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Privatdetektivin Katinka Palfy hatte kein Problem mit mysteriösen Persönlichkeiten. Im Prinzip fand sie undurchschaubare Menschen sogar interessanter als jene, in denen sie lesen konnte wie in einem offenen Buch. Dass allerdings ihre neue Klientin Anja Riedeisen, 51, sich davor fürchtete, bei einer Geburtstagsfeier ihre einstige Jugendliebe wiederzutreffen, und deshalb eine Personenschützerin dabeihaben wollte, hielt sie für unverhältnismäßig. Natürlich ging es bei diesem neuen Auftrag um etwas anderes als 30 Jahre alte romantische Gefühle. Wenngleich Anja Riedeisen dazu noch nicht viel gesagt hatte.

Katinka steuerte ihren italienischen Kleinwagen, gutmütig »der Italiener« genannt, die Höhenzüge der Rhön hinauf. Von Bamberg, wo sie lebte und üblicherweise auch arbeitete, keine weite Reise.

»Damals ging hier eine der am schärfsten bewachten Grenzen der Welt durch«, ließ sich Anja vernehmen.

»Damals.«

»Sie müssen verstehen. Diese Fahrt ist der reinste Flashback für mich! Seinerzeit«, sie lachte verlegen, »lag dort rechts Thüringen und dort links Bayern. Unser Internat befand sich ganze fünf Kilometer von der sogenannten Ostzone entfernt. Zu Beginn des Schuljahres bekamen wir Ermahnungen, uns nicht zu nah an die Grenze zu bewegen.«

»Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, Ihr freiwilliges soziales Jahr an so einem abgelegenen Ort zu machen?«, fragte Katinka aus echter Neugier. Das Kürzel FSJ war ihr nicht gänzlich unvertraut. Doch so etwas wie eine Grenze gab es nicht mehr. 30 Jahre waren eine lange Zeit, fand Katinka. Die Welt hatte sich in der Zwischenzeit Pi mal Daumen 262.800 Mal um die eigene Achse gedreht.

Der Landschaft der Rhön hatte die Zeit bislang nichts anhaben können. Stoisch, schroff, abwartend wirkten die geduckten Sträucher am Feldrand. Ab und zu drückte eine Windbö den Wagen zur Seite.

»Ich bin in Fulda aufgewachsen. Katholisch konservativ. Wollte Lehrerin werden, auf keinen Fall Wirtschaft studieren, sonst hätte mein Vater mich vollkommen vereinnahmt.«

»Warum?«

»Er besitzt eine Papierfabrik. Alles stellt er her, von Geschenkpapier über Fotopapier bis Grußkarten. Wäre ich ein Sohn gewesen, hätte er mich vermutlich gezwungen, in die Firma einzusteigen. Als ich mit meinem Studienwunsch rausrückte, kriegte er zu viel. Ich ließ mich von seinen Wutanfällen und Bestechungsversuchen nicht davon abhalten, hatte Informationen von verschiedenen Universitäten angefordert. Am liebsten wollte ich nach Passau, weit weg von den Eltern. Als er mitbekam, wie ernst es mir war, gab er sich kompromissbereit. Ich sollte ruhig erst mal ein Praktikum machen, ich würde schon sehen, dass Lehramt nichts für mich ist.«

»Da hat er sich wohl getäuscht!«

»Richtig. Ich bin doch Lehrerin geworden. Das freiwillige Jahr im Internat hat mir sehr gut gefallen. Danach bekam ich einen Studienplatz und später eine Anstellung im Gymnasium in Bamberg. Meine Wunschstadt übrigens! Was will man mehr.«

Katinka setzte den Blinker, folgte den Wegweisern. Rund um die schmalen Straßen ragten die dunklen Gipfel der Rhön auf. In der Ferne konnte man die Wasserkuppe ahnen mit der markanten Radarkuppel. Ein paar Wolken zogen sich dort zusammen. Ansonsten war der Himmel blitzblau. Mai eben.

»Aber warum hier oben?«

»Wegen der ganzen Zankerei mit den Eltern hatte ich mich recht spät beworben. Eigentlich wäre ich lieber weiter weggegangen, so wurde es die Rhön. Sehr viel mehr Stellen waren nicht mehr frei.«

»Ein Pflaster für Eisenbereifte.«

»So schlimm ist es nicht«, lachte Anja Riedeisen. »Alles war ja neu für mich. Ich hatte eine Menge Ablenkung und kam kaum zum Grübeln. Die Tage vergingen wie im Flug. Das Albertus-Magnus-Internat hatte zwei Jahre zuvor einen zusätzlichen Zweig eingerichtet. Extraförderung für Schulabbrecher, die es noch einmal probieren wollten.«

»Und da haben Sie sich verliebt?«

»In Martin Süderbeck. Kindisch, dennoch eine prägende Beziehung. Er hatte zwei Schlamperjahre hinter sich und wurde erst im Alter von 18 einsichtig. Plötzlich wollte er doch das Abitur machen. Er war schon älter als ich. Meine Schulkarriere hingegen war eine Brave-Mädchen-Chronik: schnurstracks zum Ziel.«

Katinka grinste. »Was nichts heißt.« Sie ließ den Blick schweifen. Außer dem einen oder anderen Motorrad, dessen Fahrer das Frühlingswetter genoss, waren sie allein auf der Straße. »Wie verhielt sich eigentlich Ihre Mutter zu Ihrer Idee, ein Jahr in der Rhön pädagogisch tätig zu sein?«

»Sie stand immer auf der Seite meines Vaters.« Anja seufzte. »Heißt so viel wie: Sie war dagegen. Was soll ich sagen: Ich habe mich durchgesetzt. Die Zeit hier oben tat mir gut. Endlich weg von der Enge der Familie konnte ich herausfinden, was sonst außer Gehorsam und stillem Groll in mir steckte. Ich war glücklich hier auf den windumwehten Höhenzügen, mit dem Ballast der deutschen Nachkriegsgeschichte im Rücken. Irgendwie nahm man das alles sowieso einfach hin. Die Grenze wurde schnell zur Normalität. Wir arrangierten uns damit, dass Thüringen, in das wir von der nächstgelegenen Anhöhe rüberschauen konnten, unerreichbar blieb. Wir riefen Freunde in den USA an, aber niemanden ein paar Kilometer weiter. Wir kannten da keinen. Seltsam. Einem Jugendlichen von heute kann man das nicht mehr nahebringen.«

»Es gab keine Handys. Telefonieren war teuer.«

»Und das Telefon stand an der zugigsten Stelle im Haus! Damit man sich kurzfasste.«

Ein Trupp Radfahrer in aerodynamischem Outfit rauschte ihnen entgegen, sich gegen den Wind stemmend.

»Kirsten und ich sind auch immer mit dem Rad unterwegs gewesen.« Anja deutete auf die Sportler. »Bei Wind und Wetter. Sogar im Winter.«

»Kirsten?«

Es blieb eine Weile still. »Meine Freundin. Die zweite FSJ-lerin im Internat. Wir verstanden uns super. Von Anfang an.«

Irgendetwas schwang da noch mit, fand Katinka. Trotzdem unterließ sie es nachzuhaken. Ihr Auftrag bestand darin, bei der bevorstehenden Geburtstagsfeier einer der Ordensschwestern, die vor 30 Jahren das Haus geführt hatten, Anja als vermeintliche »Freundin« zu begleiten. Anja war geschieden, ein anderer Mann als Begleitperson nicht in Sicht. Alleine zu fahren, kam ihr ebenso wenig angemessen vor. Es ging um Samstag und Sonntag in der Rhön. Das war alles. Für Katinka eine willkommene Abwechslung zu diversen anderen Aufträgen.

»Erzählen Sie mir mehr über die Nonnen«, bat Katinka. Besser, sie besann sich auf das Naheliegende. Zumal sich in ihrer Beziehung zu Hardo in der letzten Zeit ein Misston eingeschlichen hatte. Was Katinka auf eine vermurkste Ermittlung zurückführte, die bei der Bamberger Polizei für handfesten Ärger gesorgt hatte. Jemand hatte seine Kompetenzen überschritten, und ihr Lebensgefährte Harduin Uttenreuther musste den Schlamassel ausbaden. Ihr ging allmählich die Geduld aus, um seine Launen und sein rüffeliges Gehabe zu ertragen.

»Schwester Romana war stellvertretende Leiterin. Eine temperamentvolle Person voller Tatendrang. Mit ihr führte ich mein Bewerbungsgespräch. Himmel, war ich nervös! Trotz katholischer Sozialisation hatte ich zum ersten Mal mit Nonnen zu tun. Dann war da Schwester Gertrudis, die Direktorin, verantwortlich für das pädagogische Konzept. Äußerlich war sie das ganze Gegenteil von Romana. Außerdem gehörten eine Küchenschwester und eine Erzieherin dazu. Außer Kirsten, mir und den Hauptamtlichen gab es noch einen Zivi. Tobias. Ob er auch kommt?«, murmelte sie, mehr zu sich selbst.

Katinka nahm Tempo weg. Rechts am Weg stemmte sich eine Kapelle aus Sandstein gegen den Himmel, wuchtig, wehrhaft. Dahinter blühte ein Holunderstrauch, silbern glänzend vor dem stahlblauen Himmel. Die harsche Landschaft machte es einem bei diesem traumhaften Frühlingswetter leicht, in Bewunderung auszubrechen.

Den Wagen, der über die Hügelkuppe auf sie zuschoss, sah sie beinahe zu spät. Sie wandte ihren Blick erst wieder der Straße zu, als sie Anjas lautes Schreien hörte. Riss das Steuer herum. Gab Lichthupe.

»Verdammt, ist der meschugge?« Sie lenkte den Italiener ganz nach rechts, spürte groben Untergrund unter den Reifen. Das Steuerrad umklammernd hielt sie die Spur.

Der Sportwagen, ein superflaches, schwarzes Modell, röhrte vorbei. Sie erhaschte gerade noch einen Blick auf das höhnische Grinsen des Fahrers.

»Honk!« Katinka schaltete die Warnblinkanlage an und hielt. »Frau Riedeisen?« Vorsichtig berührte sie ihre Klientin an der Schulter. Die zuckte zurück, hob sogar den Arm, als müsste sie sich verteidigen. »Es ist nichts passiert! Wir sind nicht im Graben gelandet.«

Anja presste die Hände vors Gesicht. Ihr Schreien war in ein dünnes Wimmern übergegangen.

Katinka wartete. Diese Frau brauchte ein wenig Zeit. Und sie hatte vor etwas Angst. Jedoch nicht unbedingt vor dem Zusammentreffen mit ihrer ersten Liebe vor 30 Jahren.

*

Rhöner Nebel

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