Читать книгу Denken und Führen - Friedemann Richert - Страница 21

3. Die Einsamkeit der Verantwortlichen

Оглавление

Menschliches Zusammenleben bedarf der Ordnungen und Zuständigkeiten. Diese schlagen sich in geschichtlich gewachsenen Erkenntnissen und Absprachen nieder, die ihrerseits je bestätigt, neu gewonnen oder auch reformiert werden. Damit das Zusammenleben hierbei nicht einem willkürlichen Geschehen unterworfen wird, bedarf es Personen, die in Verantwortlichkeit eine Führungsrolle übernehmen. Alle unsere Lebenskontexte gestalten sich nach diesem Prinzip. In der Familie führen die Eltern ihre Kinder, in den Schulen die Lehrer die Schüler, in den Institutionen und Behörden die Vorgesetzten die Angestellten, in der Politik die Parteivorsitzenden die Parteimitglieder, in der Regierung der Ministerpräsident bzw. die Bundeskanzlerin das Land, im Betrieb und in den Unternehmen der Vorstand die Angestellten und Arbeiter: All diese Kontexte leben u. a. davon, dass hier Personen eine Führungsrolle ausüben. Führung ist darum ein notwendiges Geschehen, das jeder Mensch in seinem Alltag erkennt und im Idealfall auch anerkennen kann. Da Führung aber der Anerkennung bedarf, muss sie gut und menschengewinnend sein. Das aber ist nicht immer leicht, wie jede Führungsperson bestätigen wird.

Denn wer eine Führungsposition innehat, muss oft Entscheidungen fällen oder auch geschäftsbedingte Anweisungen erteilen, die sich auf das Leben anderer direkt oder indirekt auswirken. Darum ist jede Führungskraft in einer besonderen Verantwortung für ihr Handeln stehend, und zwar vor allem im Blick auf die Menschen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind. Wie nun aber diese Verantwortung vollzogen und gelebt wird, hängt, neben all den kulturellen Gegebenheiten, politischen Grundlegungen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, im Wesentlichen von der Bildung der Persönlichkeit der jeweiligen Führungskraft ab. In dieser spiegelt sich nämlich ihre Lebenseinstellung wider, die vielfach mit dem Wort Wertvorstellung umschrieben wird. In seinen Entscheidungen fühlt man sich denn heute allgemein seinen Wertvorstellungen verpflichtet. Neben all dem oben schon genannten Problem mit dem Begriff Wert sei hier noch auf eine weitere Schwierigkeit eingegangen: Wertvorstellungen machen einsam.

Dies hängt damit zusammen, dass der Wertbegriff in seiner heutigen allgemeinen Anwendung ein ideengeschichtlich junger Begriff ist. Es ist wohl Rudolf Herrmann Lotze gewesen, der im 19. Jahrhundert den Wertbegriff in unseren Sprach- und Denkgebrauch eingeführt hat. Entscheidend hierbei war die gedankliche Verknüpfung des Wertes mit seiner Gültigkeit. Ein Weiteres bewirkte Friedrich Nietzsches Postulats der Umwertung aller Werte, das etwa in seinem Werk „Zur Genealogie der Moral“ (vgl. ebd., dritte Abhandlung, Kap. 27) oder aber in seinem „Zarathustra“ zum Ausdruck kommt. Denn seither führt der Wertbegriff den Gedanken mit sich, dass das verbindliche Maß des Denkens und Handelns in der Gültigkeit von Werten seine Bestimmung findet. Das aber hat weitreichende Konsequenzen. Denn damit wurden die bis dahin als zeitlos geltenden Erkenntniswahrheiten, nämlich Gott und das Göttliche, das Wahre und das Gute, das Heilige und die Gerechtigkeit als Werte definiert, die mit einer Geltung versehen wurden. Somit trat an die Stelle des glaubensbedingten Erschließungsgeschehens von Gott und der Wahrheit die Geltung von Gott und der Wahrheit als Werte. Diese Geltung findet aber, gemäß unserer autonompositivistischen Denktradition nach variablen Absprachen und Übereinkünften statt. Die Folge hiervon ist, dass der Einzelne in seinen Wertentscheidungen letztlich auf sich allein gestellt bleibt und dementsprechend den Sinn seines Handelns und Lebens selbst erarbeiten muss. Letztlich ist also der Einzelne gefordert, für sich die Geltung seiner Werte zu ermitteln. Diese gedankliche Konzeption führt aber letztendlich in die Einsamkeit der Entscheidung, und dies wiederum genau nach der Maßgabe der wandelbaren Geltung von Werten. Die Folge davon ist nun eine nahezu beliebige Bestimmung der Geltung von Werten, der wiederum eine ebenso unklare Begründung von Ethik in diesem Zusammenhang entspricht. Von diesem Beliebigkeitsdilemma ist in unserer modernen Welt nahezu jeder denkende Mensch herausgefordert, werden doch in unserer medial geprägten Welt eine Vielzahl von Werten auf dem Markt der Möglichkeiten angeboten, und es ist dem Einzelnen selbst überlassen, für welche Werte er sich in seinem „Herzen“ entscheidet. Bei aller zu begrüßenden Entscheidungsfreiheit macht diese doch auch einsam und in Fragen der Ethik unsicher. Für unser gesamtes Alltagsleben sowie für das ökonomische Leben bleibt dieses Beliebigkeitsdilemma nicht ohne Folgen.

Darum ist der moderne Mensch in seinen Entscheidungen einsam geworden. Und von dieser Einsamkeit werden dementsprechend der Manager und die Führungskraft, der Vorstand und die Geschäftsleitung in ihren Beschlüssen eingeholt. Ja sogar Lehrer und Eltern stehen oftmals in der ethischen Begründung ihrer Entscheidungen einsam da. Und diese Einsamkeit ist eine schwere Bürde des Lebens, die ins Leiden am Denken führt und die Frage nach dem Sinn des Lebens aufwirft. Denn es ist fraglich, ob meine persönlich gewonnenen Werte mit denen der anderen in Übereinstimmung zu bringen sind. So dient häufig der Rückzug ins Private als Refugium der Bewahrung eines guten Lebens für die Führungskraft. Und auch hier, im Privaten kann sich der Wettstreit um die Geltung der Werte fortsetzen.

Und dies allein deswegen, weil die jeweiligen Werte und die Fragen der Ethik nicht mehr an allgemein kommunizierbare, auch religiös gewonnene Überzeugungen und Einsichten rückgebunden sind, die als vernunftleitendes Organ des Gemeinsamen auftreten könnten. Denn es gehört zum Wesen des Gemeinsamen, dass es sich an der Wahrheitsfrage, an der Frage nach dem Sinn des Lebens orientiert. Wird aber der Wahrheitsfrage nicht mehr gemeinsam nachgegangen, sondern beantwortet jeder für sich diese Grundfrage menschlichen Lebens, verliert man von selbst die Wahrheit als das gemeinsam Gedachte und Erkannte aus den Augen. Denn Wahrheit zu verstehen beginnt immer im gemeinsamen Denken und Erkennen. Darum ist das Verstehen und Zur-Sprache-Bringen von Wahrheit elementar an das nachdenkende Gespräch und den Gedankenaustausch gebunden, an dem prinzipiell jeder Mensch teilnehmen kann. Damit aber ist eine grundchristliche Einsicht in Fragen der Wahrheit benannt: Wahrheit macht nicht einsam, sondern stiftet gemeinsam erfahrbare Freiheit. Dies ist der tiefere Sinn des Wortes Jesu: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen (Johannes 8, 31f.). Wahrheit begründet deshalb gegenseitiges Vertrauen, und zwar unabhängig von meiner jeweiligen Befindlichkeit, von meiner Stellung und öffentlichen Position, etwa in einem Unternehmen oder in einer Institution.

Für diesen Gedanken des in Wahrheit gegründeten Vertrauens aber steht die christliche Gewissheitsüberlieferung. Sie besagt: Niemand, der sein Leben in der Wahrheit gründen will, ist ausgeschlossen. Niemand, der glauben will, wird dieser geistigen Gemeinschaft verwiesen. Das ist das Wesen der Kirche. Bedarf daher unsere Zeit nicht notwendigerweise der Kirche, die im kritischen Gegenüber zur Gesellschaft und den Unternehmen, zur Politik und den Institutionen das gemeinsame Denken und Erkennen von Wahrheit zur Sprache bringt? Denn Wahrheit bringt keine auserlesene Schar von „Heiligen“ hervor, sondern führt die Menschen schlicht als Menschen zusammen, die sich auf diese Weise mit ihren unterschiedlichen Begabungen und Leistungsfähigkeiten gegenseitig als Personen zu achten lernen. Das war nicht immer so. In der großen Denktradition der Philosophie des Abendlandes herrschte über viele Jahrhunderte die Meinung vor, dass nur eine auserlesene Schar der Erkenntnis von Wahrheit fähig ist: Zweierlei Leben gebe es auf Erden, eines für die wenigen Weisen, die der Wahrheit verpflichtet, und eines für die vielen Menschen, die dem alltäglichen, banalen Treiben verhaftet sind. Der Name des wirkmächtigen Philosophen Platon etwa steht hierfür, wie dies anhand seines Höhlengleichnises deutlich wird.

Erst Martin Luther hat durch seine Bibelübersetzung im Gefolge der christlichen Überlieferung den Gedanken der gemeinschaftsstiftenden Wahrheit für alle wieder belebt und darum jeden Menschen zu dieser vertrauensschaffenden Glaubenshaltung aus Wahrheit berufen gesehen. Und Immanuel Kant hat später dann diese Linie fortgesetzt, indem er jeden denkenden Menschen als zu Wahrheitserkenntnis fähig erachtet hat (vgl. Kant, Logik, Einleitung, IV). Luther und Kant stehen also für die Erkenntnis der gemeinschaftsstiftenden Wahrheit der geistigen Kulturgemeinschaft. Und erst auf dieser Basis unternahm es dann Kant, die Autonomie des Einzelnen gedanklich zu erschließen. Die Auflösung dieser geistigen Kulturgemeinschaft durch das nachfolgende emanzipatorische Denken verabschiedete diese Wahrheitsorientierung und ersetzte diese durch die Wert-Gültigkeits-Gleichung. Herausgekommen ist dabei ein atomisiertes, einsames Individuum.

Denken und Führen

Подняться наверх