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1. 3. Der Ruf nach Werten

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Als öffentlicher Reflex auf das oben beschriebene gesamtgesellschaftliche Geschehen sollen nun Werte im öffentlichen Diskurs neu oder wieder zum Tragen kommen. Der Ruf nach einer Wertegemeinschaft wird nahezu von allen Verantwortlichen des öffentlichen Lebens laut. Und dieser Ruf erfreut sich allgemeiner Zustimmung, was auch zu begrüßen ist. Denn die Frage nach den Werten rührt an das grundmenschliche Sein. So einfach aber, wie dieser Ruf erklingt, ist es mit den Werten jedoch nicht. Denn der Begriff „Wert, Werte“, als gemeinschaftsstiftendes Geschehen proklamiert, ist in Fragen des Zusammenlebens der Menschen in Gesellschaft, Gemeinschaft, im öffentlichen Leben und auch in den Unternehmen zunächst nicht aussagefähig. Wer etwa eine Wertegemeinschaft ausruft, wie dies auch bei verschiedenen Unternehmenskonzeptionen mit deren Leitbildern geschieht, der arbeitet immer schon mit einem hierbei mitgeführten und dem allem zugrundeliegenden Welt- und Menschenbild, bis hin zur Bezugnahme auf religiöse Überlieferungen. Und mit dieser Bezugnahme auf die hierbei, wie auch immer, zugrundegelegte Religion wird dann das inhaltliche Finden und Definieren von Werten als gesellschaftliche Größe bestimmt. Denn Werte sind immer Bestandteil von Ethik, und Ethik lässt sich nicht ohne ein religiöses Erschließungsgeschehen von dem Guten und Rechten des Denkens und Handelns gewinnen. Dementsprechend gibt es keine Ethik, damit auch keine Werte, ohne die gedankliche Bezugnahme auf die eigene Herkunft, die sich in der Form der Religion ausdrückt. Zwar wird demgegenüber in der öffentlichen Wertediskussion immer wieder die „Karte des Verfassungspatriotismus“ gespielt, die eine überzeugende Formulierung von Werten ermöglichen soll. In unserem Grundgesetz, so heißt es, seien die grundlegenden Werte für unsere Gesellschaft und für unseren Staat doch klar zum Ausdruck gebracht. Es ist vor allem der wirkmächtige Philosoph Jürgen Habermas gewesen, der aufgrund seiner kommunikativen Ethik bisher ein religionsfreies Finden und Benennen von Werten für möglich und geboten hielt (vgl. etwa: Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 449 - 488, bes. 486). Seinen konkreten Ausdruck fand dieser Ansatz in dem uns bekannten Verfahren des allgemeinen Diskurses, wie er sich etwa in den Ethikkommissionen niedergeschlagen hat. Nun ist aber zu beobachten, dass diese Diskussionen - etwa in Fragen der Gentechnologie - an Vermittlungsgrenzen stoßen, die nicht mehr durch den Verfassungspatriotismus befriedet werden können. Denn als entscheidend erweist sich hierbei doch die unserem Wertfinden zugrunde liegende - wie immer gearteteweltanschauliche oder religiöse Überzeugung. Diese Einsicht hat denn auch Jürgen Habermas dazu bewogen, das wertneutrale Finden von Werten durch eine „postreligiöse“ Karte zu untermauern, um eine menschheitserhaltende Formulierung und Benennung von Werten zu ermöglichen (vgl. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, 2001, 56 - 69). Diese Einsicht weiterführend, kann man zu Recht sagen, dass es kein wertneutrales Finden und Definieren von Ethik und Werten gibt. Werte und Ethik sind also ohne eine Bezugnahme auf die kulturgeschichtlichen Gewissheitsüberlieferungen erst gar nicht zu gewinnen. In einfachen Worten gesagt: Ohne Anschauung eines Erschließungsgeschehens, ohne Glauben also, lässt sich - im Kernkeine Ethik formulieren, lassen sich keine Werte gewinnen. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass allein der sachliche Verweis auf menschliche Kulturtraditionen zur Begründung von Ethik und Werten ebenso nicht ausreicht. Denn man kann dann immer fragen, warum diese Ethik oder jener Wert bei uns gelten soll, weil man es mit Gründen, etwa kultureller Art, auch immer anders machen kann, je nachdem, was man glaubt. Aus dieser Erkenntnis ist aber die Konsequenz zu ziehen, dass einzig die Bezugnahme auf ein gemeinsames, religiöses Bekenntnis - und ein religiöses Bekenntnis ist immer auch ein persönlicher Akt - in der Lage ist, eine verpflichtende, verbindliche und darum verbindende Form von Ethik zu formulieren.

Es ist darum ein allgemeiner Trugschluß, Werte und Ethik als gleichsam weltanschaulich neutralen, öffentlichen Bereich gegen den privaten, nichtöffentlich Bereich der Religion auszuspielen. Aufgrund der nicht hintergehbaren Begründung von Ethik und den daraus abgeleiteten Werten durch die Religion sind religionsfrei formulierte Werte und Ethiken an sich kein Garant für eine einheitliche Vorstellung von Gut und Böse, von Recht und Unrecht. Werte und Ethik befördern nicht von selbst eine gelingende Abstimmung von handlungsleitenden Interessen. Dies zu meinen, ist der Grundfehler aller geschichtsvergessenen, konturenlosen Pluralismusdebatten und Pluralismustheorien. Insofern bezeichnet der Wertebegriff sowohl das mögliche Gemeinsame einer Gesellschaft und eines Gemeinwesens als eben auch das faktisch Trennende zwischen verschiedenen Gesellschaften und Gemeinwesen, wie dies in der Multikulturalität gegeben ist. Und nur, wer sich dieses gedanklichen Zusammenhangs bewusst ist, vermag auch den lebensbefördernden Pluralismus unserer Gesellschaft zu bewahren. Darum muss sich jeder Verantwortliche in Politik und Gesellschaft, in Institutionen und Ökonomie über diese Ambivalenz des Wertebegriff im Klaren sein, sobald er über den Wertebegriff das Gemeinschaftsstiftende für eine Personengemeinschaft benennen will. Und da jedes Unternehmen, jede Institution oder jede Organisation immer innerhalb einer (oder mehrerer) Gesellschaften verortet ist, ist eine handlungsleitende Ethik, die nicht in Beziehung zu den kulturgeschichtlichen Gewissheitsüberlieferungen der jeweiligen Gesellschaften steht und diese je achtet, lebensweltlich undenkbar. Diese Achtung etwa vor anderen Kulturen und deren Überlieferungen entbindet jedoch zum Beispiel kein Unternehmen von der Entscheidung zu klären, nach welchen ethischen Kriterien sie ihre Unternehmenspolitik vor Ort oder auch im globalen Rahmen zu gestalten gedenkt. Von dieser Erkenntnis ist dementsprechend jede unternehmensbezogene Formulierung von ethischen Handlungsmaximen betroffen. Und Fortbildungsseminare für Manager und Führungspersonen, die, unter Verweis auf die Neutralität der Wertfindung für wirtschaftliche Entscheidungen, das kulturgeschichtlich geprägte Denken und Handeln eben dieser Führungspersonen hierbei übergehen, bewegen sich in einer Scheinwelt. Das oben Gesagte gilt dementsprechend auch für allen anderen Verantwortungsträger in Politik, Gesellschaft und Institutionen.

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