! Sie haben sich in der Welt geirrt!“ Da begannen die Eulenaugen des Mannes vor Wut zu glühen. Er sprang auf, packte Wirre an den Schultern und warf ihn mit ungeheurer Kraft auf den Boden. Wirre schwanden die Sinne. Verschwommen sah er besorgte Gesichter von Fahrgästen über sich. Dann verlor er das Bewusstsein.

Am nächsten Morgen erwachte er in einem Krankenhausbett. Eine Krankenschwester mittleren Alters sprach ihn mit sanfter, selbstgefälliger Stimme an: „Na, wieder klar im Kopf, junger Mann? Sie sind in der U-Bahn ins Koma gefallen. Ein Rettungswagen hat Sie zu uns gebracht. Als Sie wieder zu Bewusstsein kamen, haben Sie von einem Doppelgänger fantasiert, der Sie verfolgt. Gleich kommt ein Arzt, der Neurologe und Psychiater ist, um mit Ihnen zu reden und ein paar Tests zu machen.“ Wie seltsam! Diese Krankenschwester erinnerte Wirre fatal an die Autorin der monströsen Männergeschichten von der Lesung im Dezember letzten Jahres! Er fühlte sich unwohl in seiner Haut. Als er aber dann den eintretenden Neurologen und Psychiater erblickte, stellten sich ihm die Haare zu Berge. Vor ihm stand sein Doppelgänger, diesmal mit einem weißen Arztkittel kostümiert! Wirre sprang wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett und schrie: „Ich lass mich nicht von einem Verrückten für verrückt erklären!“ Schnell nahm er seine Wohnungsschlüssel und seine Brieftasche an sich, die auf dem weißen Tischchen neben seinem Krankenbett lagen, und floh, umflattert von einem viel zu großen weißen Nachthemd, das man ihm nach seiner Einlieferung angezogen hatte, aus dem Krankenzimmer. Während er durch die Gänge Richtung Ausgang hastete, hörte er Rufe hinter sich: „Halt! Stehen bleiben! Kommen Sie zurück! Haltet ihn auf!“

Als er endlich im Freien war, bekam er einen Schock von der klirrenden Winterkälte. Zum Glück stand eine Taxe vor dem Krankenhaus. Er lief hin, riss die hintere Tür auf und setzte sich auf die Rückbank. Am Lenkrad saß eine weißhaarige Frau. Wirre war etwas irritiert, eine so alte Frau, die vielleicht schon Uroma war, als Taxifahrerin zu haben. Er sah sie zunächst nur von hinten. Merkwürdiger Weise schien sie ihm irgendwie bekannt vorzukommen. Als sie sich zu ihm umdrehte und ihn anlächelte, hätte er vor Schreck fast wieder das Bewusstsein verloren. Er erkannte in ihr seine vor Jahren verstorbene Oma mütterlicherseits, die aus Tschechien stammte und die er nicht nur wegen ihrer Kochkunst geliebt hatte! Dann fuhr sie mit ihm los und sang dabei: „Ich fahre mit dir in den Himmel hinein“ (nach der Melodie des Evergreens „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“). Er protestierte: „Oma, ich will nicht in den Himmel fahren, ich will nach Hause!“ Die Oma: „Aber Georg, im Himmel i s t das Zuhause!“ Da überkam Georg Wirre eine wohlige Mattigkeit und er fiel in einen tiefen, erlösenden Schlaf, in dem sich die Wirren, in die er geraten war, in nichts auflösten.

Die Verschwörung

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