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4. Die Suche nach dem Besten

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Die vormals gegebene gemeinsame Suche nach dem Guten wurde im Laufe der Zeit ersetzt durch eine Fülle von Spielarten der Suche nach dem Besten: Das jeweils Beste für die Familie, die Gesellschaft, für die Gemeinschaften, für Institutionen und Organisationen, für die Unternehmen wurde gesucht. So ist uns allen die Redewendung vertraut, dass es unsere Kinder einmal besser haben sollen als wir. Und so begann auch der Wettlauf um die je beste Platzierung eines Unternehmens am Markt, um die Gestaltung der besten Welt, Utopie genannt. Hierzu wurden säkulare Visionen eines befreit und befriedet geglaubten Lebens entworfen, die allesamt als Kernpunkt ihres Denkens die politischen und ökonomischen Verhältnisse, das Arbeitsleben und das Geschlechterverhältnis ins Auge fassten. Diese nunmehr anvisierte Ausgestaltung von Gesellschaft und Gemeinschaft nötigte zur Formulierung neuer gedanklicher Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Diese neugewonnenen Formulierungen traten zwar mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auf, in Wirklichkeit aber stellten und stellen diese nur einen sehr speziellen Willen der wenigen für und über die vielen anderen dar. Und scheinbar beglaubigt wurden diese utopischen Anstrengungen mit deren Verheißungen eines besseren Lebens.

Als Folge hiervon entstand eine Fülle von Ethiken, heute fassbar im „Ethikboom“ des öffentlichen Bereichs. Hatte man früher mit dem Begriff „Ethik“ noch die Gesamtheit des Handelns von Menschen als Gemeinschaftswesen im Blick, so werden heute die Antworten der Tradition in Fragen der Ethik als unzureichend bezeichnet. Verloren gegangen ist nämlich das gemeinschaftsstiftende Band der kulturgeschichtlichen Gewissheitsüberlieferung des christlichen Glaubens, der in Reflexion auf den späteren Humanismus und der noch späteren Aufklärung das ethische Denken handlungsleitend prägte. Anstelle dessen ist die Vorstellung einer postmodernen Gesellschaft getreten, die ihr Selbstverständnis darin findet, dass es keine allgemein verbindlichen ethischen Handlungsmaximen mehr gibt. Vielmehr gebe es nur noch ein Nebeneinander je selbstständiger Lebenskreise in Politik, Wissenschaft, Gesellschaft und auch Ökonomie mit je eigenen ethischen Handlungsformen. Daraus aber entsteht eine Unübersichtlichkeit für das gesamte Leben und Handeln der Menschen. So gibt es heute etwa ethische Entwürfe für die Politik, für die Medien, für die Medizin, für die Ökologie, für das Recht, für die Tiere, für die Technik, für die Gentechnologie, für das Geschlechterverhältnis, für die Geriatrie und schließlich auch für die Wirtschaft. Aufgrund dieser Unübersichtlichkeit werden im politischen, gesellschaftlichen, gemeinschaftlichen und auch unternehmerischen Denken und Handeln angewandte Ethiken immer mehr gebraucht. Denn je unübersichtlicher die Lebenslage der Menschen wird, desto mehr wächst das menschliche Bedürfnis nach einer normalen Klarheit und Überschaubarkeit des Lebens. Denn niemand kann sein Leben ständig reflektieren und nach allen Seiten hin absichern.

Angewandte Ethiken wollen nun diesem Bedürfnis nach Orientierung gerecht werden und hierbei die Richtigkeit und Stimmigkeit des je Vorhandenen ethisch ausweisen. Eine Folge hiervon ist, dass in diesem öffentlich geführten Diskurs vor allem die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft, in den Unternehmen und den Führungsetagen in einer ethisch geforderten Ausweispflicht betreffs ihres Handelns stehen. Denn deren Entscheidungen können tief in das Leben der Menschen eingreifen, angefangen von der Arbeitsplatzerhaltung bis hin zu ökologischen Folgen für den Lebensraum Erde. Aufgrund unserer medial geprägten Gesellschaft kann sich heute wohl keine Institution oder Organisation, kein Unternehmen mehr dieser Ausweispflicht entziehen. Mittels angewandten Ethiken und Leitbildern reagieren nun Institutionen und Unternehmen auf diese öffentlichen Anfragen. Erkenntnisleitend ist hierbei die Einsicht, dass öffentlichkeitsrelevantes Handeln in seiner Eigendynamik ohne ethische Verantwortung gegenüber den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften nur schwer zu vermitteln ist. Da aber zugleich in unserer pluralen und postmodernen Gesellschaft ein die verschiedenen Bereichsethiken verbindender und verbindlicher ethischer Grundkonsens nur rudimentär auszumachen ist, - denn zu jedem Argument kann immer ein Gegenargument, zu jedem ethischen Entwurf kann immer ein ethischer Gegenentwurf formuliert werden -, sind die hierbei Verantwortlichen und Führungspersonen in der Formulierung ihrer ethischen Standards auf sich allein gestellt. Aus dieser Not gedenken sie nun aber eine Tugend zu machen und formulieren daher Leitbilder und Verhaltenskodizes, entweder in eigener Verantwortung oder in einer teueren Zusammenarbeit mit Unternehmensberatern. Der entscheidende Aspekt freilich ist hierbei das den Leitbildern und Verhaltenskodizes zugrundegelegte Menschen-und Weltbild. Knüpft dieses aber in erkenntnisleitendem Interesse inhaltlich an das gemeinschaftsstiftende Band der kulturgeschichtlichen Gewissheitsüberlieferung an, für die die reflektierte, christliche Welterschließung steht, so kann in diesen Leitbildern und Verhaltenskodizes so etwas wie „Heimat“ für alle Beteiligten ausgemacht werden. Denn im Mittelpunkt all dieser Überlegungen steht dann das Wohl der Menschen als Personen, die ihrerseits dann auch dem Wohlergehen und der Prosperität etwa der Institutionen oder Unternehmen verpflichtet sind. Die auf diese Weise gewonnenen ethischen Standards befördern eine wechselseitige Verantwortung und sind darum gut und nützlich. Folgt hingegen die Formulierung von Leitbildern und Verhaltenskodizes dem Kerngedanken der angewandten Ethik, so droht die Gefahr der Fortschreibung der erlebten Unübersichtlichkeit des Lebens: Denn angewandte Ethiken laufen Gefahr, das Beste mit Blick auf den Nutzen von Eigeninteressen zu formulieren. Mit angewandten Ethiken lassen sich nämlich im Gewande einer plausibel erscheinenden Verantwortlichkeit Akzeptanzkriterien für das benennen, was aufgrund der vorherrschenden Denkordnung der pluralen Gesellschaft ohnehin geschieht. Das aber ist nicht unbedingt gut. So helfen etwa angewandte Ethiken, die Geschwindigkeit von Veränderungen „sozialverträglich“ - was immer dies auch heißen mag - zu machen und erhöhen damit das Risiko der Instrumentalisierung durch vordergründige Nützlichkeitskriterien jedweder Art. Damit aber wird der allgemein menschliche Wille nach einem gemeinsam verantworteten Leben in der Gesellschaft unterlaufen zugunsten einer Fülle von Willenskonzeptionen, die miteinander im Wettbewerb um die gedankliche Vorherrschaft stehen. Zur Zeit scheint dies die Willenskonzeption des ökonomischen Denkens zu sein, die alle Bereiche des öffentlichen und des privaten Lebens kolonialisiert zu haben scheint.

Denken und Führen

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