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Strunk und Aphrodite

Niemand hätte auch nur im entferntesten ahnen können, welche Folgen jenes Loch in einem Zahn haben sollte, das der Dichter Egon Strunk an einem Montagmorgen im Juli beim Frühstück mit der Zunge ertastete, nachdem er geistesabwesend in eine nicht entsteinte Olive gebissen hatte. Er rief sofort in der Praxis seines Zahnarztes am Mehringdamm an und bekam einen Termin für fünfzehn Uhr. Die Sprechstundenhilfe, mit der er telefonierte, informierte ihn, dass der alte Zahnarzt nicht mehr praktiziere und eine Frau Herzberg die Praxis übernommen habe. Strunk war das egal, wenn nur der Schaden an seinem Zahn schnell behoben wurde. Egon Strunk war vierundvierzig Jahre alt und alleinstehend. Er war von kleiner, schmächtiger Statur und hatte Augen wie glühende Kohlen, die darauf hindeuteten, dass etwas Vulkanisches in ihm schlummerte. Es gab da eine Besonderheit an ihm, die er als üblen Streich der Natur empfand. Er war mit einem mächtigen Geschlechtsteil ausgestattet, wie der kleine verwachsene Gott Priapos aus der griechischen Mythologie, dessen Phallus nur einmal von dem eines Esels an Größe übertroffen wurde, den er deshalb tötete. Im Gegensatz zu Priapos war aber Strunk sein übergroßes Teil überaus peinlich. Er begab sich nur selten und nur in weiten Hosen in die Öffentlichkeit, ging in kein Schwimmbad und schon gar nicht in eine Sauna. Auch die Nähe zu Frauen vermied er, litt aber an starker Liebessehnsucht und schrieb Liebesgedichte an eine nicht vorhandene Geliebte, die voll von Weltschmerz waren.

Kurz vor fünfzehn Uhr betrat er die Zahnarztpraxis am Mehringdamm, meldete sich bei der Sprechstundenhilfe im Vorraum an und wurde nach nicht allzu langer Wartezeit in den Behandlungsraum gerufen. Als er dort die neue Zahnärztin erblickte, verschlug es ihm die Sprache. Er bildete sich ein, Aphrodite, die griechische Göttin der Liebe sei ihm erschienen. Vor ihm stand eine etwa vierzigjährige Frau mit langem blonden Haar, meerblau leuchtenden Augen und einer recht üppigen Figur, die aber im Vergleich mit jener der Venus von Willendorf noch als schlank durchgehen konnte. Sie begrüßte ihn mit samtweicher Stimme: „Guten Tag! Mein Name ist Linda Herzberg. Was führt Sie zu mir?“ Strunk stammelte: „Gu-guten Tag! Mein Name ist Egon Stunk - nee! - Strunk.“ Von ihrem Anblick heillos verwirrt, hatte er fast den Grund seines Kommens vergessen, doch zum Glück fiel er ihm wieder ein. Frau Herzberg bat ihn, auf dem Behandlungsstuhl Platz zu nehmen, und beugte sich über ihn, um seinen lädierten Zahn zu untersuchen. „Ich muss ein wenig bohren und dann fülle ich das Loch. Soll ich Ihnen vorher eine Spritze geben?“ Er verneinte und sie begann zu bohren. Da geschah ihm etwas furchtbar Peinliches, ausgelöst durch ihre betörende, nach Jasmin duftende körperliche Nähe. Sein Tier da unten war plötzlich aus langem Schlaf erwacht und drückte immer fester gegen den Hosenstoff, so als wollte es just in diesem völlig unpassenden Augenblick ins Freie hinaus! Er wurde rot wie eine Tomate. Blickte ihn die junge Zahnarzthelferin, die bei der Behandlung assistierte, nicht schon so missbilligend an? Doch Frau Herzberg schien zum Glück nichts zu merken. Sie war zu sehr aufs Bohren konzentriert. Als ihn ihr üppiger Busen kurz streifte, stöhnte er unwillkürlich auf. „Tut es weh?“, fragte sie besorgt. „Nein, nein, es geht schon“, antwortete er und brannte dabei innerlich lichterloh. Er überlegte, ob für ihren Busen die Metapher „Früchte der Verheißung“ angemessen wäre, doch verwarf er sie gleich wieder, da sie ihm angesichts der göttlichen Wirklichkeit zu schwach vorkam. Dann kam ihm das Gedicht „Die Wünschelrute“ von Eichendorff in den Sinn: „Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.“ Ja, das Zauberwort, wenn er es doch nur finden könnte, um ihr näher zu kommen! Als die Behandlung zu Ende war, nahm er seinen ganzen Mut zusammen und fragte Frau Herzberg: „Darf ich Sie wiedersehen?“ Sie: „Aber ja! Ich wollte Ihnen ohnehin eine Kontrolluntersuchung vorschlagen. Wie wär’s in zwei Wochen?“ Fast hätte er einen Luftsprung vor Freude gemacht, obwohl er das mit dem Wiedersehen eigentlich privater gemeint hatte. „Ja, selbstverständlich, ich komme, wann immer Sie wollen!“, antwortete er. Zum Glück hatte sich sein renitentes Teil wieder beruhigt, doch traute er dem nicht so recht. Als ihm Frau Herzberg zum Abschied die Hand reichte, küsste er hurtig mit spitzen Lippen ihren Handrücken. Dabei beulte sich seine Hose wieder verdächtig aus. „Na, na, ist schon gut“, sprach Frau Herzberg huldvoll und entzog ihm ihre Hand.

Als er sich wieder draußen auf dem rege belebten Mehringdamm befand, erschien ihm die Welt vollkommen verändert. Alles glänzte und glitzerte im Sonnenlicht. Verse flossen ihm beim Gehen zu, die er begeistert deklamierte: „Ha, wie durchwirbelt Lust mich neu! Die Schwermut entflieht, vorbei ist die Scheu! Froh hüpf ich wieder, werd nimmer müd! Oh Welt, lass dich küssen, da Liebe mir blüht!“ Die Passanten starrten ihn befremdet an. „Ach, ihr versteht mich nicht, ihr armen Sterblichen!“, rief er so laut, dass sie einen großen Bogen um ihn machten. Dann befiel ihn die fixe Idee, seiner Aphrodite jetzt sofort rote Rosen zu schenken. Er kaufte in einem Blumenladen dreißig rote Rosen, eilte zur Zahnarztpraxis zurück und stürzte an der verdutzten Sprechstundenhilfe und den wie Kühe glotzenden Wartenden vorbei in den Behandlungsraum, wo seine Aphrodite gerade mit einem Patienten beschäftigt war. Strunk fiel vor ihr auf die Knie und streckte ihr den Rosenstrauß entgegen. Frau Herzberg rutschte vor Schreck der Bohrer im Mund des Patienten ab, der vor Schmerz aufschrie und vom Behandlungsstuhl sprang. Davon unbeirrt, begann Strunk mit wild aufgerissenen Augen Francois Villon zu rezitieren: „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund, ich schrie mir schon die Lungen wund nach deinem weißen Leib, du Weib...“ Weiter kam er nicht, denn die junge Zahnarzthelferin gab ihm beherzt eine Backpfeife, um ihn aus seinem Wahnsinn zu wecken. Doch Strunk war nicht mehr zu bremsen und bestürmte die Anwesenden: „Kommt, lasst uns der Liebeslust frönen! Das Zeitalter der Liebe ist angebrochen!“ In Blitzeseile zog er sich nackt aus und sein bisher unwertestes Teil, das ihm jetzt nicht mehr peinlich war, ragte von seinem kleinen Körper grotesk weit in den Raum. „Von wo ist der denn ausgebrochen?“, fragte der Patient mit schmerzverzerrtem Gesicht, wobei nicht ganz klar war, ob er den ganzen Strunk oder nur dessen monströses Teil meinte. Frau Herzbergs Schock war in Ärger umgeschlagen und sie schnauzte Strunk an: „Jetzt reicht es aber, Herr Strunk! Ziehen Sie sich sofort wieder an und gehen Sie nach Hause, am besten gleich unter die kalte Dusche!“

Strunk aber, der bereits im Plural liebte, lief nackt mit hin und her schwingendem Schwengel auf den Mehringdamm hinaus und predigte zur gesamten Menschheit: „Liebet euch, meine Brüder und Schwestern! Zieht euch nackt aus und liebet euch!“ Immer mehr Passanten blieben stehen und schauten ihm teils belustigt, teils kopfschüttelnd zu. Ein verwirrter junger Mann: „Ist das Jesus?“ Eine mehrfach gepiercte Punkerin: „Wenn das Jesus ist, bin ich die Jungfrau Maria!“ Eine ältere Dame fühlte sich von Strunks Predigt ergriffen und zog sich tatsächlich aus, zwar nicht ganz, aber immerhin bis auf ihre erstaunlich gewagten Dessous. Daraufhin begannen einige Zuschauer zu überlegen, ob sie ihrem Beispiel folgen sollten. Vielleicht war das ja irgend so eine verrückte neue Fernsehshow mit versteckter Kamera, und sie kämen ins Fernsehen, wenn sie sich auch ausziehen würden. Doch bevor es dazu kommen konnte, griff die von irgendeinem Feind der Liebe alarmierte Polizei ein. Ein Polizeiauto kam angesaust und bremste quietschend. Zwei kurzgeschorene Polizisten mit Sonnenbrillen sprangen raus, verhafteten Strunk und zerrten den sich mit Händen und Füßen Wehrenden in ihren Wagen. Der verwirrte junge Mann: „Kreuzigen die ihn?“ Die Punkerin: „Nee, das dürfen die heute nicht mehr.“ Die ältere Dame zog sich sichtlich enttäuscht wieder an. Die Menge der Gaffer zerstreute sich. Strunk wurde auf ein Polizeirevier gebracht und nach Hinzuziehung eines Amtsarztes und der Zustimmung eines Richters zwangsweise in die Psychiatrie eingeliefert. Dort verabreichte man ihm Antipsychotika mit dämpfender und schlafanregender Wirkung, was jedoch seine Verwandlung von einem Sterblichen in einen Unsterblichen nicht mehr aufhalten konnte. In der Psychiatrie kam ihm die ungeheuerliche Erkenntnis, selber ein Gott zu sein. Allerdings, und das war der springende Punkt, konnte er nur nackt ein Gott sein, auf keinen Fall aber bekleidet. Da ihm jedoch bewusst war, dass ihn die Ärzte nicht verstehen würden, erzählte er das keinem und verhielt sich ruhig und unauffällig, sodass er nach ein paar Wochen wieder entlassen wurde, selbstverständlich korrekt bekleidet.

Ein paar Tage später suchte er wieder die Zahnarztpraxis Herzberg auf, diesmal unangemeldet. Kurz, bevor er die Praxis betrat, zog er sich nackt aus. Er wollte von vornherein als Gott in Erscheinung treten und seine Mitgöttin Aphrodite von der einer Göttin unwürdigen Arbeit als Zahnklempnerin befreien. Er wollte sie in seine Wohnung mitnehmen und malte sich aus, wie glücklich sie sein würde, endlich in ebenbürtige, göttliche Gesellschaft zu kommen. „Oh nein! Bitte nicht schon wieder d e r!“, stöhnte die Sprechstundenhilfe auf, als die Tür zur Praxis aufging und zuerst ein riesiger, erigierter Penis erschien, dem etwas später dessen kleiner, schmächtiger Besitzer mit Augen wie glühende Kohlen folgte. Sie alarmierte sofort die Polizei. Was dann folgte, wird man sich denken können. Es ist ja heutzutage leider so, dass die Sterblichen einen unter ihnen weilenden Gott, der sich als solcher zu erkennen gibt, in die Klapsmühle sperren.

Die Verschwörung

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