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Die Vernissage

Es war ein Freitagabend Ende März 1998. Der junge Wiener Dichter Franz Gerstl stand vor der „Galerie Mai“ in Berlin-Mitte und zitterte vor Erregung. Nach zwei unendlich langen Jahren würde er Anna wiedersehen. Sie wusste nichts von seinem Kommen. Er kam unangekündigt. In den zwei Jahren hatte er an kaum etwas anderes denken können als an jene Dezembernacht in Wien, in der Anna und er sich den Wonnen einer Liebe hingegeben hatten, die eigentlich nicht sein durfte. Kurze danach ist Anna nach Berlin gezogen, da ihr diese Liebe unlebbar erschien und sie eine Katastrophe befürchtete. Beim Abschied vereinbarten sie, einander so lange aus dem Weg zu gehen, bis das Feuer der Liebe in ihnen erloschen war und sie zueinander wie Bruder und Schwester sein konnten. Nach Annas Abreise verwilderte Franz zusehends und trank zu oft und zu viel Alkohol. Seine Gedichte quollen über von Schmerz und Sehnsucht. Er schrieb, als befände er sich im freien Fall in einen bodenlosen Abgrund. Nach einem Jahr totaler Funkstille erhielt er endlich einen Brief von Anna, der sein Leiden aber noch verschlimmerte. Sie teilte ihm mit, in Berlin den bekannten Maler Friedrich Metzger kennen gelernt zu haben und seit kurzem mit ihm zusammenzuleben. Franz schrieb ihr zurück, er verstehe nicht, dass sie sich auf einen Mann einlasse, der vom Alter her ihr Großvater sein könnte. Er unterstellte Metzger, sie nur als Frischzellenkur für sich zu benutzen und ihr den Saft der Jugend auszusaugen. Danach schrieben sie sich regelmäßig Briefe. In ihrem letzten Brief hatte Anna eine bevorstehende Ausstellung von Metzger in der renommierten „Galerie Mai“ in Berlin erwähnt. Metzger will Aktbilder ausstellen, für die sie Modell gestanden hat. Nun hielt es Franz nicht mehr länger aus ohne sie. Er musste sie wiedersehen, auch wenn das gegen ihre Vereinbarung verstieß, denn unvermindert brannte in ihm das Feuer der Liebe zu ihr, das nicht erlöschen wollte. Also fuhr er nach Berlin zur Vernissage von Metzger.

Die „Galerie Mai“ war brechend voll. Im Mittelpunkt des Gedränges standen Friedrich Metzger und die Galeristin Luise Mai. Sie begrüßten die Gäste und tauschten mit ihnen Höflichkeitsfloskeln aus: „Schön, dass Sie gekommen sind!“, „Danke! Wir freuen uns auf die Ausstellung!“, usw. Der über sechzigjährige Metzger war ein stämmiger Mann mit faltigem Gesicht, langem grauen Haar, übergroßen Füßen und schwieligen Händen wie ein Bauarbeiter. Die kleine, schlanke Luise Mai war etwa so alt wie Metzger, verriet aber nicht ihr genaues Alter. Von ihrem Aussehen her konnte man sie gut und gerne für mindestens zehn Jahre jünger halten. Mit Metzger verband sie ein geradezu triebhaftes Streben nach Ruhm und Erfolg sowie eine Vorliebe für junge, frische Körper. Sie hielt sich junge, unbekannte Künstler als Geliebte, die hofften, über den Weg durch ihr Bett auf dem Kunstmarkt groß rauszukommen. An den Wänden der Galerie hingen großformatige Aktbilder mit Darstellungen immer derselben jungen Frau in verschiedenen, nahezu pornografischen Posen. „Das ist ja gut gemalt“, hörte man es im Publikum raunen. „Diese fließenden, formenden Pinselstriche und diese leuchtenden Fleischfarben! Aber musste es unbedingt sein, die Vaginas derart in den Vordergrund zu rücken, dass sie einen direkt anblicken?“ Ein paar Männer, die kurzsichtig zu sein schienen, traten so nahe an die Bilder ran, dass es den Eindruck erweckte, ihre Nasen würden jeden Moment in den gemalten Vaginas verschwinden. Einige Gäste wagten die Bilder nur kurz zu betrachten, denn sie dachten, was würden die anderen über sie denken, wenn sie da zu lange hinguckten. Die Kunstenthusiasten unter den Gästen blieben länger vor den Bildern stehen und studierten deren Komposition und Maltechnik, was ihnen aber nur zum Teil gelang, denn je länger sie die Bilder studierten, desto leibhaftiger trat die nackte, junge Frau hervor und verwirrte ihr Urteilsvermögen. In ihren Gesprächen überspielten sie die Verwirrung: „Gewagte Kompositionen, sehr barock! Und diese meisterliche Maltechnik! Diese Plastizität und Lebendigkeit der Körper!“

In einem hinteren Raum, der als Büro und Teeküche diente, unterhielt sich Anna mit Uwe, einem dünnen, vollbärtigen jungen Maler, der weiße Quadrate auf weiße Leinwände malte. Er war der aktuelle Geliebte von Luise Mai. Uwe: „Wie hältst du es bloß mit diesem Metzger aus, der nicht nur von seinem Aussehen, sondern auch von seinen Bildern her seinem Namen alle Ehre macht?“ Anna: „Dasselbe könnte ich dich bezüglich Luise, dieser lüsternen alten Vettel fragen.“ Uwe: „Du siehst in letzter Zeit so traurig aus.“ Anna: „Ach, das hat nichts mit Metzger zu tun. Er ist zu mir sensibler, als du denkst.“ Uwe: „Aber du musst dich von ihm vögeln lassen.“ Anna: „Das geht dich nichts an, was zwischen uns läuft. Ich mag ihn. Er lebt nur für seine Kunst und braucht dafür eine junge Muse, die ihn inspiriert und die er über alles verehrt. Diese bin zurzeit ich und bis jetzt gefällt mir diese Rolle.“ Kurzes Schweigen. Uwe: „Aber warum bist du dann traurig?“ Anna: „Mir fehlt ein sehr vertrauter Freund aus Wien. Ich mache mir große Sorgen um ihn. Er schreibt mir so depressive Briefe. Ich habe Angst, er könnte sich etwas antun.“ Uwe: „Dann lade ihn doch nach Berlin ein und muntere ihn auf!“ Anna: „Nein, das geht nicht.“ Uwe: „Wegen Metzger?“ Anna: „Nein, nicht wegen Metzger. Ich möchte nicht darüber reden. Reden wir lieber über dich und Luise. Was verlangt denn sie von dir im Bett?“ Uwe wich aus: „Ich denke dabei an meine weißen Quadrate und wie sie eines Tages in der Kunstwelt begehrt sein werden.“ Anna: „Aha, du denkst dir Luise dabei weg. Du übermalst sie im Geist mit einem weißen Quadrat, während sie auf dir reitet.“ Uwe: „Na, du hast ja eine blühende Fantasie! Die auf mir reiten? Wie soll denn das gehen? Ich bekomm bei ihr kaum...“ Uwe stockte, denn Luise schaute rein. „Uwe, kommst du mal? Ich möchte dich einer Freundin vorstellen.“ Gehorsam lief Uwe zu seinem Frauchen.

Anna nippte an ihrem Glas Sekt. Da hörte sie plötzlich Geräusche der Unruhe, die aus dem Ausstellungsraum kamen. Erschrocken guckte sie nach, was da los war. „Da ist ja der Franz! Wie kommt der denn hierher?“ Mitten im Raum standen sich Franz und Metzger wie zwei Kampfhähne gegenüber. Franz war kreidebleich und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Die Gäste waren an die Wände zurückgewichen. Franz rief: „Dieses schlüpfrige Geschmiere ist eine Beleidigung der Kunst! Diese Schinken sind seelenlos! Es fehlt ihnen die innere Glut, der heilige Wahn der Kunst!“ Wie sehr verachtete er diesen Metzger! Die Vorstellung, dass dieser seine Anna begrapschte, war ihm unerträglich. Nur Annas Augen, die von den Leinwänden blickten, hielten ihn davon ab, gegen Metzger handgreiflich zu werden. Er provozierte weiter: „Du alter Lustmolch! Du krallst dich umsonst an jungen Weibern fest, denn du kannst deinem nahenden Tod nicht entrinnen! Schon seh ich seinen Schädel durch die Farbschichten deiner Wichsvorlagen grinsen!“ Metzger, der ansonsten bei Streits stets die Ruhe bewahrte, verlor diesmal die Fassung. Er dachte: „Der Junge braucht dringend eine Tracht Prügel, damit er lernt, wie man sich zu benehmen hat!“, und forderte Franz auf: „Komm, lass uns auf die Straße rausgehen und das von Mann zu Mann klären!“ Er war zwar nicht mehr der Jüngste, aber er war sich sicher, mit diesem durchgeknallten Hänfling noch locker fertig zu werden. Da ging Anna dazwischen: „Franz, bitte beruhige dich!“ Franz, der sie jetzt erst wahrnahm, starrte sie an wie eine Marienerscheinung und vergaß Metzger. „Anna!“, stöhnte er auf. „Was machen die hier mit dir? Die stellen dich wie Frischfleisch in einem Metzgerladen aus! Diese blasierten Idioten geilen sich an deiner Nacktheit auf!“ Anna war erschüttert. Sie dachte, wie schön er sei, selbst in seiner Wut, und wie nahe sie sich ihm noch immer fühle. Sie umarmte ihn und drückte ihn fest an sich. Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an sie und begann hemmungslos zu weinen. Metzger begriff langsam die Situation: „Das muss ihr versoffener Bruder aus Wien sein, um den sie sich immer Sorgen gemacht hat! Der Junge ist ein Psychopath!“ Er überlegte, Anna zuliebe diesem Irren ein Friedensangebot zu machen. Doch angesichts der Umarmung der beiden hielt er es für sinnvoller, erst einmal abzuwarten, was weiter geschehen würde. Instinktiv spürte er, dass zwischen den beiden etwas nicht ganz koscher war. Er bekam so ein seltsames Gefühl, Anna in diesem Augenblick für immer zu verlieren, und wurde unsicher, was ihm gar nicht gefiel.

Luise wollte zuerst die Polizei rufen, doch nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, erkannte sie in dieser Szene ein publicityträchtiges Ereignis, welches die Ausstellung skandalumwittert erscheinen ließ. Schon überlegte sie, wie man das am besten vermarkten könne. Sie sprach einen anwesenden Journalisten von einer Berliner Tageszeitung an. Der hatte sich bereits einen Titel für seinen Bericht auf der Kulturseite ausgedacht: „Der Einbruch der Straße in den Raum der Kunst - Eklat bei der Vernissage von Friedrich Metzger.“ Das war ihr viel zu nichtssagend und unspektakulär. Vielleicht könnte man stattdessen schreiben: „Der heulende Untergang des Mannes inmitten nackter Frauen.“ Nein, das wäre 70er-Jahre, längst passé. Sie beschloss, Uwe zu fragen. Wozu hielt sie ihn schließlich aus? Vielleicht fiel ihm unerwarteter Weise ein knalliger postmoderner Titel ein. Doch als Uwe allen Ernstes „Das letzte Röcheln des Realismus vor dem Triumphzug der weißen Quadrate“ vorschlug, griff sie sich an den Kopf und erwiderte trocken: „Sag, tickst du noch ganz richtig? Was haben deine weißen Quadrate damit zu tun? Und was soll das außerdem für ein Triumphzug werden? Ein Schnarchen würde über die Welt kommen!“ Uwe war schwer beleidigt und schmollte. Schließlich gab es Luise auf, weiter über einen Titel nachzudenken. Schon meldeten sich die ersten Kaufinteressenten für Metzgers Bilder bei ihr.

Unterdessen gingen Anna und Franz in den Berliner Abend hinaus. Bald fanden sie eine gemütliche Bar mit schummriger Beleuchtung. Sie setzten sich in die hinterste Ecke und küssten sich innig wie Verliebte. Gleichzeitig spürten sie die Tragik ihrer Liebe, die gegen das uralte Verbot des sexuellen Verkehrs zwischen Bruder und Schwester verstieß. Metzger ging vor die Tür der Galerie, um nach ihnen Ausschau zu halten. Er wartete eine ganze Weile und rauchte dabei eine Zigarette nach der anderen, doch die beiden blieben verschwunden. Als er wieder die Galerie betrat, eilte glücklich strahlend Luise auf ihn zu. „Friedrich, wir haben ein Bombengeschäft gemacht! Alle Bilder sind verkauft! Sag, hast du die geniale Idee gehabt, den jungen Irren auftreten zu lassen? Der hätte sich direkt eine Provision verdient.“ Mürrisch verneinte Metzger ihre Frage. Das erste Mal, seit er Luise kannte, ging sie ihm auf die Nerven.

Die Verschwörung

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