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Spandauer Tagebuch

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Franz Jungs Exerzitien

Wenn je ein Tagebuch nicht als Literatur geschrieben wurde, dann das des Deserteurs Franz Jung. Hier wird nicht Offenheit inszeniert oder mit einer Form gespielt, nicht die Justiz angeklagt oder auf Kunst hin kalkuliert.

Dies ist ein Exerzitienbüchlein. Seine Mitte ist ein Satz von Pfingstsonnabend 1915, mit dem Jung weiß, daß „die Haft auch draußen dann noch bevorsteht“: „Und das befreit mich sogar von einer Sorge – ich kann getrost dem Leben draußen noch entgegengehen.“

Jungs Gefängnisse waren immer Verdichtungen dieser Haft: Spandau 1915, Breda 1920, Cuxhaven, Hamburg, Fuhlsbüttel 1921/22, Berlin 1936/37, Budapest 1944, Bolzano 1945. Er hat sie bewußt mit Übungen gefüllt und bestanden.

Das Training in Spandau, Meditation und Gewissenserforschung, war die erste, tiefste und folgenreichste seiner Übungen. Hier geht ihm die „Idee eines Lebenswerks“ auf: „Die Technik des Glücks. In 4 Stufen zu je 12 Kapiteln. Jede Stufe nimmt die ihr vorhergehende auf. Explosion. Steigerung. Atemholend weitersprechen.“

Von den Spandauer Exerzitien her zieht sich Jungs Versuch, die „Gemütswucht“ nicht zerflattern zu lassen: der Kampf mit der Sprachlosigkeit in der Beziehung zu seiner Frau Margot, Beobachtung der Mitgefangenen in vierzig Miniaturen, Lektüre, Pläne, die tägliche Balance zwischen Disziplinierung und Lockerung (Dänischlernen, Sport, Eß-Vorsätze). Das zusammen meint jene „Technik des Glücks“, die dann nicht nur die „Sechste Folge der Vorarbeit“ von 1917 und das gleichnamige Büchlein von 1921 bildet, sondern sein „Lebenswerk“ bis zur Autobiographie „Der Weg nach unten“, deren ersten Teil er unter den in Spandau gefundenen, eigenwillig übersetzten (oder einer eigenwilligen Übersetzung entnommenen) Satz des Thomas von Kempen stellt: „Cur quaeris quietem, cum natus sis ad laborem?“ – „Was suchst du Ruhe, wenn du zur Unruhe geboren bist?“ (Nachfolge Christi II,10).

Wie Jung für dieses Werk die Evangelien, Thomas, Nietzsche, Stirner, Spinoza, die Trivialromane und die Psychoanalyse in einer so systematischen wie lockeren Parallellektüre aufschließend sich gewinnt, für seinen Tag, seine Stunde, seine Not und seinen Jubel neu durchmacht, das ist die Übung dieses Büchleins, die das Ziel einleuchtend werden läßt: „Atemholend weitersprechen.“

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