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Die Provinzoberin ließ Schwester Gertrudis warten.

Gertrudis ging im Flur auf und ab, weniger aus Nervosität als wegen der Kälte, die ihr die Beine hochkroch. Unter dem Rock trug sie dicke Strumpfhosen; ihre Stiefel waren mit Fell gefüttert und die Strickjacke, ein Weihnachtsgeschenk von Romana, wärmte zusätzlich. Trotzdem fröstelte sie. Das Mutterhaus in Würzburg war ein alter Kasten, renovierungsbedürftig. Schaudernd dachte sie an die Zeit, die sie hier verbracht hatte, bevor sie vor fünf Jahren ins Internat in die Rhön versetzt worden war.

Vor dem Neuanfang dort oben hatte sie sich gefürchtet. Doch die Rhön mochte rau sein und eisig, stets vom Wind umtost und auf den ersten Blick wenig anheimelnd, Gertrudis hatte sich schnell eingewöhnt. Zudem waren die Fenster gerade erst ausgetauscht worden, sie selbst als Direktorin des Internats und Hausoberin hatte das veranlasst, und sogar in einem harten Winter wie diesem hatten sie und ihre Mitschwestern es warm und gemütlich. Es zog nicht, und aus dem Wasserhahn kam heißes Wasser, das hatte sie für das ganze Internat durchgesetzt. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, doch im Mutterhaus konnte man davon nur träumen. Der Provinzleitung waren die Hände gebunden, selbst wenn eine von außen auferlegte Askese niemandem mehr zeitgemäß vorkam. Nein, Gertrudis kannte das Problem, das hinter der zunehmenden Verwahrlosung steckte: Geldmangel. Eine neue Heizung für das riesige Gebäude? Unerschwinglich. Moderne Fenster? Nicht dran zu denken.

Auch im Internat brauchte sie eine Strategie. Die Bäder für die Schüler waren vorsintflutlich. Bei der Besichtigung zum Ende des Schuljahres, wenn noch unentschlossene Eltern in die Eingeweide ihrer katholischen Erziehungsanstalt blickten, schämte Gertrudis sich jedes Mal für die grau gekachelten Badezimmer.

Die Tür öffnete sich.

»Gertrudis, entschuldige, dass du warten musstest. Ich wurde am Telefon aufgehalten!« Die Provinzoberin zog Gertrudis an sich und deutete einen Wangenkuss an. Sie war eine grobknochige, kräftig gebaute Frau. Eine Bohnenstange wie Gertrudis ertrank fast in dieser Umarmung.

»Nicht der Rede wert.«

»Wir müssen über so vieles sprechen. Tee?«

»Gern.« Gertrudis wurde ins Zimmer geschoben. Ihr stand der Sinn nicht nach Tee, im Mutterhaus wurde entweder Hagebutte oder die Hauskräutermischung gereicht, beides hatte sie so gut wie ein Leben lang schlucken müssen. Sie verbiss sich ein Lächeln, das Wortspiel sagte so viel aus. Aber Gertrudis würde sich hüten, die Provinzoberin durch eine Ablehnung zu reizen. Schließlich ging es um etwas. Irgendwo im Stock über ihnen klingelte ein Telefon.

»Hausmischung?«

»Ja, natürlich!«

Die Provinzoberin lächelte breit. Sie war frisch gewählt und stürzte sich voller Energie in jede noch so kleine Einzelheit ihrer Leitungsfunktion. Selbst wenn es nur darum ging, Tee einzugießen, wirkte sie dabei, als unternähme sie einen ausgeklügelten diplomatischen Schachzug. Nun wurde Gertrudis doch nervös.

Die Oberin ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder. Ein hölzernes Ungetüm, ein Erbstück, wie so viele Möbel hier. Jemand hatte sein Erbe dem Orden gespendet. Wohin mit all den alten Dingen?

»Berichte. Wie geht es euch da oben im Gebirge?«

Gertrudis hatte sich alles zurechtgelegt. Mit Zahlen konnte sie. Das Internat trug sich, noch, wurde großzügig vom bayerischen Staat unterstützt. Schließlich bot es Jugendlichen in einer strukturschwachen Region die Möglichkeit, eine weiterführende Schule zu besuchen, mit zusätzlicher Betreuung sowie Sportangeboten, und darüber hinaus hatten sie ja seit zwei Jahren diesen Sonderzweig. Der kostete extra, wobei die Eltern der dort lernenden Schüler mehr als bereit waren, für die zusätzlichen Dienstleistungen zu zahlen.

»Wie geht es euren Versagern?«, kam die Provinzoberin zum Punkt.

»Den Begriff mag ich nicht so sehr«, konterte Gertrudis.

»Ich verstehe. Es handelt sich um Jugendliche, die einfach Pech hatten.«

»Nicht unbedingt Pech. Manchmal ist es eine Verkettung vieler ungünstiger Umstände, die dazu führen, dass sie ihre Schulkarriere abbrechen, in die Sucht rutschen, von zu Hause weglaufen.« Gertrudis nippte an ihrer Tasse. Der gleiche, grasige Geschmack, den sie seit ihrem Noviziat vor beinahe 40 Jahren kannte. Ihr Magen krampfte sich empört zusammen. Sie ignorierte ihn, genauso wie den leidenden Blick des Gekreuzigten an der Wand hinter dem Schreibtisch.

»Ich bekomme ab und zu Anfragen von Reportern. Alles Mögliche wollen sie über euch wissen. Die entsprechenden Zeitungsausschnitte habe ich dir zugeschickt.« Die Provinzoberin lehnte sich zurück, strahlend vor Stolz.

»Die positive Resonanz freut uns. Das Konzept funktioniert. Die allermeisten Jugendlichen begreifen unser Internat und die Sonderförderung als ihre letzte Chance. Sie arbeiten mit. Das ist die Grundvoraussetzung.«

»Wohl wahr. Und die Bilanz?«

Gertrudis überlegte blitzschnell. Zum Ende des vergangenen Schuljahres war das Geld knapp geworden.

»Romana hat mir erzählt, dass die Spendensituation sich gebessert hat«, fügte die Provinzoberin hinzu.

Gertrudis wurde blass. Ihre Mitschwester Romana fungierte als ihre Stellvertreterin. Die Chemie zwischen ihnen stimmte nicht. Zudem war Romana knapp zehn Jahre jünger, energiegeladen, robust und ehrgeizig. Sie würde liebend gern die Internatsleitung übernehmen. Probleme, die Gertrudis nicht schlafen ließen, stachelten Romana nur an, unkonventionelle Lösungen zu erarbeiten.

»Wir haben einen Vater, dessen Sohn Schulprobleme hatte und der von der Extrabetreuung profitiert. Ein Industrieller. Er spendet großzügig.«

Die Provinzoberin legte die Fingerspitzen aneinander. »Meine Liebe. Spenden sind gut. Leider sind sie nicht vorauszusehen. Ich brauche die Gewissheit, dass wir es mit den regulären Einnahmen schaffen.«

Wenn die Provinzoberin von Romana geimpft worden war, und ihr Hinweis auf die Spenden ließ keine anderen Rückschlüsse zu, war sie vielleicht mit den Zahlen besser vertraut, als sie durchblicken ließ. Gertrudis entschied sich, ehrlich zu sein.

»Selbstverständlich kosten die zusätzlichen Pädagogen Geld. Anders können wir jedoch die spezielle Förderung der Jugendlichen, die Schulprobleme haben, nicht leisten. Des Weiteren behelfen wir uns mit Referendaren, die keine Stelle im regulären Schuldienst bekommen haben. Sie übernehmen Stunden bei uns.«

Wieder das Telefon. Irgendwo über ihr.

»Nachhilfe.«

»Man kann es so nennen. Im Kern geht es um die individuellen Lerndefizite der Schüler. Die müssen aufgefangen werden. Außerdem helfen uns die Mädchen, die bei uns ihr freiwilliges soziales Jahr ableisten.« Gertrudis räusperte sich. »Womöglich können wir in dem Rahmen eine weitere Stelle einrichten. Dieser Förderzweig ist unsere einzige Chance, wenn wir auf lange Sicht bestehen wollen.«

Es war heraus. Gertrudis würde die Worte nie zurücknehmen können.

Ein Windstoß fuhr gegen das Fenster. Grau hockte der Himmel auf den Dächern Würzburgs. In der Rhön würde es weiterschneien. Zeit, an den Aufbruch zu denken, wenn sie nicht im Dunkeln zu Hause ankommen wollte.

»Könnt ihr die Kosten drücken?«

»Da wäre auch noch unser Zivi …«

»Versteh mich nicht falsch. Ich möchte bei diesem Förderprojekt bleiben. Ich halte es für zukunftsfähig, wirklich! Wann immer ich kann, weise ich auf das Albertus-Magnus-Internat hin. Demnächst geht ein Informationsbrief an die Schulbehörden in Bayern und Hessen raus. Werbung ist alles. Nicht kleckern, klotzen. Eventuell können wir bei den Ministerien auf höhere Zuschüsse pochen.« Sie lachte laut und herzlich, während in ihrem Rücken das Fenster im Wind klapperte. »Du machst gute Arbeit, Gertrudis. Denk bitte daran: Spenden helfen, wenn es mal knapp wird. Doch hauptsächlich müssen die Einnahmen von den Beiträgen der Eltern und den staatlichen Mitteln kommen. Ich möchte nicht von einer Person abhängig werden. Das verstehst du sicher?«

Gertrudis nickte und murmelte ein paar Floskeln. Dieses Gespräch lief trotz allem nicht auf ein Desaster zu, wie sie zuvor gefürchtet hatte.

»Damit du dich vollständig auf das Internat konzentrieren kannst, möchte ich dir eine Belastung abnehmen. Ab Februar übernimmt Schwester Romana das Administrative. Du legst all dein Gewicht in die pädagogische Arbeit.«

Darauf lief es hinaus! Ein Schauder rann Gertrudis über den Rücken. Unwillkürlich kreuzte sie die Arme vor der Brust, als müsse sie sich vor einem Faustschlag schützen. Um Pädagogik ging es in ihrem Amt gerade nicht! Eher um Betriebswirtschaft.

»Ich …«

»Keine Widerrede. In unserem Alter müssen wir mit unseren Kräften haushalten. Leider sieht die Nachwuchssituation unseres Ordens, du entschuldigst die Wortwahl, hundsmiserabel aus. Wenn der Herr keine Wunder geschehen lässt, bleiben irgendwann nur wir Alten übrig. Noch Tee?«

Sie sondert mich aus, dachte Gertrudis, während sie mechanisch ihre Tasse hochhielt und sich die grasige Brühe einschenken ließ. Langsam, aber sicher. Und Romana rückt immer näher. Bis sie mich ausgestochen hat. Bloß wegen ihres Förderers mit den Goldhosen. Unversehens brach ihr der Schweiß aus.

Sie musste aufpassen.

*

Rhöner Nebel

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